Ethik in der Anthropologie oder Anthropologie der Moral?!
Eberhard Werner
Bei einem Treffen von Anthropologen wurde das Thema „Moral und Ethik in der Anthropologie“ im Gegensatz zu „Anthropologie der Ethik und Moral“ (Caduff 2011: 456) in den Mittelpunkt gerückt. Letzteres befasst sich mit dem Studium von Moral und Ethik in Gesellschaften. Die „Moralanthropologie“ (Fassin 2008: 333) befasst sich mit den Grundlagen des Bösen und des Guten. Die enge Verbindung zu religiösen Konzepten ist offensichtlich und für die Bibelübersetzung von Interesse. Die Moralanthropologie befasst sich damit, wie Gesellschaften „ideologisch und emotional ihre kulturelle Unterscheidung zwischen Gut und Böse gefunden haben und wie soziale Akteure diese Trennung in ihrem täglichen Leben konkret ausarbeiten“ (ebenda; Fassin & Stoczkowski 2008: 331). Der ideologische Standpunkt eines Forschers ist in Bezug auf diese Themen von zentraler Bedeutung. Unser Ziel war es nicht, eine Lösung zu finden, sondern unser Verständnis für diese wichtigen anthropologischen Fragen zu verbessern.
Im Allgemeinen befasst sich die Ethik in der Forschung, sowie die „Moral und Ethik in der Anthropologie“ mit Loyalität, Integrität, Fairness, Vertrauen und Respekt gegenüber den beteiligten Parteien. Diese Voraussetzungen konzentrieren sich insbesondere auf die Ethik in Bezug auf die Personen oder Gruppen, mit denen Anthropologen zusammenarbeiten. Sie spiegeln aber auch die Gegenseitigkeit wider. Nur wenn sie die ethischen Grenzen der Beziehung festlegen, können alle Parteien Vertrauen und Respekt erwarten.
Der allgemeine ethische Rahmen der Wissenschaft folgt nicht nur internationalen ethischen Forschungsstandards, sondern auch Disziplin-spezifischen Empfehlungen (z. B. AAA Ethical Statements 2012). Insbesondere in der Ethnographie muss man sich jedoch der beabsichtigten oder unbeabsichtigten Manipulation von Daten bewusst sein, einschließlich Änderung, Auslassung, Zurückhalten, Übersehen, Duplex- oder Salami-Veröffentlichung (Aufteilung einer Veröffentlichung in kleine Stücke) sowie ungerechtfertigter Urheberschaft. Ein solches wissenschaftliches Fehlverhalten wird unter dem Label „Data-Cooking“ geführt. Die Humanwissenschaften sind im Gegensatz zu den Naturwissenschaften einer noch größeren Gefahr ausgesetzt, da Subjektivität aufgrund von Intuitions- und Interpretationsfragen weniger beherrschbar ist. Der Steuerung fehlt ein praktikables Instrument. Als Reaktion auf dieses Bewusstsein verweist die American Anthropology Association (AAA 2012) auf ihre allgemeinen ethischen Grundsätze:
1. Schaden Sie keinem.
2. Seien Sie offen und ehrlich in Bezug auf Ihre Arbeit.
3. Holen Sie Einwilligung und die erforderlichen Genehmigungen ein.
4. Wägen Sie konkurrierende ethische Verpflichtungen von Mitarbeitern und betroffenen Parteien ab.
5. Machen Sie Ihre Ergebnisse zugänglich.
6. Schützen und bewahren Sie Ihre Unterlagen.
7. Pflegen Sie respektvolle und ethisch fundierte berufliche Beziehungen..
In der Übersetzungswissenschaft findet sich ein ähnlicher Ansatz in Chestermans Hieronymischen Eid, der dem Hippokratischen Eid für Ärzte (2001) folgt; auch die Fédération Internationale des Traducteurs wartet mit ähnlichen Standards aus (besuchen Sie www.fit-ift.org).
Die Anthropologie ist überhaupt nicht frei von Fehlverhalten. Im Gegenteil, es hat in der Vergangenheit bedeutende ethische Irrtümer gegeben, die viel Kritik hervorgerufen haben. Mangelnde Sprachkenntnisse, die Verwendung von Informationen Dritter und eine überhebliche Haltung gegenüber den untersuchten Personengruppen führten zu subjektiven und manchmal manipulierten Daten und damit zu irreführenden Schlussfolgerungen. Infolgedessen fühlten sich nicht nur die beschriebenen Personengruppen missverstanden, sondern auch das Publikum irregeführt (z. B. Freeman 1983 und 1998). Als Beispiel sieht sich die christliche Anthropologie mit dem ethischen Vorwurf der Zerstörung einer Kultur oder Gesellschaft sowie dem religiös motivierten Imperialismus ausgesetzt, der zu einer ungesunden voreingenommen Herangehensweise an religiöse Institutionen führt (Holzhausen 1996). (Christliche) Anthropologen haben aus der Vergangenheit gelernt. Neuere ethnografische und anthropologische Forschungen berücksichtigen Ethnozentrismus, Kultur- und Sprachwandel und -anpassung, Subjektivität im Auftrag des Forschers, post-koloniale Betrachtungsweisen und die Realität von Relativismen besser (Bagish 2013).
Die anthropologische Theorie spielt eine große Rolle in Bezug auf ethische Prinzipien in der Anthropologie. Spradley führte einige ethische Standards in die Ethnographie als einer “teilnehmenden Beobachtung” ein (1980: 21) und verweist auch auf die AAA-Prinzipien. Rynkiewich & Spradley (1976) betrachten Ethik aus christlicher Sicht. Wax (1987) und McGee & Warms (2004) behandeln Ethik in ihrer anthropologischen Theorie: Eine einführende Geschichte aus säkularer Sicht. Jede Epoche sowie jede Theorie bringt spezifische ethische Orientierungen hervor. Im Mittelalter dominierte die theozentrische Sichtweise des Klerus die Sozialwissenschaften und ihre Interpretation. Die Ethik wurde durch menschliche Interpretation des Göttlichen verklärt (beachten wir, dass dies eine Beobachtung aus einer aufgeklärten Retrospektive ist). Religionen trieben durch ihre Hermeneutik ethische Vorurteile voran. Die Schwellen anthropologischen Haltungen begannen im 19. Jahrhundert und waren geprägt von Humanismus, Aufklärung und Evolutionstheorie. Die Ethik spiegelte sich in diesen Ideologien wider und wurde von Zeitgeist (Zeitgeist) und philosophischer Interpretation umrahmt. Rückblickend auf die junge Anthropologie und den Strukturalismus wurde Ethik als eine Beziehung zwischen dem Ethnographen und seiner Arbeit verstanden. Der Forscher entschied, was innerhalb des ethischen Rahmens lag. Das Publikum der Ethnographie und der Ethnograph dominierten die Bühne. Das Forschungsobjekt wurde von außen betrachtet. Vergleichsstudien brachten das „Fremde“ und das „Andere“ an den Diskussionstisch. Im funktionalem Strukturalismus wurden nicht nur das Publikum, sondern auch die Untersuchungsgegenstände als Parteien verstanden, die mitreden müssen. Das “Fremde“ und „Andere“ wurde jedoch immer noch aus der Ferne betrachtet. Wie im Strukturalismus nahm der Forscher an den Lebenswelten der untersuchten Menschen teil. Darüber hinaus untersuchten die Forscher im Funktionalismus soziale Funktionen und ihre zusammenhängenden Merkmale. Ihr eigenes soziales Umfeld verlor an Bedeutung. Ethik ist heutzutage ein gegenseitiges Konzept aller beteiligten Parteien. In den ethischen Grundsätzen der AAA müssen der Forscher, die Forschung, das Publikum und die an der Forschung beteiligten Parteien offensichtlich mit der anthropologischen Arbeit einverstanden sein. Eine solche gegenseitige Vereinbarung bedeutet nicht, dass kritische und manchmal unterschiedliche Meinungen verboten sind, sondern erfordert Vertrauen und Loyalität zwischen den Parteien. Um eine faire und loyale Forschung zu erreichen, reflektiert der Forscher das „Fremde“ und das „Andere“ mit emischen (von innen heraus) und etischen (von außen herantretende) Werkzeugen. So dekonstruiert der Forscher als „Ausländer“ seine eigenen Lebenswelten und rekonstruiert den Raum der tiefgreifenden Begegnung. Die frühere Fremdheit löst sich dabei in ein dyadisches Verhältnis der Gegenseitigkeit auf.
Ein Hinweis sollte zur Feldarbeit gemacht werden. Die “beobachtende Teilhabe” (participant observation) bildet seit den 1980er Jahren den Hauptansatz. Es wurde vorausgesetzt, dass das Untersuchungsobjekt, das heißt die „Kultur“, weder als gegebene soziale Struktur angenommen noch mit anderen Kulturen verglichen werden kann. Der kulturelle Relativismus fordert die Teilnahme als Beobachter (Spradley 1980), Zuhörer (Forsey 2010) und Dekonstruktivist (Derrida 1967: 25). Die “beobachtende Teilhabe” veranlasste den Ethnographen, die empfangenen Daten anhand seiner Wahrnehmung der Welt zu kommentieren (Spradley 1980: 10, 14, 21). Engagiertes “teilnehmendes Zuhören” versucht, einen Schritt tiefer zu gehen, indem die Daten aus der Perspektive des „Anderen“ dargestellt werden (Forsey 2010: 586-587). Im Dekonstruktivismus dekonstruiert man die kulturellen Bindungen zwischen dem Objekt und sich selbst, indem man einen Untersuchungsbereich schafft (rekonstruiert), in dem alle Parteien gleich sind (Carrithers 1992: 55, 82). Soziale, kulturelle, sprachliche und ideologische Grenzen verschwinden aufgrund der Beobachtung, dass „Fremdheit“ Teil einer interkulturellen Begegnung ist (z. B. Werner 1996). Dieser idealistische Ansatz spiegelt sich auch in anderen Wissenschaften wider. Zum Beispiel begannen in der Kirchengeschichte die Theologie und Missiologie mit einer Epoche der Akkommodation und gingen in die Kontextualisierung über. In jüngster Zeit bewegen sich transformative Ansätze in die sogenannte Implementierung. Alle diese Ansätze spiegeln die Ethik Zeitgeist-reflektierend wider.
Der große Bereich „Ethik und Moral in der Anthropologie“ und „Moralanthropologie“ kann in einem so kleinen Artikel nicht abschließend bewertet werden. Ich hoffe jedoch, das Bewusstsein für unsere Verantwortung gegenüber der wissenschaftlichen Forschung, dem Publikum und den Menschen, mit denen wir zusammenarbeiten, geschärft zu haben. Wahrhaftigkeit und Loyalität sind die herausragenden Grundsätze in Bezug auf Ethik.
Weitere Diskussionen sind herzlich willkommen. Schreiben Sie an: werner [at] forschungsinstitut.net
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