Disability Studies und Bibelübersetzung

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Abstrakt

Inklusives Übersetzen ist ein wichtiges Werkzeug, um die Vielfalt der Menschheit (Diversität) zum Ausdruck zu bringen. Disability Studies zeigen die Notwendigkeit von sprachlichem und übersetzerischem Inklusivismus auf. Sie wollen das Anderssein von Menschen am Rande der Gesellschaft präzisieren. Diese Marginalisierung führt zu Diskriminierung und Ableismus (UK: disablism). Um die Grenzen des „Normalen“ in Richtung der Menschen am Rande zu verschieben, sind inklusivistische linguistische Ansätze notwendig.

 

Disability Studies (DS) haben ihren Ursprung in den Sozialwissenschaften der 1960er Jahre, zeitgleich mit der schwulen und feministischen Befreiungsbewegung und der lateinamerikanischen Befreiungstheologie. Seitdem gibt es ein zunehmendes Bewusstsein für DS in der Theologie, aber nicht so sehr in der Missiologie (in Deutschland: Interkulturelle Theologie) oder in der Bibelübersetzung. Die Forschung über, von und mit Menschen mit körperlicher oder geistiger Beeinträchtigung ist in diesen Disziplinen noch nicht eingeführt. In den Disability Studies werden die Geschichte, die Bedürfnisse (z.B. Pflege, Assistenz) und die sozialen Rahmenbedingungen von Erwachsenen mit körperlicher oder geistiger Beeinträchtigung untersucht. Dies gilt immer noch weniger in der Missiologie, wo weder christliche Eltern noch andere christliche Betreuer von Kindern oder solche Gruppen, die sich mit christlicher Betreuung beschäftigen, im Fokus standen.

Angesichts der teuren Langzeit-(Bibel-)Übersetzungsausbildung, der Vorbereitung in interkultureller Linguistik, der kostspieligen Mitgliederbetreuung und Verwaltungsstrukturen sowie der hohen Kosten für medizinische oder körperliche Hilfen sowohl im Einsatz als auch zu Hause, besteht in der Missiologie ein offensichtlicher Mangel an Forschung zu DS. Aus einem inklusiven Ansatz heraus eröffnet ein solcher Bedarf den Entsendeorganisationen die Möglichkeit, Informationen über die Bedürfnisse ihrer Mitarbeiter mit körperlicher oder geistiger Beeinträchtigung zu sammeln sowie die Belange von Menschen mit Behinderung innerhalb von Personengruppen im Feld zu evaluieren. Die Zielgruppe macht immerhin mindestens zehn Prozent der Bevölkerung einer Ethnie aus (12,8% in den USA, Zensus 2017; 10% in Deutschland, Zensus 2016).

DS entstanden aus den gesellschaftlichen Vorurteilen gegenüber Menschen mit Behinderungen (d.h. „ableism“; UK: „disablism“). Dies wirkte sich aus in Form von Diskriminierung, Isolation und Ausgrenzung von behinderten Kriegsveteranen und Menschen mit Beeinträchtigungen. Sie waren in speziellen Pflegeeinrichtungen isoliert von einer normalen Umgebung und  nicht in der Lage, an Universitäten zu studieren oder die Bedürfnisse des täglichen Lebens (z.B. Einkaufen, Kochen, Umgang mit Ämtern) zu bewältigen, allein aufgrund der Tatsache, dass der öffentliche Raum für sie unzugänglich war. Hinzu kommt die Weigerung der Behörden, auf die Bedürfnisse der Eltern von Kindern mit Beeinträchtigungen zu hören, insbesondere in Bezug auf die Ausbildung oder die Betreuung zu Hause statt in speziellen Pflegeheimen. Während sich in den USA der Aufschrei gegen die Diskriminierung von Behinderten auf die (Un-)Zugänglichkeit und (fehlende) Bildung bezog, stand in Großbritannien und Deutschland das Streben nach/der Bedarf an unabhängigem, unterstütztem Alltag im Vordergrund. Radikale Insiderbewegungen wie die „Krüppelbewegung“ (in Deutschland) wurden nicht nur auf nationaler, sondern auch auf internationaler Ebene wahrgenommen (Fandrey 1990). Die UNO hat 2006 die „Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen“ verabschiedet. Die USA, Großbritannien und Deutschland ratifizierten die Konvention im Jahr 2009; bis März 2018 gab es weltweit 175 Ratifizierungen (Online siehe https://www.un.org/).

Die Begriffe „Teilhabe“ und „Integration“ wurden zu Schlagwörtern der Anfangszeit, später abgelöst durch den vielschichtigen Begriff „Inklusion“, der ein inklusives Umfeld auf allen Ebenen des Lebens wie Barrierefreiheit, unterstütztes selbständiges Leben, Sprache, soziale Akzeptanz und Wahrnehmung ausdrückt. Historisch gesehen war die Terminologie der gängigen Bibelübersetzungen (z.B. King James Version, Lutherbibel) sehr einflussreich. Später, als durch den Sprachwandel einige Begriffe in der Umgangssprache als Schimpfwörter verwendet wurden, passte sich die Übersetzungstradition nicht an die moderne inklusivistische Sprache an, sondern wurde exklusiv. Beispiele wie „Krüppel“, „Idiot“, „Invalide“, „lahm“, „Unmensch“ usw. sind heute aus dem akzeptablen Sprachgebrauch geächtet. Aus Mitleid oder Sym- statt Empathie wird jedoch in der Bibelübersetzung manchmal noch (un-)bewusst exklusivistische Terminologie verwendet. So verwendet die 2017 revidierte Lutherbibel immer noch einen „Lahmen“ statt „gelähmte Person“ (Mt 4,24) und folgt damit der „lutherischen Tradition“. Ein Grund dafür ist der Mangel an behinderten Bibelübersetzern, Exegeten und theologischen Hermeneutikern, ganz entgegen dem Motto: „Nichts über uns, ohne uns.“ Dies ist eine Parallele zur Entwicklung einer geschlechtsinklusiven oder feministischen Sprache in den 1980er Jahren, die 1999 in der Lutherbibel zur Revision von Weib, das die Bedeutung „Schlampe“ trug, zu Frau, „Frau“, führte.

In der Bibelübersetzung gibt es ähnliche Forderungen nach politischer Korrektheit in Bezug auf die Übersetzung von Beschreibungen von Menschen mit einer Behinderung sowie eine inklusivistische Wahrnehmung durch die Kirche. Wynn Kerry war einer der ersten, der sich mit diesem Thema auseinandergesetzt hat (2001). Er gab vier Empfehlungen für Übersetzer, wobei die hilfreichste darin bestand, von der Verallgemeinerung zur beschreibenden Terminologie überzugehen. So kann „ein Lahmer“ zu „ein Mann/eine Frau mit einer Mobilitätsbehinderung“ werden, und „ein Blinder“ kann als „ein Mensch mit einer Sehbehinderung“ ausgedrückt werden.

Markus 8,25 lautet in den meisten (wörtlicheren) Bibelübersetzungen „sein Augenlicht wurde wiederhergestellt“ (so NRSV; vgl. Dt. wiederhergestellt). Dies lässt die Zuhörerschaft mit der Annahme zurück, dass die „Blindheit“ des geheilten Mannes höchstwahrscheinlich eine Beeinträchtigung war, die durch eine Krankheit im späteren Alter verursacht wurde, da die Sehkraft des Mannes „wiederhergestellt“ wurde („er sah wieder“, unter der Annahme, dass er zu einem bestimmten Zeitpunkt im Leben sah). Im besten Fall wird sich das Publikum fragen, ob der Mann blind geboren wurde oder erst später im Leben blind wurde. Diese Unsicherheit würde vor allem sensiblen Exegeten auffallen, die in ihrer Wiedergabe eine inklusive Sprache verwenden würden. Darüber hinaus muss die Hermeneutik berücksichtigen, dass die biblischen Autoren ihre kulturgebundene Wahrnehmung von Behinderung reflektierten.

Eine wörtliche Übersetzung, die die Sichtweise der NT-Autoren auf Behinderung transportiert, führte über mehr als neunzehn Jahrhunderte zur Ausgrenzung, Isolierung oder, seit dem 18. Jh., zur Abschiebung von Menschen mit Beeinträchtigung in spezielle Heime, aus dem kirchlichen Auftrag der Diakonie. Heute zwingt die Politik die Kirche als öffentlichen Akteur, die Inklusion von Menschen mit Behinderungen auf allen Ebenen der Gesellschaft zu ermöglichen, als Führungskräfte, Seelsorger und Mitarbeiter und natürlich auch als Mitglieder und Interessierte. Auf diese Weise wird hoffentlich die Sympathie aus Mitleid durch Empathie aus Gleichheit ersetzt und damit eine inklusivistische Rolle beim Aufbau von Vielfalt in der Gemeinschaft der Heiligen wahrgenommen (Reynolds 2008). Zusätzliche Lektüre: Kerry 2007a, 2007b.

References

Fandrey, Walter 1990. Krüppel, Idioten, Irre. Zur Sozialgeschichte behinderter Menschen in Deutschland. Stuttgart: Silberburg-Verlag. [Engl.: Cripples, idiots, lunatics. On the Social History of Disabled People in Germany.].

Reynolds, Thomas E. 2008. Vulnerable Communion: A Theology of Disability and Hospitality. Grand Rapids: BrazosPress.

Wynn, Kerry 2001. Disability in Bible Translation. Bible Translator 52/4, 402-414. New York: UBS.

Wynn, Kerry H. 2007a. Johannine Healings and Otherness of Disability. Perspectives in Religious Studies 34, 61-75. (Heilung)

Wynn, Kerry H. 2007b. The Normate Hermeneutic and Interpretations of Disability within the Yahwistic Narratives, in Avalos, Hector, Melcher, Sarah J. & Schipper, Jeremy (eds.): This Abled Body. Rethinking Disabilities in Biblical Studies, 91-101. Atlanta: Society of Biblical Literature.

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