Disability Studies und Interkulturelle Theologie

Eberhard Werner: werner(at)forschungsinstitut(dot)net

Abstrakt

Bis heute ist in der Interkulturellen Theologie wenig unter dem Aspekt der Disability Studies geforscht worden. Insbesondere gilt dies für die Forschung an Akteuren, die selbst eine körperliche oder mentale Einschränkung hatten, oder Forschungen, die sich auf den Personenkreis mit solchen Herausforderungen konzentrieren. Zu ersterem liegen einige Biographien vor, die aber nicht explizit auf die Behinderungserfahrung eingehen. Zum letzterem können die Gründer der kirchlichen Entwicklungsdienste Luise A. Cooper für die Hildesheimer Blindenmission (HBM) und Ernst Jakob und Hedwig Christoffel für die Blindenmission im Orient, heute Christoffel Blindenmission (CBM), gezählt werden. In diesem Artikel wird auf die Geschichte, die Motivation und die Diskurse rund um Disability Studies eingegangen, die sich aus diesen Handlungsfeldern ergeben. Der interdisziplinäre Ansatz der Interkulturellen Theologie bestimmt dabei die anzulegenden Parameter, um die Grenzen zu den sozialen Wissenschaften abzugrenzen.

Disability Studies – eine Übersicht

Disability Studies setzen sich zusammen aus einer Vielzahl von einzelnen Disziplinen. Disability History, beschäftigen sich mit historischen Zusammenhängen rund um Menschen mit körperlicher oder mentaler Einschränkung (z. B. Nielsen 2013). Disability Worlds beschäftigt sich mit Lebenswelten und sozialen Bezügen und Räumen der Begegnung von Menschen mit und ohne körperlicher oder mentaler Einschränkung (z. B. Whyte & Ingstad 1995). Disability Anthropology stellt ethnographisch-biographische Lebenswelten von physisch und mental herausgeforderten Menschen dar (z. B. Gelya Frank 2000). Disability and Gender beschreibt die Machtbewegungen und die Einflüsse auf Menschen mit körperlicher oder mentaler Einschränkung im Hinblick auf die Geschlechterfrage. Die besondere Benachteiligung von behinderten Frauen ist hierbei im Blick (z. B. Jacob, Köbsell & Wollrad 2010; Boll, Ewinkel & et. al. 1985). Disability Theology beschreibt die exegetischen und hermeneutischen Defizite im Hinblick auf Menschen mit körperlicher oder mentaler Einschränkung in der Theologie (z. B. Young 2011). Disability Missiology ist eine gegenwärtig sich entwickelnde Disziplin. Sie hinterfragt im Rahmen historischer Beschreibungen wie Inklusion, Exklusion oder Diskriminierung von Menschen mit körperlicher oder mentaler Einschränkung verstanden wurde. Im Rahmen der postkolonialen Studies werden diese Zusammenhänge in der Interkulturellen Theologie erfasst. Gleichzeitig wird der Ertrag dieser Forschung der Christlichen Entwicklungshilfe in fremden Kontexten von selbst eingeschränkten Menschen oder im Hinblick auf eine solche Zielgruppe zugänglich gemacht.

Da die Lebenswelten von Menschen mit und ohne körperlicher oder mentaler Einschränkung sich aufgrund sozialer, politischer und ökologischer Veränderungen in ständiger Bewegung befinden kann diese Auflistung nicht abschließend sein.

Normalität und Anderssein – Normalismusforschung

Disability Studies (DS) verhandeln ästhetische und soziale Diskurse, die sich zwischen den Kategorien „Normalität“ und „Anomalität, Abweichung“ bewegen (Schildmann 2009:204-205). Die Festlegung dieser sozialen Parameter ist kultur- und umweltabhängig. Während im europäischen Raum eine Sehbehinderung im sozialen Bereich weniger sanktioniert wird wie z. B. eine ästhetische Abweichung ist im asiatischen Raum die Mobilitätseinschränkung sozial stärker sanktioniert als eine ästhetische Abweichung (zur generellen Einteilung siehe Cloerkes 2007:124-125). Damit werden die Bezugsgrößen „Normalität“ und „Abweichung“ festgelegt und sie werden mittels der soziologischen Kategorien Diskriminierung, Exklusion und Ablehnung eingerahmt. Der Machtfluss im Falle sozialer Reaktionen ist immer gegen den vermeintlich Schwächeren gerichtet, kann jedoch unterschiedlich ausfallen, da sich die Definition von „Normalität“ und „Anomalität“ im Fluss befindet. Inklusion, wie sie gegenwärtig diskutiert wird, will die Begrifflichkeiten insofern erweitern, indem sie die Standardvorstellungen „Norm“ und „Normalität“ zugunsten von Menschen mit körperlichen oder mentalen Einschränkungen ausweitet. Mithilfe von Barrierefreiheit bei Gebäuden und dem Internet wird eine Teilhabe und Präsenz von Menschen erreicht, die bisher exkludiert waren und so nicht die Chance hatten ihren Teil am sozialen Leben einer Gesellschaft beizutragen.

Erweiterte „Normalität“

Im Rahmen der öffentlichen Wahrnehmung und dem aktiven Austausch mit den Lebenswelten von Menschen mit körperlichen oder mentalen Einschränkungen wird die „Normalität“ bzw. „Norm“ der Lebenserfahrung erweitert. Gleichzeitig findet eine Begegnungsfläche der Lebenswelten von Menschen mit und ohne körperlichen oder mentalen Einschränkungen statt, die Berührungsängste abbaut und Vorurteile abbaut. Jedoch darf man nicht vergessen zu sagen, dass ideologische Ängste, wie Rassismus, Nationalismus oder Ableismus (Hass auf behinderte Menschen) auch unbewusst geschürt werden. Auslöser solcher Ängste sind vor allem Migranten, die von staatlicher Hilfe lebenden, arbeitslosen Alleinerziehenden oder auch die sexuell gleichgeschlechtlich ausgerichteten Menschen mit körperlichen oder mentalen Einschränkungen. Diese Personenkreise stellen die gesellschaftliche Diversität dar und rühren diejenigen an, die in ihrer ideologischen Ausrichtung eine Gesellschaft anvisieren, die keinen Pluralismus zulässt.

Transkulturelle-transnationale Aspekte Disability Studies

Ein Blick in die transkulturelle Wahrnehmung von Behinderung und Behinderten lässt die Frage nach Universalien aufkommen. Hierbei muss konstatiert werden, dass Behinderung ein universales Phänomen ist und überall und zu aller Zeit sozial sanktioniert oder stigmatisiert wurde und wird.

Universalien der transkulturellen Begegnung „Disability“

Neben den äußeren physischen Sanktionen, wie sie sich in baulichen Hindernissen oder Mangel an Hilfsmitteln ausdrückt, tritt die innere soziale Sanktion, die von Ignoranz, Ableismus bis hin zur Euthanasie reicht. Geschichtlich werden hier Plato (de polis) und Aristoteles mit ihrem Ansatz der Tötung Neugeborener mit körperlichen oder mentalen Schäden heran gezogen. Diesen wurde eine „Seele“, im Sinne der nicht-sterblichen Wesenhaftigkeit des Menschen abgesprochen, sie galten als leblos oder lebensunwert. Im späteren Sozialdarwinismus wird dies wieder aufgegriffen, jedoch utilitaristisch, dem Gedanken der Nützlichkeit, sowohl für das Individuum selbst wie auch für das Kollektiv – die Gesellschaft – eingebracht. Ein Sozialwesen, so die Schlussfolgerung Platos, das nicht durchgängig funktionsfähig sei muss sich seiner „nutzlosen“ Partizipierten entledigen, oder solche präventiv in der Selektion (Abtreibung, Kindestötung) ausschließen. In Brave New World (1932; Aldous Huxley) wird diese Utopie schriftstellerisch festgehalten. Bioethiker Peter Singer bringt es am Ende des 20 Jh. auf den Punkt, wenn er die Abtreibung, frühgeburtliche Diagnostik und die Vorauswahl menschlicher Eigenschaften als eine notwendige, verantwortliche Gestaltung der Gesellschaftsplanung fordert. Damit werden seiner Meinung nach die zukünftigen Generationen vor unnötigen Kosten geschützt und Gesellschaften gebildet, die sich an ihren Bedarfen ausrichten können. Neben diesem utilitaristischen Ansatz hat sich eine inklusive Bewegung gebildet, die sich für die Eingliederung und Teilhabe von Menschen mit körperlichen oder mentalen Einschränkungen bemüht. Es ist tragischer Weise ersichtlich, dass die körperlichen und mentalen Schäden, die sich aufgrund von Kriegstraumata (1. und 2. Weltkrieg) ergaben, die Notwendigkeit der Rehabilitation und damit die der (Re-) Integration mit sich brachten. Gleichzeitig limitierten diese Vorgaben den Umgang mit Menschen mit körperlichen oder mentalen Einschränkungen auf die Wiederherstellung verloren gegangener Fähigkeiten. Das „Normale“ bildete den Maßstab und ließ den Betroffenen nur den Wieder-Zugang in die Lebenswelt der „Normalen“. Die Stigmatisierung als „Andere“ war Grundlage jedweden Denkens und Handelns über Menschen mit körperlichen oder mentalen Einschränkungen. Die Formation eigener Lebenswelten, Lebensformen und Schnittstellen zu anderen Lebenswelten werden bei diesem Ansatz nicht bedacht, gefördert noch gewünscht. Die treibende Kraft bildet das Gesundheitswesen, welches in unmittelbarer Zusammenarbeit mit der Arbeitswelt die Teilhabe am Gemeinwesen auf die Arbeitsfähigkeit und Rehabilitation, Vorbereitung und Hinführung zurück in die selbige reduziert. Übrigbleibende gesellschaftliche Nischen wie Kunst, Geisteswissenschaften oder kreative Lebensformen sind nur wenigen Menschen mit körperlichen oder mentalen Einschränkungen vorbehalten und selten finanziell attraktiv.

Soziale Aspekte – Berufliche Inklusion

Soziale Sanktionen müssen vom Gemeinwesen bewusst und gezielt überwunden werden. Der politische Kampf gegen Ableismus (Behindertenfeindlichkeit) ist ein aufwändiges und andauerndes Drängen nach Inklusion und Verschiebung der Wahrnehmung von „Normalität“ in Richtung Einbezug von Menschen mit körperlichen und mentalen Herausforderungen. Die Grenzen sind da erreicht, wo das Gemeinwesen öffentliche Sicherheit und Dienstleistung garantieren muss. So blieben und bleiben bestimmte sicherheitsrelevante Berufe (z. B Polizeidienstfähigkeit, Feuerwehreinsatzbereitschaft, Notfalldienste) Menschen mit bestimmten körperlichen und mentalen Einschränkungen verschlossen, solange sie ihre Einschränkung nicht ausgleichen können. Erst eine nachträgliche Behinderung erlaubt die Teilnahme z. B. am Innendienst solcher Einrichtungen. Die körperliche Leistungsfähigkeit spielt hier eine wichtige Rolle. Da diese Berufe jedoch eine außergewöhnliche Leistungsfähigkeit voraussetzen, was schon die Qualifikationen bei der Einstellung belegen (z. B. sportliche und geistige Fähigkeiten), stellen sie nicht die soziale „Norm“ der Berufswelt dar.

Interkulturelle Diakonie – Pädagogik als Inklusion

In der Begegnung mit fremden oder anderen Kulturen, ist die Stellung des Akteurs von nicht geringer Bedeutung. Im kolonialen Zeitalter war der westliche christliche Akteur, der Initiator und finanziell steuernde Anlaufpunkt für die Abläufe in der interkulturellen Begegnung. Aufgrund militärisch gestützter finanzieller Überlegenheit konnten die Einheimischen oder lokalen Akteure gesteuert werden. Am Beispiel von Ernst Jakob und Hedwig Christoffel wird dies deutlich, da sie sich in Ost-Anatolien, zuerst 1904-1907 in Sivas und ab 1908 in Malatya, um Menschen mit visuellen Einschränkungen bemühten (Thüne 2007:31, 66). Obwohl sie im Grunde mittellos waren, begannen sie im Gebet und der öffentlichen Präsentation ihre Idee eines Waisenhauses für sehbehinderte Mädchen in Ostanatolien zu proklamieren. Dabei konnten sie auf ihre dreijährige pädagogische Erfahrung an Waisenhausarbeit in diesem Gebiet bauen. Da sich mehrere christliche Entwicklungshilfeorganisationen auf diese Art der Diakonie fokussiert hatten, war die Kombination von Pädagogik und Pflege dem Grunde nach nichts Neues, jedoch kam der Fokus auf Menschen mit visuellen Einschränkungen bei den Christoffels hinzu.

Geschichtlicher Rückblick – Christliche Entwicklungshilfe im Orient

Es ist an dieser Stelle die Arbeit des ABCFM (American Board of Christian Foreign Mission), der BFBS (British and Foreign Bible Society), der Deutschen Orient Mission (Johannes Lepsius, *1858–†1926; DOM ab 1916 LDOM), und dem Deutschen Hülfsbund für christliches Liebeswerk im Orient (Ernst Lohmann, *1860­–†1936) zu nennen wie sie von Baumann vorgestellt werden (2007). Ihnen geht das Syrische Waisenhaus (Fam. Schneller) in Jerusalem mit seinen Ablegern aus den sechziger Jahren des 19. Jh. voraus. Auffallend ist in all diesen Ansätzen die Ausrichtung auf Kinder, die sich in einer Notsituation (Verlust der Eltern oder der Kernfamilie) befanden. Dies ist ein zutiefst politischer Auftrag des Staates (hier das Osmanische Reich). Von westlicher Seite sah man hier nur den Mangel an staatlichem Eingreifen, jedoch ist anzunehmen, dass die christliche Motivation auf eine Hinwendung zum Glaubensmodell der Entwicklungshelfer zielte. An diesem Punkt treten postkolonialistische Gesichtspunkte in den Vordergrund, da die militärischen Interventionen des Deutschen Reiches geeignet waren neben finanziellen auch Personalkräfte im Osmanischen Reich zu platzieren. Eine ähnliche Erfahrung hatte die anglophone, amerikanische und britische kirchliche Entwicklungshilfe seit Beginn des 19. Jh. mit dem Osmanischen Reich gemacht. Die oben genannten Institutionen und Organisationen hatten sich auf das gesamte Osmanische Reich konzentriert und trafen im Verlauf ihrer Aktivitäten auf die großen Volksgruppen des Balkan und Ostanatoliens. Aus dieser Zeit stammen ethnographische Studien der großen „kurdischen“ Volksgruppen. Heute werden diese in Kurmanji (Nord-Kurdisch), Sorani (Zentral- oder Süd-Kurdisch), Behdeni, und die Kermānshāh-Dialekte eingeteilt. Das Gebiet erstreckt sich von der Ost-Türkei, West-Iran bis zum Nord-Irak. Christoffels haben die Volksgruppen Ostanatoliens wahrgenommen, wie z. B. die Armenier, die Aramäer, die Zaza und die Kurmanji Sprecher, konnten sich aber aufgrund ihrer Spezialisierung auf visuell eingeschränkte Waisen nur auf Türkisch und Armenisch konzentrieren. Die entwickelten Gebärdensprachen haben zum Durchbruch bei der Wahrnehmung und der Inklusion dieser Personengruppe erheblich beigetragen. Trotz vieler Rückschläge durch die beiden Weltkriege hat sich z. B. in Iran eine Fürsorge an diesen Menschen entwickelt, die eine Partizipation auf verschiedensten gesellschaftlichen Ebenen zulässt, wie z. B. der Film Die Farben des Paradieses (1999) von Majiid Majiidi zeigt. Auch in der heutigen Türkei hat sich ein Fürsorge-Apparat entwickelt, wie die Sendung Seeing Isn’t Everything: Living Blind in Turkey bei AlJazeera World  [https://www.aljazeera.com/programmes/aljazeeraworld/2015/10/turkey-blind… von Eylem Kaftan zeigt. Es werden vier Lebenswelten von Menschen mit visuellen Einschränkungen aus Istanbul gezeigt. Doch darf das nicht darüber hinweg täuschen, dass die gesellschaftlichen Möglichkeiten noch lange nicht kreativ ausgenutzt sind, um Menschen mit körperlichen oder mentalen Einschränkungen als vollwertiges Gegenüber wahr zu nehmen oder gar Inklusions-orientiert zu denken.

Inklusion – Diversität und Einheit in Vielfalt

An diesem Punkt ist es hilfreich sich ein paar Gedanken zum Inhalt der Inklusion zu machen. Inklusion, nach der heutigen Wahrnehmung ersetzt oder nimmt die Gedanken der Teilhabe und Integration in sich auf. Der Paradigmenwechsel besteht darin, dass die Gesellschaft Menschen nicht sozusagen „zu sich zieht“ oder „aufnimmt“, sondern darin, dass die Gesellschaft alle räumlichen, sozialen oder ideologischen Barrieren ausräumt um allen Mitgliedern alle Optionen zu ermöglichen. Es ist also kein exklusiv-zentralistischer Ansatz sondern ein inklusiv-petaler der sich für die sowieso bestehende Gesellschaftsstruktur öffnet. In missiologischer Hinsicht ist hier ein theologisch-petaler Ansatz zu wählen, der die Diversität und Vielfalt der Kirchenmitglieder als Basis nimmt, um die kreativen physikalischen und ideologischen Möglichkeiten des Reiches Gottes auf dieser Erde umzusetzen. Das Motto dieser Inklusions-Vision ist „Einheit in Vielfalt“. Dabei ist auf globaler Ebene die kreative Seite Gottes hervor zu heben, der Menschen mit körperlichen und mentalen Herausforderungen aller Art ebenso schuf wie Fotomodels oder Sportler. Die sexuelle Ausrichtung, das Geschlecht oder auch die Rasse, die geographische Heimat und die physische Erscheinungsform sind der Vielfalt der Schöpfung geschuldet. In diesem Hinblick sind auch Selbst- oder Fremdverstümmelung, Veränderungen durch äußere Faktoren wie Umweltgifte, Geburtseinschränkungen oder Gen-Defekte zu werten. Insbesondere, da ein direktes Eingreifen durch die Transzendenz in die Schöpfungsabläufe die absolute Ausnahme darstellt. Aber auch da eine Neuausrichtung der Schöpfung in Richtung Aufhebung der thermodynamischen Grundsätze auf biblischer Grundlage nicht vorgesehen ist, sondern hier auf eine neue Schöpfungsordnung verwiesen wird (Mt 24-25 und Offb 21-22). Inklusion in diesem Sinne bringt die Vielfalt – die Diversität – der Schöpfung und damit der potentiellen Kirchenmitglieder zum Tragen. Newbigin brachte das für Menschen mit körperlichen und mentalen Herausforderungen im Hinblick auf die Kirche auf den Punkt in dem er schloss: Ohne die Behinderten ist die Kirche nicht vollständig (1979).

Inklusive Hermeneutik – Schwachheit, Einheit, Stärke

Eine inklusive Hermeneutik der Disability Missiologie sollte nicht dem paternalistischen Denken verfallen. Die bis jetzt gelieferten hermeneutischen Ansätze der Disability Theologie von

  • Newbigin (1979), Kirche lebt mit behinderten Menschen (Partizipationsansatz),
  • Eiesland (1994), die Inkarnation des Jesus von Nazareth beschreibt die Kondeszenz der Schwachheit im Bild des Menschen mit körperlichen oder mentalen Herausforderungen, Gott behindert sich in der Inkarnation und wird dadurch zum behinderten Gott (Partizipationsansatz).
  • Bach (2006), betont die Verantwortung der Kirche sich aller Gesellschaftsschichten anzunehmen und sich nicht paternalistisch auf Menschen mit körperlichen und mentalen Herausforderungen zu stürzen sondern offen für Lebensbegegnungen zu sein, die auch Abweichungen von physischen oder ästhetischen Vorstellungen beinhalten (Solidaransatz).
  • Reynolds (2008), eine Hermeneutik der Schöpfung, die die Ebenbildlichkeit aller Menschen spiegelt und die Diversität sozialer Lebensformen hervorhebt (Solidar- und Partizipationsansatz),
  • Creamer (2009), eine Theologie der Liminalität im Schulterschluss der Solidarität, unter Beibehaltung der Eigenarten von Behinderungen und Menschen mit körperlichen und mentalen Herausforderungen (Solidar- und Partizipationsansatz),
  • Yong (2011), eine Hermeneutik der Geistleitung, welche die Vielfalt und die kreativen Möglichkeiten der Kirche anzeigt,
    mangeln einer transkulturellen Perspektive.
  • In Disability Missiologie hat Conner (2018) zuletzt einen Entwurf vorgelegt, der diese Lücke schließt. Nichtsdestotrotz bleibt in allen Ansätzen der Versuch, die göttliche Omnipotenz auf die Schwachheit am Kreuz oder in der Inkarnation des Messias Jesus von Nazareth zu reduzieren. Schwachheit versteht sich dabei als Stärke und Umkehrung säkularer Werte und Vorstellungen. Der Verdacht bleibt aber, dass „Behinderung“ und Menschen mit körperlichen oder mentalen Einschränkungen auf ihre „Schwäche“ reduziert werden. Es bleibt auch der Verdacht, dass hier vorgefertigte soziale Schablonen im Rahmen der oben erwähnten medizinischen, sozialen und kulturellen Modellvorstellungen, auch von Forschern, die selbst eine Einschränkung haben oder Eltern von Kindern mit einer Einschränkung sind, übernommen werden. Das Dilemma dabei ist, dass diese Ansätze am Nicht-Behinderten ansetzen und ein anthropozentrisches Gottesbild entwerfen.

Inklusive Hermeneutik – Lebensform Gottesbeziehung

Ein Vorschlag zur Überbrückung der Kluft zwischen den Lebenswelten von Menschen mit und ohne körperlichen und mentalen Herausforderungen, bei gleichzeitiger Einbehaltung der spezifischen Eigenarten und den Bedürfnissen in diesen Lebenswelten bedarf der Intervention derjenigen, die den Boden dafür schaffen können, dass eine gegenseitige Begegnung stattfindet. Da sind zum einen die baulichen Fragen und die Gestaltung des Gemeindelebens, so dass daran möglichst viele unterschiedliche Lebensformen teilnehmen können. Hierzu gehören auch sexuelle oder geschlechterspezifische Diversität, da dies ja auch Teil der Lebensformen von Menschen mit körperlichen und mentalen Herausforderungen ist. Im Mittelpunkt einer inklusiven Hermeneutik stehen

  • die kritische Auseinandersetzung mit den biblisch-inhärenten diskriminierenden Vorstellungen über Menschen mit körperlichen und mentalen Herausforderungen,
  • den ästhetischen Idealvorstellungen körperlicher Perfektion (z. B. Glück, Schönheit, Lebenserfüllung) und
    die Heils- und Heilungserwartungen aufgrund messianischer Erwartungen.
  • Die kreatürliche Vorstellung über „Behinderung“ als schöpfungsbedingter und vom Schöpfer gewollter Raum der Beziehung ist grundlegend für solche Betrachtungen. Hierbei sind exegetische und hermeneutische Aspekte gegeneinander abzuwägen und im Hinblick auf eine ganzheitliche Perspektive über „Behinderung“ auszuarbeiten.

Bibliographie

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Boll, Silke, Ewinkel, Carola, Hermes, Gisela, Kroll, Bärbel, Lubbers, Sigrid & Schnartendorf, Susanne (Hgg.) (1985). Geschlecht: behindert – Besonderes Merkmal: Frau. Ein Buch von behinderten Frauen. München.

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