Rezension: Schipper, Jeremy 2011, Disability & Isaiah’s Suffering Servant
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Dieses Werk wird in theologischen Kreisen zunehmend wahrgenommen. Die exegetische Grundaussage, dass es sich bei der Beschreibung des Leidens des Gottesknechts um eine tatsächliche und nicht um eine imaginäre oder zu übertragende Behinderung einer Person handelt, hat auch missiologische Auswirkungen. Insbesondere die diakonisch-ethische Ausrichtung der Kirche auf Menschen mit Einschränkungen wird dadurch hinterfragt.
Jeremy Schipper ist Professor zum Fachgebiet der Hebräischen Bibel (Altes Testament) an der Temple Universität in Pennsylvania. Er beschäftigt sich schon seit 2006 mit Disability Studies in Bezug auf die Hebräische Bibel. Dabei hinterfragt er die gängige Auslegungspraxis, die Beschreibungen von Behinderung oder Behinderten vornehmlich allegorisch zu deuten. Er sieht im innerbiblischen sowie im religions- und sprachwissenschaftlichen Vergleich mit anderen antiken Schriften keinen Grund so an die Hebräische Bibel heran zu gehen. Dabei ist er vorsichtig und gesteht diesen Zugang als mögliche Option zu, will ihn aber nicht als einzige oder bevorzugte Möglichkeit stehen lassen (Abschlusskapitel conclusion, S. 110-112). Schipper weist nach, dass, dieser Zugang besonders in den Auslegungen zum Gottesknecht aus Jesaja 53 zutage tritt.
Er folgt in der Jesaja-Interpretation der allgemeinen Tradition, die Jesaja 53 in zwei Teile gliedert: Eine göttliche Rede oder ein Orakel als Einleitung und Schlussfolgerung (52:13-15 und 53:11b-12) und als Hauptteil ein Psalm über den Knecht (53:1-11a). Der Theorie, nachdem der Psalm ein nachträglicher Einschub zwischen zwei göttlichen Reden wäre, und somit ursprünglich keine Beschreibung einer Behinderung vorlag, erteilt er aufgrund der unterschiedlichen textkritischen Befunde eine Absage. Ebenso betont er die Vielfalt an Beschreibungen von Behinderung und Behinderten in der Hebräischen Bibel, insbesondere in Jesaja (disability imagery).
Disability Studies offenbaren drei Modelle der Wahrnehmung von Behinderung. Das medizinische, das soziale Modell aus Großbritannien und das kulturelle Modell aus den USA (S. 14-20). Ersteres wird inzwischen als unzureichend deklariert. Schipper wählt einen praxisbezogenen Zugang zur Behinderung. Altersbedingte Erscheinungen, die durch langsame Verfallserscheinungen entstehen, zählen für ihn nicht dazu, jedoch explizit erwähnte Unfruchtbarkeit (Mann, Frau, Eunuchen), Mobilitäts-, Seh-, Hör- und mentale Einschränkungen. Antike Texte beschreiben zwar die damalige Wahrnehmung von Behinderung, sie geben jedoch keine hinreichenden Definitionen derselben.
Schipper führt die innerbiblischen geistlichen Übertragungen (Metaphern) an, die mit Vokabular aus dem Bereich der Behinderung spielen, woran auch Jesaja nicht spart (z. B. Jes 42:19; 56:10). Jesaja 53 geht jedoch darüber hinaus, da die reale körperliche und mentale Einschränkung einer Person beschrieben wird.
Ein weiterer Interpretationsstrang definiert den Gottesknecht als „leidend“ aber nicht behindert (S. 32; s. unten). Demgegenüber weist die Erfahrung sozialer Isolation (Jes 53:3) auf eine „echte“ Ablehnung durch Andersartigkeit bzw. Behinderung hin. Implikationen einer religiösen Stellvertretung, wie aus dem hetitischen und assyrischen Bereich für mentale Behinderte, die anstelle des kranken Königs eingesetzt wurden, sind nicht ausreichend belegt, um sie auf Jes 53 anzuwenden. Schipper bespricht Theorien über eine Hautkrankheit wie sie Duhn vorschlägt (S. 40-42) sowie Auslegungen, die Behinderung als Deutungsoption ausschließen, namentlich eines Gottesknechts der verletzt (S. 42-45; so z. B. Whybray), getötet (S. 45-49), sich erholend (S. 49-55) oder gefangen sei (S. 55-57).
Kapitel 3 widmet sich der textkritischen Analyse von Jesaja 53. Im Verlauf der Antike zeigt sich, laut Schipper, eine Verschiebung der Sicht von einem behinderten Gottesknecht hin zu einem nichtbehinderten. Vor allem Targume (antike aramäische interpretierende Übersetzungen) lösen sich vom Bild eines behinderten Gottesknechtes und sprechen mehr von einer „gesalbten“ (mšhy) denn einer „entstellten“ Person (mišhat; Jes 52:14; S. 69-71). Im Gegensatz hierzu benutzt Hieronymus in der Vulgata und in Kommentaren Vokabular aus dem Bereich der Behinderung (S. 71).
Der neutestamentliche Beweis erstreckt sich auf Zitate von Jesaja 53 im Neuen Testament. Jesus‘ Heilungen und Wunder bilden dabei den Bezug. Neben Matt 8:17 ist auch Joh 12:28 zu nennen, wobei in beiden Fällen die Behinderung keine Rolle spielt, sondern die Ablehnung Jesu trotz seiner Heilungen. Auch andere Stellen, die sich auf Jesaja 53 beziehen, weisen nicht auf Behinderung sondern auf Ablehnung und Leiden. So z. B. in Lk 22:37, Mk 15:28 – Jesus als Unschuldiger; in Apg 8:32-33 und 1Pt 2:22 – ein Märtyrer oder in Röm 10:16 und 15:21 – Reaktionen auf den Gottesknecht. Diese neutestamentliche Tendenz dürfte die langanhaltende Abkehr vom Verständnis des behinderten hin zum leidenden Gottesknecht unterstützen.
In Kapitel 4 untersucht Schipper die unzähligen Deutungen des Gottesknechts als Leidender, der real-existierte oder auch kollektiv zu deuten wäre. Mindestens fünfzehn historische Personen finden sich in der Auslegung (S. 84). Der Gottesknecht wird schon früh auf Jesus gedeutet, dann wiederum als Messias (z. B. Justin, 2. Jh.; S. 89-91), als König (S. 91-93) oder als Prophet (S. 93-99). Kollektive Deutungen weisen auf Israel, wie z. B. von Origenes im 3. Jh. vertreten (S. 99-100), oder auf das leidende Zion (S. 104-106). Um die überwiegende Tendenz hin zur Nichtbehinderung zu verdeutlichen listet Schipper auch Hinweise auf Behinderung im Hinblick auf den Messias oder den Gottesknecht auf (S. 85-89; darunter Lepra, Eunuchen-Status).
Es ist Schippers Verdienst in Kürze aufgezeigt zu haben, wie ein biblischer Text, hier Jesaja 53, eine ursprüngliche Nuance verlieren kann und in der Folge allerlei Deutungsrichtungen nimmt. Im Hinblick auf Behinderung ist dies besonders tragisch, da die „glokale“ Kirche einer inhärenten paternalistischen Tendenz der Bevormundung oder des Ausschlusses aktiv gegensteuern muss, um ihrer „inklusionierenden“ Wirkung, Kirche für Alle von Allen zu sein, gerecht zu werden.
Jesaja ; Hebräische Bibel ; Disability Studies ; Leiden ; Theodizee ; Heilung ; Missiologie ; Theologie
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