Rezension: Morton, Jeff 2012. Insider Movements: Biblically Incredible or Incredibly Brilliant?

Morton, Jeff 2012. Insider Movements: Biblically Incredible or Incredibly Brilliant? Eugene: Wipf & Stock, 126 Seiten.

werner [at] forschungsinstitut.net

Jeff Morton ist Professor an der Biola University’s Cook School of Intercultural Studies. Wie schon in seinen vorhergehenden Werken Two Messias (2011) und als Mit-Herausgeber von Chrislam (2011) hat er sich im vorliegenden Werk, im Rahmen von 12 kurz gefassten Artikeln, mit sogenannten „Insider Movements“, auch „Jesus Movements“ genannt, auseinandergesetzt. Angelehnt an Bewegungen, die Jesus als dem „Messias“ (Messias Movements) folgen (z. B. messianische Gläubige jüdischen Hintergrunds) untersucht er solche aus dem islamischen Bereich. Morton geht dabei auf die – für die gesamte Diskussion sehr hilfreiche – Unterteilung in religionstheologisches Verständnis, biblische Grundlagen und das Verständnis von Bekehrung / Umkehr ein. Diese drei Bereiche durchleuchtet er anhand der von den Hauptbefürwortern Kevin Higgins (Global Team; IJFM 2004-2009), Lewis Rebecca (Frontiers; IJFM 2007-2010), Dudley Woodberry (Fuller Seminary; 1989; 1996; 2007) und Rick Brown (SIL International; IJFM 2004-2010) getroffenen Aussagen in Evangelical Missions Quarterly (EMQ) und dem International Journal of Frontiers Mission (IJFM). Aufgrund ihrer Aktualität wird die im April 2013 erschienene ablehnende Haltung der World Evangelical Alliance (WEA) bezüglich Islam-kontextualisierter Terminologie in Bibelübersetzungen nicht behandelt. Fragen der Identität der moslemischen Messias Nachfolger, dem Verständnis von Kirche und der Übersetzung für den Islam anstössiger Terminologie in Bibelübersetzungen oder Schriftmaterial beantwortet er in seinen anderen Publikationen.

Gleich in der Einleitung und im ersten Kapitel macht Morton deutlich, dass er den Islam als „false religion with a false message about a false hope delivered by a false prophet, and written in a book filled with false claims“ (S. 9; Hervorhebungen im Original. EW) betrachtet. Um die, seiner Meinung nach, gravierenden Unterschiede zwischen dem biblischen und koranischen Gottesverständnis aufzuzeigen, benutzt Morton die Eigennamen Yahweh und Jesus im Kontrast zum islamischen Allah. Dabei wird für ihn die anti-christliche Ausrichtung des Islam vor allem am koranischen Textinhalt deutlich, den er durchgängig als Belegstelle aufzeigt.

Kapitel zwei beleuchtet die Vorstellung eines laut Higgins originären orthodoxen Islam, welcher sich von innen durch Messianische Moslems erneuert und gar nicht so weit von urchristlichen Ansichten entfernt sei (S. 14). Anhand des zentralen Ereignisses der Inkarnation Jesu zeigt er den „antichristlichen Geist“ (S. 17) des diese ablehnenden Islam auf. Im Weiteren bespricht Morton anhand ausgewählter biblischer Textbelegstellen von Befürwortern der Insider Bewegung seine drei Hauptargumente (siehe oben).

Im Weiteren bespricht er Gen 14:17-20, das Auftreten des Königs von Salem Mechisedek (Kapitel drei). Higgins sieht in dieser Perikope ein Handeln Gottes (El in V. 18 in Anlehnung an semitisch Elohim und Allah) in anderen Religionen, namentlich der Religion Melchisedeks, welcher eine Vorausschattung des Messias darstellt. Morton lehnt dies ab. Letzterer nimmt an, dass Melchisedeks Religion, ähnlich wie die des Abraham, dem Kern nach den wahren Gott Yahweh anbetete und deshalb bei Yahweh Beachtung fand.

In Kapitel vier bespricht Morton 2 Könige 5:15-19. Die Geschichte Naamans und dessen Heilung von Lepra durch den Propheten Elisa ist laut Higgins ein weiterer Hinweis darauf, dass ein Gläubiger in seinem religiös-kulturellen Umfeld verharren soll. Die Tatsache das Naaman von Israels Erde nach Aram mitnahm zeigt, dass er mit der Erlaubnis des Propheten in seiner kulturell-religiösen Tradition bleiben sollte. Über die biblische Verknüpfung des Besitzes von der Erde Israels und den nun von ihm verehrten Gott Israels (V 15, 17) zeigt diese Geschichte dass man Yahweh auch als Nicht-Israelit anbeten kann. Am, Ende wehr Morton solches als Argument aus dem Schweigen ab, da keine qualitative Aussage über die Stellung Naamans im Verhältnis zum Gott Abrahams getroffen würde.

In Kapitel fünf bespricht Morton Jona 1 und die Stellung des Propheten und der Schiffsbesatzung als Beweis für nicht-jüdische Yahweh Verehrung. Deren Beziehung zu Yahweh, allein aufgrund der erwähnten Gebete, kann seiner Einsicht nach nicht als Beweis für eine wirkliche Gottesbeziehung gelten.

Johannes 4 und Apostelgeschichte 8 sind weitere Stellen die von Befürwortern als Belegstellen nicht-jüdischer Anhänger des Yahwe-Kultes gelten und beweisen sollen, dass diese Volksgruppen in ihrem religiös-kulturellen Umfeld geblieben sind (Kapitel 6). Die Bekehrungen aus dem Volk der Samaritaner werden von Befürwortern oft als Beispiel für Insider Movements gesehen (S. 36-37). Morton schließt eine solche Ableitung aber wiederum aus dem Argument des Schweigens aus. Da nicht über eine detaillierte Umkehr der Samaritaner gesprochen wird kann man darüber auch nichts sagen.

Apostelgeschichte 15:19-21 (Kapitel 7), Apostelgeschichte 17:22-23, 28 (Kapitel 8), 1 Korinther 7:17-20 (Kapitel 9) und 1 Korinther 9:19-23 (Kapitel 10) runden die Betrachtungen ab, wobei die Argumentation ähnlich bleibt.

In Kapitel 10 greift Morton einen hier bemerkenswerten Vergleich von Woodberry auf. Dieser sieht Ähnlichkeiten zwischen dem Dekalog aus Exodus 20 und denselben Geboten im Koran. Morton vergleicht beides und kommt zum Ergebnis, dass (1) das Sabbat-Gebot im Koran nicht aufgegriffen wurde, da Moslems den Freitag als Feiertag nutzen (S. 74), (2) dass es zwei Gebote gibt, die nicht eindeutig im Koran beantwortet werden (keine anderen Götter, nicht töten), aber (3) dass die anderen Gebote auch im Koran auftauchen. Mohammed bleibt für Morton ein Plagiator. Interessant an diesem Punkt ist das Morton Woodberrys Ausführungen zu einer Annäherung an den Islam bis auf den Artikel von John Wilder im Jahre 1977 zurückführt: Some Reflections on Possiblities for People Movements Among Muslims (Missiology 1977). Das Ganze stellt für Morton einen inzwischen lange währenden und gefährlichen Paradigmenwechsel in der evangelikalen Theologie dar.

Danach geht Morton auf das Verständnis von Umkehr und Bekehrung und Christianisierung ein (Kapitel 11). Er sieht das Hauptanliegen der Befürworter von Insider Movements darin, um jeden Preis eine Christianisierung oder im schlimmsten Fall Verwestlichung von gläubigen Jesusnachfolgern aus dem Islam vermeiden zu wollen (S. 88-90). Morton verdeutlicht, dass diese Grundannahme falsch sei, da ein Bekehrter nicht Namens-Christ, sondern ein wahrer Christusnachfolger wird, der sich beliebig benennen könne, aber eben zu „Christus“ gehört. Dabei spielen kulturell-religiöse Argumente nur eine untergeordnete Rolle. Zum Abschluss schließt Morton mit einer klaren Absage an die Insider Movements als Teil des wahren Christentums (Kapitel 12).

Erwähnenswert sind noch die zwei Appendixes. Appendix 1 enthält eine Grundsatzerklärung von Bassam Madany gegen die Initialisierung von Insider Movements als einem westlichem Produkt. Appendix 2 ist eine Untersuchung von Roger Dixon zu Insider Movements in West Java, Indonesien. Roger Dixon hat die Bewegung (auch in Bangladesch) teilweise mit begleitet und kommt zu dem Schluss, dass es sich um ein falsches Evangelium und einen falschen Ansatz handelt, der viele Gräben aufgetan statt geschlossen hat.

Dieses Buch ist hilfreich, um sich ein Bild zur Theologie und Missiologie von Befürwortern und Gegnern des Insider Movement Ansatzes zu machen. Es ist an manchen Stellen ironisch, bzw. sarkastisch negativ, was dem „evangelikal-bibeltreuen“ und „konservativen“ Verständnis des Autors entspricht. Wenn eine theologisch Annäherung an den Islam – und das ist der Casus Knacksus in dieser Diskussion – nicht gewünscht wird, dann kommt man zu solchen Schlüssen. Vor allem die Auseinandersetzung zwischen Schrift und Koran machen diese Studie zu einem Hilfsmittel für apologetische Untersuchungen. Zum Schluss sollte noch gesagt werden, dass die Überbetonung eines westlichen Einflusses bei der Bildung von Insider Movements nicht die ganze Wahrheit abbildet. Teilweise stießen christliche Entwicklungshelfer in der islamischen Welt auf bereits existierende Kreise von Messiasnachfolgern derer sie sich annahmen. Letztere Entwicklung taucht jedoch bei Morton nicht auf.

Rezension: Boase, Roger (ed.) 2005. Islam and Global Dialogue: Religious Pluralism and the Pursuit of Peace.

werner [at] forschungsinstitut.net

 

In diesem Werk, zu dem 20 Autoren beigetragen haben, geht es darum zu erkunden wie sich der Islam als religiöse Bewegung auf den interreligiösen Dialog eingelassen hat. Roger Boase, war Professor an der Universität in Fez / Marokko, bevor er an die Universität zu London wechselte. Seine Stellungnahmen lassen darauf schließen, dass er selbst Moslem ist (Beitrag 17; s. unten). Er hat ein buntes Gemisch an Autoren zum Thema „Islam und religiöser Pluralismus“ gesammelt. Dabei ist der Hauptteil der Arbeit, Beiträge 4-11 (S. 77-190), dem Islam und seiner Beziehung zum Westen, im Hinblick auf Huntington’s Clash of Civilization and the Remaking of World Order (1996) gewidmet. Der zweite Hauptteil, Beiträge 12-19 (S. 191-273), beschäftigt sich mit jüdischen, christlichen und islamischen Antworten auf religiöse Unterschiedlichkeit. Abschließend – wie auch implizit über dem ganzen Werk – steht der Appel religiösen Pluralismus als Chance und als Ausdruck menschlicher und göttlicher Vielfarbigkeit zu sehen und religiöse Auseinandersetzungen zu verdammen.

In Teil 1 der Sammlung wird der Leser durch John Bowden, editor of SCM Press, auf den historischen Ursprung religiösen Pluralismus im Rahmen der Aufklärung hin geführt (Beitrag 1; S. 13-20). Diana L. Eck, Indian studies Harvard University, definiert als hilfreiche Unterscheidung den Exklusivismus, Inklusivismus und Pluralismus als die drei philosophischen Kernströmungen religiöser Ausprägung (Beitrag 2; S. 21-50). Die christlich evangelikale Welt ist dabei im Spektrum von extrem exklusivistischen, teils auch fundamentalistisch genannt (z. B. S. 13), wie z. B. in der Frankfurter Erklärung ausgedrückt bis hin zu wenig exklusivistischen Gruppen vertreten, die sich selbst als Ausdruck religiöser Pluralität verstehen (z. B. United Church of Canada, S. 23). Solche Spektren bilden sich in allen Religionen ab, z. B. Islamic Jihad im Islam oder Gush Emunim im jüdischen Glauben. In gleicher Weise findet sich diese Bandbreite auch im inklusivistischen und pluralistischen Raum wieder. Das Bild des Westens (Teil 2) im Islam wird von verschiedensten Blickwinkeln aus betrachtet. William Dalrymple, Historiker und Schriftsteller, führt in die Welt der christlichen Heiligen und der islamischen Sufiten ein (Beitrag 5; S. 91-101). Dabei enthüllt er Gemeinsamkeiten im langen Miteinander beider Religionen. Er kommt zu dem Schluss, dass man je länger man das orthodoxe Ostkirchentum studiert, desto mehr wird deutlich wie sehr es die Grundlage fundamentaler islamischer Inhalte darstellt (S. 96). Gerade in Ostanatolien (Levante) und im Nahen Osten ist dieser christlich-islamische Synkretismus, seiner Meinung nach tief verankert. Akbar S. Ahmed, Islamic studies an der American University Washington, ist weltweit bekannt für seinen Einsatz zum öffentlichen Dialog zwischen Islam und den anderen Religionen (Beitrag 6; 103-118). Sein Beitrag, wie auch an anderer Stelle, geht davon aus, dass sich Moslems deshalb ablehnend gegenüber dem Westen erweisen, weil die Leistungen des Islam dort nicht beachtet werden (S. 106-107). Diese Schuldzuweisung an den Westen wird oft benutzt und unterstreicht den Graben zwischen islamischer Welt und dem pluralistisch-christlichen Westen. Antony T. Sullivan, Lehrer am Institut für Middle Eastern and North African Studies an der Universität zu Michigan, geht als einer der wenigen auf die spannungsgeladene politische Situation zwischen islamischer Welt und dem Westen, insbesondere den Vereinigten Staaten ein (Beitrag 9; S. 139-158). Er versucht den Westen aus asiatischer Sicht (China und Indien) zu verstehen und die arabische Welt als Bestandteil darin zu verankern (S. 139). Im Weiteren führt er den Leser in den ökumenischen Jihad römisch katholischer Gelehrter ein (Peter Kreeft, Russell Kirk). Der von vielen Muslimen als auch Nicht-Muslimen, missverstandene Begriff jihad und die daraus resultierenden Aktivitäten wird als Ursache für die ablehnende Haltung des Westens gegenüber dem Islam gewertet (S. 147).

Im zweiten Hauptteil (Teil drei) kommt der christlich-jüdisch-muslimische Trialog als trilateraler Dialog ins Gespräch. Tony Bayfield, Direktor der reformierten Synagogen im Vereinigten Königreich (UK), weist darauf hin, dass der 11 September 2001 ein Angriff auf jegliches religiöse Denken war (Beitrag 12; S. 191-202; S. 191). In 5 Anklagepunkten beschreibt er das Dilemma: Judentum, Christentum und Islam sind für ihn eng verwandt, stellen aber die am schlechtesten funktionierende Verwandtschaft oder Familie dar, die man sich vorstellen kann (S. 194). Keine dieser drei monotheistischen Schriftreligionen hält sich an die Herausforderungen ihrer eigenen Schriften sich um Frieden zu bemühen (S. 195). Das Judentum klagt er für seine absolute Theologie der Erwählung und Einzigartigkeit an (Anklage 3) und die Ausprägung aller drei Religionen hin zum Fundamentalismus (Anklage 4; S. 195). Zuletzt verweist er auf die Ausbeutung der Dritten Welt durch das Christentum und den post-christlichen Westen (S. 198). Bayfield‘s Argumentation ist symptomatisch für den Ansatz des religiösen Pluralismus wie er in diesen Artikeln vorgetragen wird. Murad Wilfried Hofmann, ein deutscher Diplomat und Autor in Algerien und Marokko der zum Islam konvertierte, verteidigt die „zurückhaltende“ Stellung des Islam in Hinblick auf den religiösen Dialog (Beitrag 16; 235-246). Seiner Meinung nach hat Amerika wenig aus dem 11. September gelernt und es wurde „Israel“ in der ganzen Debatte vergessen (S. 235). Fanatische evangelikale Kreise würden den Islam aktiv bekämpfen, wobei sich Deutschland als herausragend erweise. Dabei sind in islamischen Staaten, so seine Beobachtung, religiöse Probleme auf lokaler Ebene kein Thema (S. 237). Der dhimmi-Status (nicht-Muslime in islamischen Staaten) hätte nur drei Einschränkungen zur Folge: Ausschluss aus dem Militärdienst, eine spezielle Steuer die nicht unbedingt höher wie die normale Steuer zakat war, und die Unmöglichkeit höchstes Staatsoberhaupt zu werden (!; S. 242). Toleranz, Ökumene und das Streben nach Frieden in allen Religionen kann nur gelingen wenn jeder in seinem bleibt ist seine abschließende These (S. 244).

Eine dritte Stellungnahme zum interreligiösen Dialog kommt vom Editor Roger Boase, der den ökumenischen Islam als eine Antwort auf den religiösen Pluralismus betrachtet (Beitrag 17; S. 247-266). Er zeichnet drei Grundhaltungen im Hinblick auf religiösen Pluralismus ab.

Diejenigen die komplett ablehnen (z. B. solche die sich als Instrumente Gottes sehen),
diejenigen die religiöse Unterschiedlichkeit als Segen betrachten und dem Weltfrieden entgegen streben (z. B. Küng), und zuletzt
diejenigen die Religion in jedweder Ausprägung ablehnen (S. 247-248).
Auch Boase beginnt mit dem 11. September 2001 und beschreibt die militärische Antwort des Westens in Afghanistan, Irak und Pakistan als den schlimmsten Fehler (S. 248). Die wahre Dichotomie findet sich nicht zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen, sondern zwischen extremistisch-exklusivistischen und inklusivistisch-pluralistischen Gruppen (S. 249). Auf der Suche nach Gemeinsamkeiten stößt er auf den ökumenischen Islam. Der Prophet Mohammed selbst war in die interreligiöse Debatte seiner Umwelt eingebunden, wie der Koran zeigt. Sieben Prinzipien lassen sich daraus ableiten:

Es soll kein Druck in Bezug auf den Glauben ausgeübt werden (Sura 2:256),
beleidige keinen Andersgläubigen (Sura 6:108),
lass dich nicht mit denen ein die deinen Glauben beleidigen (Sura 5:57-58),
sprich mit Taktgefühl und Höflichkeit mit denen anderen Glaubens (Sura 15:88),
suche den Dialog mit denen die kritisch argumentieren (Sura 3:65),
versage der Spekulationen über Glaubensfragen (Sura 40:4), und zuletzt
konkurriere in deinem eigenen Glaubensleben mit Andersgläubigen um sie zu motivieren (Sura 5:48; S. 252-254).
Soweit die Auslegung von Boase zum Koran. Der jüdisch-islamische Dialog zu Zeiten des Propheten Mohammed war intensiv und sollte heute im islamischen Raum, wie auch außerhalb im Hinblick auf den Islam als religiöser Dialog wieder aufgenommen werden (S. 262).

Dieses Werk ist in Anlehnung an die derzeitigen Spannung zwischen den Weltreligionen ein Fingerzeig darauf hin, dass es an jedem einzelnen liegt sich theologisch auf andere Religionen in der Weise einzulassen und sie nicht grundsätzlich als fundamental-radikal zu betrachten. Solch eine Ausprägung ist in jeder Religion vorhanden und sollte zur Nächstenliebe oder Friedensabsicht führen, wenn man den Offenbarungen folgt. Da die menschliche Realität aufgrund ökonomischer oder politischer Spannungen (Armut, Verfolgung, Vertreibung) oft anders aussieht, bleibt zuletzt die bange Frage, ob sich solche Appelle umsetzen lassen oder die Menschen zum Umdenken bewegen.

Rezension: Grünstäudl, Wolfgang & Schiefer–Ferrari, Markus 2012. Gestörte Lektüre – Disability als hermeneutische Leitkategorie biblischer Exegese

werner [at] forschungsinstitut.net

 

Die ökumenische Reihe Behinderung-Theologie-Kirche, wie sie von den römisch–katholischen Professoren Johannes Eurich (Diakoniewissenschaftliches Institut Heidelberg) und Andreas Lob-Hüdepohl (Katholische Hochschule für Sozialwesen Berlin) herausgegeben wird ist im Moment die umfangreichste Darstellung zum Thema Disability Studies im deutschsprachigen Raum. In diesem Band 4 wird in 12 Beiträgen aus den Bereichen Theologie, (Heil– und Sonder–) Pädagogik, Philosophie, Ethik, und Diakonie der theologisch–kirchliche Kontext zur Inklusion von Menschen mit körperlichen oder mentalen Einschränkungen besprochen. Die römisch katholischen Herausgeber Grünstäudl und Schiefer Ferrari sind unter anderem an der Universität Koblenz-Landau im Bereich Bibeldidaktik und Bibelwissenschaften tätig.

Markus Schiefer Ferrari beginnt mit ‚Differenzvorstellungen‘. Abweichungen von der Norm, bezüglich Behinderung und den sie begleitenden Deutungsstrategien (S. 18). Er arbeitet die in der Exegese gebräuchlichen Sprachmuster hinsichtlich der in der Bibel erwähnten behinderten Menschen heraus (z. B. ‚ärgerliche Zumutung‘‚ ‚Abschaum der Gesellschaft‘ im Hinblick auf das große Gastmahl aus Lk 14; S. 19). Ebenso untersucht er die übliche Verknüpfung von Isolierung und Gleichsetzung von behinderten Menschen mit den ‚Armen‘ und ‚Schwachen‘, wie auch die innerbiblische Widerlegung dieser Hypothese. Wie dies deutlich wird, wenn sich doch Freunde um einen mobilitätseingeschränkten Menschen bemühten, wie in Mk 2:3 beschrieben (S. 20). Die verbreitete metaphorische bzw. übertragene Auslegung von ‚Behinderung‘ versucht Schiefer Ferrari an der ‚Wassersucht‘ aufzuzeigen (Lk 14:13; S. 27). Den Fragekomplex der Stigmatisierung geht er aufgrund der ‚Ästhetisierung‘ auf den Grund (S. 30–31).

Das Thema der Priester–Eignung aus Lev 21:16-24 wird von Thomas Hieke aufgegriffen. Er stellt fest, dass Anweisungen bezüglich des Hohepriesteramtes zwar fehlen, doch schließt er aus V. 23, dass dieses dort gemeint sei. Die durch eine Behinderung eingetretene ‚Entheiligung‘ findet sich parallel auch in den Reinheitsvorstellungen der Opfertiere wieder, die keinen Makel aufweisen sollten (S. 59). Hieke spricht von ‚minderwertigem Material‘, welches nicht Opfer–würdig sei. Er vermutet ein ‚Unvermögen‘ von behinderten Menschen und Gott ihnen kultische ‚Missgeschicke‘ aufgrund ihrer körperlichen Einschränkungen ersparen will (S. 60). Zuletzt lehnt Hieke die häufig vermutete ‚Nähe zur Todessphäre‘ aufgrund körperlicher Defizite entschieden ab, da die Bezeichneten am Kult teilnehmen und alles Heilige essen dürfen.

Michael Tilly widmet sich dem paulinischen Umgang mit Behinderung. Dabei summiert er die paulinische Argumentation als ‚biographisch bedingte und zugleich apologetisch motivierte Umwertung‘ eigener Schwachheit und Krankheit in eine charismatische Befähigung zum Apostelamt. Einen Ausblick liefert Tilly im Rahmen der Annäherung des ‚Normalitäts‘–begriffes an ein ‚gelingendes‘ Leben, welches nicht auf Gesundheit und Ability gegründet sei (S. 79–80).

Zum Verständnis von Krankheit und Gesundheit findet sich ein Beitrag von Markus Tiwald (S. 81–97).

Alois Stimpfle untersucht neutestamentliche Konstruktionen von Wirklichkeit. Er verbindet diese mit interessanten, realen biographischen Erfahrungen von Menschen mit Behinderungen (S. 105–107), namentlich Arnold Beisser (Kinderlähmung), Ilja Seifert (Querschnittlähmung) und Heike Beckedorf (Contergan-Schädigung). Stimpfle sieht im neutestamentlichen Ansatz eine anthropologische Konstante. Sie verortet Behinderung ‚außerhalb des Herrschaftsbereiches des Gottesgeistes‘. Dort finde auch Korrektur oder Heilung statt (S. 115). Er kommt zum Schluss, dass Behinderung als hermeneutische Leitkategorie geeignet ist, die Wahrnehmung der körperlichen Sinne, ob diese nun in vollem Umfang oder mit Einschränkungen erhalten sind, in Homiletik, Exegese und Katechumenat Inklusions–orientiert aufzuarbeiten.

Drei Beiträge von Tobias Nicklas, Ilaria L. E. Ramelli und Wolfgang Grünstäudl beschäftigen sich mit frühchristlichen Rezeptionen. Tobias Nicklas beschäftigt sich mit der Gottesbeziehung im Hinblick auf die Leiblichkeit des Menschen (S. 127–140). In der Antike, in welcher körperliche oder geistige Einschränkungen die Existenz viel stärker bedrohten als in der Moderne und zu Not-vollen Situationen führten, sei der Begriff ‚Heil‘ und sein semantisches Sprachumfeld ‚Heil-(ig)-ung‘ anders zu deuten als heute. Das Ganze des Menschen steht in der frühchristlichen Literatur im Mittelpunkt. Ebenso auch die unerwartete hermeneutische Deutung eines ‚schwachen‘ Leidenden am Kreuz im Gegensatz zu anderen damaligen religiösen Vorstellungen. Ilaria L. E. Ramelli (S. 141–159) erarbeitet literaturgeschichtlich die Werke von Bardaisan von Edessa (†222) und Origin von Alexandria (†255). Er beschreibt die stoischen Vorstellungen über Adiaphora (indifferente Sache) und Apokatastis (Wieder-herstellung). Die Dreiteilung in Körper, Seele und Geist half beiden antiken Autoren sich vom gängigen Muster göttlicher Strafe oder vererbter Sünde auf die Behinderung als ‚indifferente Sache‘ zu beziehen. Dabei wird die eigentliche Schwere ‚wahrer‘ Behinderung oder Krankheit in der Seele angesetzt und metaphorisch auf Sünde hin gedeutet (S. 158–159). Wolfgang Grünstäudl (S. 160–179) beschäftigt sich mit ‚Didymus von Alexandrien‘ auch genannt ‚der Blinde‘ (*313–†398) und dem Auge der Braut als Anspielung auf das Hohelied bzw. die Fähigkeit Christus als Bräutigam zu erkennen. Es geht um antike Vorstellungen zu Blindheit und Sehen. Insbesondere begeistert hier das Phänomen eines aktiven, inkludierten Kirchenvaters mit einer Sehbehinderung von Kindheit an (S. 177–179).

Die letzte Einheit dieser ‚Gestörten Lektüre‘ bespricht sonderpädagogische Irritationen. Erik Weber, Lars Mohr, Anita Müller-Friese und Matthias Bahr widmen sich der Ausgestaltung inklusiver Lehre bezüglich Planung, Ausarbeitung und Praxisorientierung. Erik Weber nimmt sich des sozialen Modells in den Disability Studies (S. 180–201) an. Er bedient sich dabei des kulturellen Modells von Dederich. Dieser argumentierte leibphänomenologisch und stellte die Erfahrung des Behindert–Seins in den Mittelpunkt (S. 199–200). Lars Mohr (S. 202–218) widmet sich dem Auftrag aus Gen 1:26-28 zur dominium terrae, wie er es nennt, also dem Welt-Herrschaftsanspruch und dies trotz Schwerbehinderung (S. 202). Die Erschaffung des Menschen ‚zum Bilde Gottes‘ stellt die Grundlage eines wie auch immer gearteten ‚Herrschens über die Erde‘ dar (S. 208). Die Erfahrungswelten schwerbehinderter Menschen wirken nachhaltig und mit großem Eindruck, jedoch müssen sie zur Geltung kommen können, was Auftrag und Ziel der Sonderpädagogik sei (S. 217). Anita Müller-Friese (S. 219–235) und Matthias Bahr (S. 236–253) runden dieses Werk mit praktischen bibeldidaktischen Vorschlägen zu den poetischen und narrativen Texten der Bibel ab.

Die Zielgruppe dieser Sammlung stellen Bibeldidakten dar, die nach Inklusions–orientierten Grundlagen und Hilfen für ihre Arbeit suchen. Hierbei ist neben einer Bandbreite an Projekten auch die theologisch–hermeneutische Aufarbeitung der Inklusion als Leitbild hilfreich dargestellt worden.

Rezension: Georges, Jayson & Baker, Mark D. 2016. Ministering in Honor-Shame Cultures: Biblical Foundations and Practical Essentials

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Georges (MDiv, Talbot) und Baker (Ph.D, Duke University) können auf eigene missiologische Erfahrungen zum Thema zurückgreifen. Georges arbeitete neun Jahre in Zentralasien und Baker zehn in Honduras. Gleich zu Beginn machen sie deutlich, dass es sich bei ihrem Ansatz lediglich um eine Tendenzen-darstellende Annäherung zwischen unterschiedlichen Gewissensorientierungen handeln kann. Es ist nicht ganz eindeutig, wo sie ihre Forschung verorten, jedoch scheinen sie ihre Erfahrungen als ethnographische Studien aus Sicht der kulturellen Anthropologie (cultural anthropology; Ethnologie) zu verstehen (Kapitel 1 Paragraphen 2 und 3). Die angeführten Erkenntnisse werden jeweils zu Beginn durch eine praktische ethnographische Beobachtung untermauert.

Als Einstieg benutzen die Autoren ISIS-Propaganda, um die dort beinhalteten Hinweise auf Ehre und Scham (honour-shame) zu untersuchen (S. 15). Diese steht im Kontrast zur nordamerikanisch-nordeuropäischen Gewissensorientierung, welche sich an Unschuld/Gerechtigkeit und Schuld ausrichtet (S. 37). Das Beispiel des amerikanischen Kriegsministeriums, zur Untersuchung der japanischen Kultur, durch die Anthropologin Ruth Benedict, um die japanische Gewissensausrichtung zu verstehen, verdeutlicht den tiefen kognitiven Graben zwischen den Kulturprägungen (S. 16).

Die Autoren stellen fest, dass jede ideologisch-theologische Denkrichtung in ihren Wertvorstellungen auf einer grundlegenden Prägung des Gewissens basiert. Sie verstehen deshalb ihren Ansatz komplementär und nicht absolut (S. 23).

In gezielten Schritten führen sie in die Denkstrukturen von auf Ehre und Scham orientierten Gesellschaften ein. Was richtig und was falsch ist wird dort kollektiv und Beziehungs-relevant entschieden. Im Gegensatz hierzu steht die philosophisch-rechtliche Wahrnehmung in Schuld-orientierten sozialen Gruppen. Ihre Zusammenfassung lautet: Schuld-Orientierung lehrt, „Ich machte einen Fehler, ich muss ihn zugeben“, Scham dagegen sagt, „Ich bin ein Fehler, ich muss das verbergen“ (S. 37-38).

Werte bestimmen das Verhalten und sind damit grundlegende Hinweise auf Gewissens-Orientierungen. Anhand folgender Themenkomplexe, wird dies für auf Ehre und Scham orientierte Gesellschaften näher erklärt:

Die Dynamik des Patronats als Gesellschaftsphänomen,

indirekte Kommunikation,
kollektive Ausrichtung auf den individuellen Anlass,
das Reinheit-Unreinheitsparadigma,
das soziale Rollensystem und zuletzt
die Gastfreundschaft (S. 50).
Im Einzelnen: Das Patronat oder der Paternalismus (nicht Korruption) schuldorientierter Gesellschaften basiert auf einem wechselseitigen Verhältnis ungleicher Partner. Der Schutzherr garantiert die physische Versorgung mit materiellen Mitteln (Lebensmittel, Bau- und Verteidigungsmaterial) und erhält im Gegenzug dafür Loyalität, Hörigkeit und Gefolgschaft. Dem Gewinn von Prestige (Ehre) steht drohend der gleichzeitige Verlust desselben durch Fehlverhalten entgegen, verursacht durch das Nichtteilen vorhandener Ressourcen. Indirekte Kommunikation ist eine Harmonie und Beziehungs-orientierte Form der Mitteilung. Sie stellt niemanden bloß und ist respektvoll und loyal zum Gesprächspartner (S. 53). Im einzelnen sozialen Ereignis wird die Respekts-Beziehung in den Vordergrund gestellt. So steht der Respekt auch in Bezug auf das Abwarten, z. B. gegenüber Höhergestellten bei einer Hochzeit zuoberst, auch wenn das Brautpaar, oder Hochzeitsgäste warten müssen (nicht mit Bequemlichkeit zu verwechseln). Reinheit stellt Ordnung dar, das Richtige am rechten Platz, wohingegen Unreinheit das Falsche am falschen Ort signalisiert (kein Legalismus! S. 55). Gastfreundschaft sucht immer das quantitativ und qualitativ Beste für die Gäste zu geben (keine Verpflichtung!). Festessen stellen soziale Ehre-Veranstaltungen dar, bei denen Essen als Gegenwert im Rahmen reziproker Erwartungen (siehe oben) eingesetzt wird (S. 58).

Im theologischen, dem zweiten Teil, werden die Werte und Interpretationen von auf Schuld und Gerechtigkeit ausgerichteten (westlichen) Gesellschaften mit denen von Ehre und Scham orientierten Gesellschaften verglichen. Da die Hebräische Bibel und das Neue Testament in letzteren Gesellschaften verankert waren, wird der Graben zur heutigen westlichen Interpretation deutlich. Finanzielle, individuelle und soziale Unabhängigkeit führen zu egalitären, Respekt-unabhängigen, an Bereicherung orientierten, auf Recht und Ordnung ausgerichteten, rationalen und Pünktlichkeits-orientierten Gemeinden und Kirchen (S. 60). Demgegenüber liegt die biblische Betonung auf der Ehre Gottes, welche sich in der Ebenbildlichkeit des Menschen wiederspiegelt (Ps 8:5). Sünde wird zur Verweigerung dieser Ehre gegenüber Gott und Menschen. Ehre beruht daher auf Status. Dieser ist von physischen, geistigen und psychischen Faktoren abhängig. Hier nehmen die Autoren auf den behinderten Mephi-Boschet aus der Nachkommenschaft Jonathans Bezug, welchem König David Respekt aus Mitleid und dessen Abstammung heraus zollte (2 Sam 3:9; S. 83). Leider lassen die Autoren hier einen inklusiven Ansatz vermissen.

Als nächste biblische Episode betrachten Georges und Baker die Geschichte der Sünderin, die Jesu Füße im Hause des Pharisäers Simon mit ihren Haaren ölt (Lk 7:36-50). Offensichtlich war Simon nicht der Praxis der Fußreinigung gefolgt, ein Missstand, den die Frau aufgriff und damit Simon nach Jesu‘ Aussage bloßstellte (S. 98-99). Ein weiteres Beispiel geben Georges und Baker mit dem Gleichnis des „verlorenen Sohnes“ (Lk 15:12-32). Beeindruckend ist, dass Jesus die Scham und Ehre Orientierung seiner Umwelt aufgriff, um auf Missbrauch und Übertretung hin zu weisen. Er hat mehrfach seine Jünger, die Pharisäer oder auch offizielle Machthaber bloß gestellt, um die Wertvorstellungen des Reiches Gottes zu veranschaulichen. Kumuliert hat dies in der Überwindung des Todes durch das Kreuz, was als eine große Schande – Fluch – deklariert wurde (Dtn 21:23; S. 175). In ihrer Nacherzählung betonen sie die Möglichkeit, den Gesichtsverlust vor Gott in der Beziehung zu Jesus dem Christus überwinden zu können.

Georges und Baker führen im dritten Teil ihrer Abhandlung in praktische Konsequenzen der beschriebenen Gewissensausrichtungen ein. Sie gehen auf die geistliche Ausrichtung, die Beziehungsverhältnisse, Evangelisation, Bekehrung, ethische Konsequenzen und die Gemeinschaft in solchen Kontexten ein. Als Anhänge bieten sie ein Bibelstellenverzeichnis (Appendix 1), Biblische Geschichten (Appendix  2) und Hinweise auf weitere Hilfsmittel zum Thema (Appendix  3). Aus dem Erfahrungsschatz von Georges stammen Re-Interpretationen biblischer Geschichten, die er zusammen mit Menschen aus dem besprochenen Gewissensspektrum erarbeitete und die in diesen dritten Teil einfließen.

Das Thema der Gewissens-Orientierung hat in der Anthropologie und der Missiologie eine gewisse Tradition. Es wird in der Forschung kritisch hinterfragt, z. B. ob man nicht besser in bestimmten Kontexten von einer Reinheit vs. Unreinheits-Orientierung ausginge (z. B. Wheatcroft 2005). Die hier vorliegende Ausarbeitung geht darauf nicht ein, was ein Kritikpunkt darstellt. Als Ideengeber und auch zum Verständnis biblischer Kontexte im Hinblick auf eine Ehre und Scham-Orientierung bietet dieses Werk tiefe praktische Einblicke.

 

Gewissensorientierung ; Elenktik ; Scham ; Ehre ; Kollektivismus ; Reinheit ; Unreinheit ; Evangelisation ; Islam ; Buddhismus ; Religionswissenschaft ; Anthropologie ; Ethnographie ; Behinderung ; Disability Studies

Rezension: Harvey, Richard 2009. Mapping Messianic Jewish Theology: A Constructive Approach. Studies in Messianic Jewish Theology,

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Richard Harvey ist Akademischer Dean und Tutor in Hebräischen und Jüdischen Studien am All Nations College bei London. Laut Harvey umfasst das messianische Judentum (ursprünglich Hebräisches Christentum – Hebrew Christianity; S. 10) gegenwärtig um die 150.000 jüdische, an den Messias Jesus Christus, Gläubige (S. 2). Obwohl es sich um eine relativ geringe Zahl handelt birgt die messianische Bewegung politischen und geistlichen Sprengstoff in sich und ist aus missiologischer Perspektive bedeutsam für den Gemeindebau. Andere messianische Bewegungen, auch Insider-Bewegungen genannt, aus anderen religiösen Kontexten (z. B. im Islam, Buddhismus, Hinduismus) messen sich oder werden an dieser jüdischen Bewegung gemessen. Das offizielle Judentum lehnt diese Bewegung in der Regel als nicht-jüdisch ab (z. B. der Zentralrat der Juden Deutschland).

Harvey untersucht acht Typen messianischer jüdischer Theologie (S. 267-277):

Typ 1 Jüdisches Christentum, christozentrisch und reformiert (Baruch Maoz);
Typ 2 Dispensationalistisches Hebräisches Christentum (Arnold Fruchtenbaum);
Typ 3 Israelische Nationalität und Wiederherstellung (Gershon Nerel);
Typ 4 Neutestamentliche Halacha, charismatisch und evangelikal (Daniel Juster, David Stern);
Typ 5 Traditioneller Judaismus und der Messias (Michael Schiffmann, John Fischer, Ariel Berkowitz);
Typ 6 Postmissionarischer messianischer Judaismus (Mark Kinzer, Richard Nichol, Tsvi Sadan);
Typ 7 Rabbinische Halacha im Lichte des Neuen Testaments (Joseph Shulam);
Typ 8 Messianische rabbinische Orthodoxie (Elazar Brandt, Uri Marcus).
Diese acht Typen bespricht er anhand von fünf Themenblöcken:

1. Gottes Natur, Handlungsweise und Attribute (kann der eine Gott Israels und die christliche Dreieinigkeit gleich sein?)

2. Der Messias (messianische jüdische Christologie)

3. Thora in der Theorie (die Bedeutung und Interpretation der Thora im Lichte Yeshua/ Jesu) 4. Thora in der Praxis (Messianische Praxis des Sabbats, Lebensmittelvorschriften und Pessach/ Ostern)

5. Eschatologie (die unterschiedlichen Modelle, die in der Bewegung verwendet werden, um die Zukunft Israels zu beschreiben).

Nach Empfehlung des Autors bietet Kapitel 9 „Conclusion: The Future of Messianic Jewish Theology“ (Fazit: Die Zukunft der messianischen jüdischen Theologie) eine umfassende Zusammenfassung, die seine Erkenntnisse beschreibt und in jüdisch-theologische Zusammenhänge stellt. Er erwähnt dort alle Problemfelder und Anknüpfungspunkte der acht dargestellten messianischen jüdischen Theologien noch einmal und gibt einen Ein- und Ausblick auf die möglichen Entwicklungen dieser Bewegung im Hinblick auf das globale Christentum.

Einige jüdische Anthropologen (z. B. Devra Jaffe unter messianischen Versammlungen in Philadelphia und Houston 2000; S. 23), jüdische Soziologen (Elliot Cohen, jüdischer Buddhist untersucht die jüdischen Gegenreaktionen 2004; S. 26-27) und nichtjüdische Religionsforscher (z. B. Bülent Şenay islamisch-theologischer Historiker zur Theologie der Bewegung 2000; S. 19, 188) haben das jüdisch-messianische Bewegung ebenfalls untersucht und beschrieben. Dass Harvey diese Sichtweisen mit einbezieht eröffnet Einblicke in die Wahrnehmung dieser Bewegung aus öffentlicher, kritisch-jüdischer sowie kritischer als auch zustimmender christlicher Perspektive. In zugewandten christlichen Kreisen wird die Bewegung als Kontextualisierung (Glasser, Fuller Seminary; S. 35), Wiederentdeckung des Ursprungs (rediscovery) oder (Wieder-)Vereinigung des Körpers Christi (Hegstad, norwegischer Lutheraner; S. 37) gedeutet.

Herausstechende ungelöste Problemfelder bilden der jüdische Monotheismus versus der dogmatisch-biblischen Trinität (S. 49-50, 66-67 Maoz „personhafte Dreieinheit“), das Verständnis und die Stellung Jesu Christi in der Hebräischen Bibel sowie der jüdischen Tradition (z. B. Kinzer S. 47), die jüdisch-halachischen Essensvorschriften (koscher vs. treife) sowie zuletzt die Einhaltung des Sabbat und anderer jüdischer Feste (S. 188).

Maßstab für die Bandbreite der Wahrnehmung und Auslegung zu diesen Gebieten ist die Nähe zum oder die Ablehnung des jüdischen Kultus innerhalb der messianisch-jüdischen Gruppen. Harveys Verdienst ist es die acht Typen eruiert und miteinander in Beziehung gebracht zu haben. Im Hinblick auf die Diskussion um die Rückführung des jüdischen Volkes in den Schoß der Kirche hat die jüngste Verlautbarung der evangelischen Kirche zum Reformationsjahr (November 2016), unter Eindruck des lutherischen Antijudaismus, jede Beteiligung bei Bekehrungsversuchen an jüdischen Menschen abgelehnt. Es wird sich zeigen wie das messianische Judentum mit solchen Abgrenzungen umgehen wird.

Rezension: Melcher, Sarah J., Parsons, Mikeal C. & Yong, Amos 2017. The Bible and Disability; A Commentary.

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Dieser theologisch-missiologische Kommentar richtet sich an die kirchliche Praxis und die Diakonie. Hier gesellt sich zum Genre der Bibelkommentare ein weiterer fachdisziplinärer, welcher aus der Perspektive der Disability Studies auf die alt- und neutestamentlichen biblischen Bücher blickt. In zwölf Beiträgen beschreiben die dreizehn Autoren, wie die biblischen Texte aus der Sicht der Disability Studies zu rezipieren wären und welche Auswirkungen die Texte auf die Sicht der Kirche über Behinderung generell und Menschen mit körperlichen oder mentalen Einschränkungen haben kann.

In der Einleitung geht Sarah J. Melcher auf die Geschichte der Disability Studies im Kontext der Kirche und ihrer Auslegungsgeschichte der biblischen Texte ein. Die gängigen Werke zu Disability Studies aus den Bereichen Theologie (z. B. Eiesland 1994), medizinische Anthropologie (Avalos 1995 und 1999) und solche die Erfahrungswerte von behinderten Auslegern betreffen (z. B. Blindheit bei Hull 2001) werden umfangreich rezipiert.

Sie selbst nimmt sich der beiden Bücher Genesis und Exodus an. Der Frage der Imago Dei im Hinblick auf menschliche Behinderung widmet sie sich kurz. Das bestimmende, sich durch beide Bücher ziehende Thema, stellt die weibliche Unfruchtbarkeit dar. Diese „Behinderung“ ist zum Teil auch ein göttlicher Fluch (S. 29, 40; Gen 20:17-18). Ex 4:11 wird zum Schlüsselvers: Da sprach der HERR zu ihm: Wer hat dem Menschen den Mund gemacht? Oder wer macht stumm oder taub, sehend oder blind? Nicht ich, der HERR? Sie betont, dass dieser Passus zu verstehen gäbe, dass Behinderung entgegen der vorherigen Deutung in Genesis, weder Fluch noch Segen, sondern Gott-gegebener Bestandteil menschlicher Daseinsform sei (S. 50).

David Tabb Stewart bespricht Leviticus bis Deuteronomium. Leviticus nimmt sich der gesellschaftlichen Bandbreite der Hebräer an und bringt einzelne Behinderungen in den Blick. Das Buch Deuteronomium stellt für ihn die Idealisierung der „Abled“ [Nicht-Behinderte] dar, Leviticus die legale Richtschnur zum Ideal und Exodus die Hinführung zum Ideal (auf dem Weg; S. 85).

Jeremy Schipper, untersucht die historischen Bücher der „deuteronomistischen Geschichte folgend, von Josua, Richter, Samuel- und Königebücher. Josua und Ruth ragen für ihn dadurch heraus, dass auffälligerweise jeglicher Hinweis auf Behinderungen fehlt (S. 96-97). Altersbehinderung, Hautkrankheiten, prophetische Blendung (2 Kön 6:18-20) und Strafe für Diskriminierung von Behinderten (z. B. Elisa in Verse :23-24) durchziehen thematisch die Königebücher.

Kerry H. Wynn bespricht die „Schriften“. Dazu gehören beide Chroniken, Esra, Nehemia und Esther. Während Esther gar keinen Hinweis auf Behinderung aufweist, findet sich in Esra und Nehemia eine metaphorische Übertragung der Stadt Jerusalem, die als „behindert“ einzustufen ist. Chroniken, wie auch die Königebücher (siehe oben) enthalten vielerlei Hinweise auf Behinderung. Die herausragende Erzählung rund um Behinderung, nämlich die über den gelähmten Sohn Jonathans Mephi-Boschet fehlt in den Chroniken, da sie laut Wynn keine historisch-theologische Bedeutung habe (S. 124).

Sarah J. Melcher übernimmt Hiob, Sprüche und Prediger. Sprüche sind ihrer textkritischen Meinung nach ausschließlich von Abled verfasst (S. 163; Spr. 3:1-2). Die in Prediger beschriebenen Begrenzungen menschlicher Fähigkeiten bilden den gottgewollten Rahmen der Schöpfung ab (S. 166.). Hiob bietet für Disability Studies eine besondere Herausforderung, da Leiden, Behinderung und Krankheit dem göttlichen Mitwirken zugesprochen wird.

Jennifer Koosed bespricht die Psalmen, Klagelieder und das Hohelied. Im Buch der Psalmen werden die Schöpfung und der Schöpfer in den Zusammenhang von Vorhersehung und Theodizee gestellt. Dabei wird der Schöpfer sowohl mit einem gebrochenen Körper beschreiben, als auch idealtypisch in den Kontrast zu physisch gebrochenen Götzen gestellt. Bilder der Gebrochenheit über Stummheit, Gehörlosigkeit, Blindheit, Lähmung und Riechunfähigkeit sind zahllos.

Weitere Beiträge: J. Blake Couey Jesaja, Jeremia, Hesekiel, Daniel und Kleine Propheten. Candida R. Moss Markus, Matthäus. David F. Watson lukanische Werke. James Clark-Soles johannäische Literatur. Arthur J. Dewe und Anna C. Miller paulinische Literatur. Martin Albl Hebräerbrief, katholische Briefe.

Dieser Kommentar bietet vielfältige Hinweise auf die antike Sicht über behinderte Menschen. Er ist vielerorts kritisch in der Bewertung sprachlicher Konnotationen, die eine metaphorische Bedeutung im Hinblick auf Behinderung ausdrücken. Sensibel gehen die Kommentatoren mit Implikationen um, die sich aus den Texten ableiten lassen, aber nicht zwangsläufig gemeint sein müssen.

 

Disability Studies ; Bibel ; Bibelkommentar ; Kommentierung ; Hermeneutik ; Exegese

Rezension: Lukens-Bull, Ronald 2005. A Peaceful Jihad. Negotiating Identity and Modernity in Muslim Java

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Der Islam Indonesiens, Gegenstand dieser Studie bildet Java, bewegt sich in einer bunten Mischung aus Religionen, Volksgruppen und verschiedensten Interessen. Die von einem Außenstehenden (etisch) verfasste anthropologische Untersuchung beschreibt das Leben eines islamisch-geführten Internats (indonesisch pesantren) mit Namen Al-Hikam. Die Studenten der pesantren studieren an Colleges oder in säkularen Fächern an außenstehenden Institutionen und leben im Internat nach traditionellem indonesisch-islamischen Verständnis. Religiöse Erziehung wird in dieser pesantren vom Dekan und seinen engsten Vertrauten selbst gegeben. Zusätzlich können sich die Studenten für Arabisch, Englisch oder einige andere Fächer am Internat einschreiben. Der Dekan wird als Segensspender und religiöses Vorbild betrachtet.

Die Untersuchung besticht durch ihre ethnographischen Studien an Einzelthemen. Der Leser wird in das Umfeld eines islamischen Internats transportiert, zu dem ein Westler nur bedingt Zugang hat. Nicht nur die pesantren, sondern auch die mit ihr verknüpften Einrichtungen werden beschrieben. Hierzu zählen Friedhöfe, Pilgerstätten (Tebu Ireng, S. 28-29), Freizeiteinrichtungen und religiöse Zentren. Der historische Rückblick gibt Einblick in die Gründungszeit (19. Jh.) und die Entwicklung des Internats.

Es geht dem Autor wesentlich um die Auseinandersetzung des Islam mit der Moderne und Postmoderne. Dabei wird Bildung als das wesentliche Element der Veränderung und Erneuerung islamischen Lebens gewertet. Die Forderung nach einer interreligiösen, interkulturellen und mehrsprachigen Ausbildung im Rahmen des Islam steht stellvertretend für die angesprochenen Veränderungen (Kap 3-4). Die Einflüsse auf die pesantren kommen von außen und innen. Reichere islamische Staaten (z. B. Saudi Arabien, Iran) wollen über finanzielle Unterstützung Einfluss auf das Bildungsangebot und den Ablauf des Internats nehmen. Die Internatsleitung hält dagegen, dass die gleichzeitige Lehre von Arabisch und Englisch traditionelles mit modernem Leben verbindet. Studenten lernen theologisch-islamische Grundlagen am arabischen Qur’an und moderne Weltbilder parallel. Man öffnet sich auch im religiösen Bereich in dem man zum Beispiel Christentum und asiatische Religionen anhand derer Schriften (Bibel, Veden, Baghadvitta) studiert.

In einem weiteren Schritt untersucht der Autor verschiedenste Leitungsmodelle der pesantren (Kap 5). Dabei vergleicht er demokratische und diktatorische Modelle miteinander, die auch in politischen Parteien, öffentlichen Institutionen und halbstaatlichen Organisationen wieder zu finden sind. Das Leitungs- und Sozialgefüge in den pesantren zeichnet sich durch die Verehrung von Individuen, strengen moralischen Standards und einem einfachen Lebensstil aus. Dabei werden kulturelle Werte angesprochen, die der Ausbreitung und inneren Stärkung (jihad) des Islam zugutekommen (Kap 6).

Dieses ethnographische Werk gibt Anthropologen und Missiologen einen guten Einblick in die islamische Welt Indonesiens. Im Besonderen klärt es über islamische Bildungseinrichtungen und deren Leitungsstrukturen auf.

 

Indonesien ; pesantren ; Islamische Schule ; Religionsunterricht ; Islam ; interreligiöse Studien ; Dschihad

Rezension: Eurich, Johannes & Lob–Hüdepohl, Andreas 2014. Behinderung – Profile inklusiver Theologie, Diakonie und Kirche

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Die ökumenische Reihe Behinderung–Theologie–Kirche, wie sie von dem protestantischen Professor Johannes Eurich (Diakoniewissenschaftliches Institut Heidelberg) und dem römisch–katholischen Professor Andreas Lob–Hüdepohl (Katholische Hochschule für Sozialwesen Berlin) herausgegeben wird, ist im Moment die umfangreichste zum Thema Disability Studies im deutschsprachigen Raum. In 21 Beiträgen, aus den Bereichen Sonderpädagogik, Behindertenseelsorge, Ethik, Diakonie und Kirchenrecht, wird der kirchliche Kontext zur Inklusion von Menschen mit körperlichen oder mentalen Einschränkungen besprochen. Ausgangspunkt bilden die Veröffentlichungen des Ökumenischen Rats der Kirchen „Kirche aller. Eine vorläufige Erklärung“ (2004) und der katholischen Bischöfe Deutschlands unter dem Leitwort „unBehindert Leben und Glauben teilen“ (2003), die sich rund um das Europäische Jahr der Menschen mit Behinderungen ergaben (2003). Im Vorwort wird der kirchlich-theologische Leitgedanke deutlich, namentlich Menschen mit Behinderungen, die bislang eher als Objekte, über die geredet wird, nunmehr als Subjekte ihres eigenen Glaubenszeugnisses wahrzunehmen (S. 9).

Interessant sind die verschiedenen auch kritischen Perspektiven zur Inklusion, die hier eingenommen werden, sowie Themen die selbst–reflektiert und des Nachdenkens wert sind. Hierzu gehört das am körperlichen Defizit orientierte katholische Kirchenrecht bezüglich des Weiheamtes oder als Amtsträger der Kirche, das Abendmahl als Ort des Ungebrochen-Seins, Behinderung und Sexualität als Tabuthema sowie Behinderung und das Altwerden.

Ottmar Fuchs deutet Inklusion als theologische Leitkategorie (S. 12–36). Er kritisiert das exkludierende schwarz-weiß Bild „fundamentalistischer“ Kreise und deren Stigmatisierungsversuche um die Fronten aufrecht zu erhalten (S. 19, 26). Er definiert den Mitleidsbegriff auf zweierlei Ebenen. Zum einen kann ‚Mitleid‘ durch eine natürliche Abwehrhaltung aufgrund peinlicher Ergriffenheit motiviert sein, zum anderen ist es aber auch das schöpferische Mit-Leiden, dass über sich hinaus wächst und tätig wird (S. 22). Hieraus leitet Fuchs seine Definition von Barmherzigkeit als unterbrechenden Mitschmerz ab, den er als tragfähig genug betrachtet, um das am behinderten Menschen als defizitär Gedeutete zu überbrücken (S. 26-28). Kritisch betrachtet er die allgemeine unkritische Zustimmung zur Inklusion, ohne die Betroffenen selbst einzubinden (Kosten, Abbau staatlicher und privater Träger usw.). Ein Thema, das auch Thomas Günther aufgreift (S. 92–94).

Das römisch katholische Kirchenrecht wird bei Ottmar Fuchs kritisiert (S. 27–28), wie auch bei Thomas Schüller (S. 178–186), insbesondere dessen Umgang mit behinderten Theologen/Innen, was sich in der Kirche widerspiegelt. Eine ähnlich kritische Betrachtung zum evangelischen Pfarrdienstrecht findet sich bei Thomas Jakubowski. Es handelt sich um ein dem katholischen Kirchenrecht ähnliches, welches auf dem patriarchalischen auf staatliche Fürsorge aufbauenden Beamtenrecht aufbaut und dem Adressatenkreis eine Sonderstellung einräumt. In solchen rechtlichen Konstellationen fallen behinderte Menschen aufgrund ihrer Bedürfnisse aus Kostengründen als ‚Nutznießer‘ oder ‚Edel–Behinderte‘ verschrien, aufgrund ihres Anders–Seins durchs Raster.

Die Leidens- oder Theodizee-Frage wird gleich von mehreren Autoren besprochen. Johannes von Lüpke sucht im ‚Armen‘ und ‚Bedürftigen‘ Anknüpfungspunkte. Die Evangelien drehen sich seiner Meinung nach um diesen Personenkreis. Sie knüpfen damit an die, in der Hebräischen Bibel vorgegebenen Anleitung (Torah) zum Ausgleich sozialer Ungerechtigkeit, wie sie an den ‚Armen und Witwen‘ versinnbildlicht wird. In diesem Sinne kann er von der Göttlichkeit behinderter Personen sprechen (S. 37–40). Thomas Günter betrachtet den Schöpfungs–Diskurs der Genesis kritisch. Anstelle der ‚guten Schöpfung‘ findet er die immanente göttliche ‚Abwehr‘ und ‚Beseitigung‘ ungewollter Zustände als Norm. Zum Beispiel wird Chaos Ordnung, dunkelste Nacht wird lichter Tag und der Mensch ist allein als tragischer Zustand. Diese Nachsteuerung Gottes zieht sich durch die Bibel und endet allein in der Selbstbegrenzung Gottes. Es ist Gott selbst, der sich in diesem Nachsteuern finden lässt. Darin hebt sich die unüberbrückbare Kluft zwischen den menschlichen Seins-Zuständen auf (S. 75). Manfred Oeming befasst sich mit dem Tun–Ergehen Zusammenhang (TEZ) der Heiligen Schrift. Er arbeitet in der Auslegung eine „Kurzzeit–Vergeltung“ heraus, diese verkürzt Wahrheiten und sucht Schuldige. Er definiert den TEZ deshalb als Faustregel, die auch Ausnahmen zulasse (S. 116). Markus Schiefer–Ferrari geht auf die Theologie des Bruches im Hinblick auf das Brechen des Brotes und das Gebrochen-Sein des Leibes Christi ein. Dabei lehnt er zwar den durch John Hull, der eine Beeinträchtigung des Sehsinnes hatte, eingeführten exegetischen Befund ab, findet aber im ‚Bild des Abendmahles‘ einen inklusiven Ansatz. Dabei wird nicht der Gemeinschaftsaspekt des Mahls, sondern eben die Unterschiedlichkeit der Akteure zum Ab– und Ausdruck inklusiver christlicher Vielfalt (S. 142).

Zum Thema Behinderung und Sexualität finden sich zwei Beiträge. Einer davon bei Andreas Lob–Hüdepohl (S. 154–166) und einer von Thorsten Hinz und Joachim Walter (S. 284–286). Die UN-Konvention zur Rechten behinderter Menschen stellt den sexuellen Bereich als besonders schutzbedürftig heraus. Übergriffe an schwächeren, insbesondere auf Betreuung angewiesene Frauen ist nichts Neues. Im Hinblick auf Menschen mit körperlichen oder mentalen Einschränkungen wird hierbei eine besondere Schutzbedürftigkeit und auch Anwendung gefordert. Wie soll ein rundum Assistierter Sexualität leben? Wie kann aktive oder passive Sexualassistenz aussehen ohne als Prostitution zu enden? Wie kann eine Kirche, die sich während des Dritten Reiches für sexuelle Eugenik (Sterilisation, Abtreibung) aussprach, glaubhaft auf diesem Gebiet Hilfe anbieten (S. 162)?

Die weiteren Beiträge besprechen kirchliche, inklusive Leitbilder zur Gestaltung der Kirche in Vielfalt (Sabine Schäper, Wolfhard Schweiker, Johannes Eurich, Cornelia Coenen-Marx), aber auch Einzelprojekten (Bettina Kiesbye und Inge Ostertag, Jochen Straub, Kyra Seufert und Gerd Frey-Seufert). Brigitte Hubers kurze Reflexion der im Eingangsabschnitt oben erwähnten neuen Kirchendokumente ist erwähnenswert (S. 244–247), da deren Einfluss auf die kirchliche Praxis noch nicht absehbar ist.

Es ist nicht ganz eindeutig, nach welchen Kriterien diese Kompilation stattfand oder welche Zielgruppe anvisiert war. Nichtsdestotrotz bilden die Beiträge Hinweise auf Forschungsgebiete der Disability Studies, insbesondere im Hinblick auf die Diakonie als Innere Mission der Kirche. Hierbei ist neben einer Bandbreite an Projekten auch die theologisch-hermeneutische Aufarbeitung der Inklusion als Leitbild hilfreich dargestellt worden.

Rezension: Krauß, Anne 2014. Barrierefreie Theologie: Das Werk Ulrich Bachs vorgestellt und weitergedacht

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Anne Krauß ist evangelisch-lutherische Pfarrerin und Krankenhausseelsorgerin in Bayern. Sie spricht aus eigener Lebenserfahrung bedingt durch eine Beeinträchtigung des Hörsinnes, wenn sie das Wirken von Ulrich Bach (1931–2009) reflektiert, einem durch Polio auf Assistenz angewiesenen evangelischen Theologen. Bachs Theologie nach Hadamar (Neukirchen, 2006), in Anlehnung an eine Theologie nach Ausschwitz (dem jüdischen Holocaust), bildet den Grundstein seines hermeneutischen, befreiungsideologischen Ansatzes. Die Studie von Krauß erscheint in der Reihe Behinderung-Theologie-Kirche, die von Johannes Eurich (Diakoniewissenschaftliches Institut Heidelberg) und Andreas Lob-Hüdepohl (Katholische Hochschule für Sozialwesen Berlin) herausgegeben wird.

Im Eingangskapitel umschreibt Krauß das Themengebiet Disability Studies, wie es sich vor allem im deutschsprachigen Raum entwickelte und gegenwärtig darstellt. Die Themenkomplexe Krankheit, Gesundheit, Schmerz, Leid und die Frage der sozialen Identität innerhalb dieser Grundzustände menschlichen Daseins umreißen die Bandbreite der Überlegungen. Von der Theodizee-Frage weg, blickt sie auf die rechtlichen Rahmenbedingungen, die eine inklusive Theologie bewegen. Dabei bilden die Definitionen der Weltgesundheitsorganisation (disability, illness, disease) und die UN-Konvention über die Rechte von Behinderten (2006, ratifiziert von Deutschland in 2009) die Grundlage ihres Verständnisses. Bach selbst hat dazu unermüdlich seit 1973 bis zuletzt in 2006 (s. o.) publiziert. Anfänglich lag sein Schwerpunkt auf dem diakonischen Teil der Disability Studies, bedingt durch seine Arbeit in der Evangelischen Stiftung und der Diakonieanstalt Martineum. Später mischt er sich in die kontrovers geführte Debatte um den sogenannten „Abtreibungsparagraphen“ (§218 StGB Schwangerschaftsabbruch) ein. In seiner Zeit wird auch der Präferenz-Utilitarismus des australischen Ethik-Philosophen Singer intensiv besprochen (s. Practical Etics 1979). Bach wendet sich vehement gegen eine rational-utilitaristische Sicht, wie er auch den seiner Meinung nach ungerechtfertigten Abbruch einer Schwangerschaft bei Verdacht einer Behinderung ablehnt, da es die Isolation und Aussonderung von Menschen mit körperlichen oder mentalen Beeinträchtigungen voran treibt.

Im zweiten Kapitel wird die hermeneutische Grundlage einer Theologie nach Hadamar besprochen. Dies geschieht in Anlehnung an die Vernichtung behinderter Menschen im Dritten Reich. Insbesondere die systematisch geplante „rassenreinigende“ Aktion T4, geplant in der Tiergartenstrasse 4 in Berlin, und ausgeführt in Hadamar (Hessen) Grafeneck (Baden-Württemberg), Hartstein (Linz; Österreich), Bernburg (Sachsen Anhalt), Sonnenstein (Pirma), Brandenburg (Saale). Bach legt aus hermeneutischer Sicht eine Theologie des Kreuzes als göttlicher Ausdruck der „Schwachheit“ und Identifikation mit den Schwachen und den als anders Empfundenen zugrunde (S. 63-97). Sein kontextueller Ansatz lehnt sich an den befreiungstheologischen Idealismus jener postmodernen Tage (1970-2000) an und ruft zur Neuorientierung der Kirche im Umgang mit Menschen mit körperlichen und mentalen Einschränkungen auf. Schöpfungsbedingt steht bei ihm ausnahmslos jeder Mensch Gott nahe. Das Böse demonstriert sich nicht am behinderten oder kranken Menschen, sondern in der Ablehnung Gottes. Eine Profilierung durch Krankheit oder Behinderung („Gott will diese Menschen testen“) widerspricht dem Seins-Zustand eines Betroffenen („Ich bin wie ich bin“). Bach geht hierbei radikal weit, indem er eine „Euthanasie-Mentalität“ oder einen „theologischen Sozial-Rassismus“ unterstellt, wenn auf die theologisch bedeutsame Unterscheidung zwischen gesunden und kranken Menschen hingewiesen oder daran festgehalten wird. Seiner Meinung nach ist dies die Ursache unsäglicher, schädlicher Auswirkungen. Euthanasie, Behinderten-Feindlichkeit (ableism), eine hierarchisierende Imago-Dei Lehre und ein Tun-Ergehen Zusammenhang führen Menschen mit körperlichen oder mentalen Beeinträchtigungen ins Abseits (Exklusion statt Inklusion), wenn nicht gar ins Aus (Euthanasie).

Im dritten Kapitel bespricht Krauß Bachs Sicht von Heil und Heilung. Dabei widerspricht Bach der Ansicht eines Heilungsauftrags an die Kirche. Für ihn besteht nur ein Predigtauftrag. „Eine Kirche die einen Heilungsauftrag behauptet, den sie nicht hat, gefährdet den Predigtauftrag, den sie hat“ (S. 126). Krauß verwendet einen erheblichen Teil darauf, Bach an diesem Punkt zu widersprechen. Ihrer Meinung nach ist die Sehnsucht nach Heilung und einer „heilen“ Welt Grundlage der Theologie (S. 134-137). „Ohne Heilung kein Heil“, wobei es keine Verfügbarkeit des Heils gibt und sozusagen im Trüben gefischt wird, wenn Heilung beansprucht wird (S. 131). Dies sind die Grenzen der Theologie und Medizin. Die Vorstellungen von Heil, die auf die Prämissen Gesundheit, Leistungsfähigkeit, Vollkommenheit und Perfektion (kritisch dazu Henning Luther S. 144) aufbauen, sind nach Krauß’ Interpretationen von Bach genauso abzulehnen, wie eine Leidensmystik (Hiobsgestalt bei Schleiermacher; S. 140) oder ein Martyrium im Schatten des Kreuzes (Barth; S. 141), wie es in den Theologien Schleiermachers und Barths als Nacht- und Schattenseite der Schöpfung aufgeführt wird.

Im vierten Kapitel arbeitet Krauß noch einmal Bachs Ansatz auf. Dabei reflektiert sie dessen Ansatz nach einer „barrierefreien Theologie“ (s. Titel). Im Gegensatz zu den oben genannten Idealvorstellungen menschlichen Daseins sollten Daseins-Einschränkung und Angewiesen-Sein hervorgehoben werden. Beide Kategorien spiegeln die eigentliche Normalität und Interdependenz von Menschen wider. Barrierefreie Theologie in diesem Sinne geht historisch-gedanklich den modernen Inklusionsgedanken voran. Krauß geht des Weiteren im Hinblick auf Wunder- und Heilungsgeschichten auf die römisch-katholische Theologin Dorothee Wilhelm (biblische Geschichten sprächen nur von Normalisierung und Anpassung; S. 175), Ulrike Metternich (Dynamis- und nicht Wundergeschichten; S. 176), Andreas Lob-Hüdepohl (s. o. Wundererzählungen sind Beziehungsgeschichten; S. 180), die amerikanische Theologin Kathy Black (Theology of Interdependence; S. 181) ein. Sie führt als Beispiele barrierefreier Theologie die Ansätze von Andrea Bieler/Hans-Martin Gutmann (Theorie der Überflüssigen; S. 200), Henning Luther (s. o. diakonische Seelsorge als kirchliches Paradigma; S. 202), Ulf Liedke (Inklusive Anthropologie; S. 204) und Nancy Eiesland (the disabled God; S. 206) auf.

Mit einer Theologie des Imperfekten schließt Krauß ab und lässt so die Tür offen für weitere Ansätze, um den Phänomenen der Aussonderung, Diskriminierung und Othering von Menschen mit körperlichen und mentalen Einschränkungen zu begegnen. Die kritische Forschung am Wirken Ulrich Bachs ist eine Quelle des Ringens, vor allem in den Landeskirchen, um Teilhabe, Integration und Inklusion von Menschen mit Behinderungen. Gleichzeitig ist der angeregte und andauernde Diskurs eine Herausforderung an die Akteure aufeinander zu zugehen und miteinander die Vielfalt des Leibes Christi zu repräsentieren.

 

Disability Studies ; Behinderung und Bibel ; Behinderung und Kirche ; Hebräische Bibel ; Behinderungstheologie ; Hermeneutik ; Hadamar ; Theodizee

Rezension: Danys, Miroslav 2016. Diakonie im Herzen Europas: Ursprünge, Entwicklungen und aktuelle Herausforderungen in West & Ost, neu betrachtet aus Anlass des Reformationsjubiläums

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Miroslav Danys (Pfarrer; Osteuropabeauftragter der Lippischen Landeskirche) wird als missiologischer Brückenbauer zwischen Ost und West beschrieben (Zitat auf der Umschlagseite). Er ist ein Kenner des Kommunismus und Beobachter der Entwicklungen nach der politischen Wende der neunziger Jahre. Danys sieht die Zukunft der Diakonie in einem gut vernetzten Europa. Nur mit der Hilfe der Kirche ist eine solche, alle Menschen achtende, soziale Einrichtung aufrecht zu erhalten.

Seine Heimat ist das Teschener Land mit der gleichnamigen Stadt (Cieszyn), welche er in Mitteleuropa verortet. Dieses liegt im heutigen Polen an der Grenze zu Tschechien. Der Schwerpunkt der Forschung liegt auf der kirchlich-gemeindlichen Diakonie, sowohl vor, während als nach dem politischen Umschwung. Dabei hat er vornehmlich die DDR, den ihm bekannten Teil Polens und Tschechien im Blick. Der politische Wille und der Zeitgeist stehen dabei in enger Beziehung zu den Entfaltungsmöglichkeiten kirchlich-gemeindlicher Diakonie.

Danys beginnt mit einem Rückblick. Er schaut auf die Person Lorenzo Vallas (15. Jh.), der nach Ansicht Danys die reformatorische Sozialarbeit im ausgehenden Mittelalter begründete. Vorbereitet wurde dessen Werk durch die Ultramontaner, zu denen auch Jünger des Petrus Valdes, dem Begründer der Waldenser gehörten. Ab dem 11.-12. Jhdt. führte die mittelalterliche Epoche der „Früh-Industrialisierung“, zur Unterschicht der Lohn-Arbeiter. Deren Spezialisierung führte zwar zu einer höheren Produktivität im Rahmen des aufkommenden Frühkapitalismus zwang diese Bevölkerungsschicht aber auch oftmals in die Armut und damit in die soziale Abhängigkeit. Dem steuerte die kirchlich-gemeindliche Diakonie entgegen. Initiiert von Privatpersonen oder kirchlichen Institutionen bildet das Vorbild des Martyriums Jesu die praktische und theologische Grundlage des Sozialen Dienstes am Nächsten (S. 8).

Danys Blick richtet sich nun auf das Gebiet des heutigen Polen. Es wurde ab dem 17. Jhdt. ein Siedlungsgebiet deutscher Migranten aus dem Westen und jüdischer Pogromflüchtigen aus dem Osten (Russland). Die Deutsch-Migranten brachten protestantisches Denken, die Bibel und ihre liturgischen Hilfsmittel mit. Am Beispiel des Edmund Holtz beschreibt er den Aufbau der evangelisch-lutherischen Diakonissen-Mutterhaus-Bewegung, welche sich aus einem Heim für Personen mit Epilepsie entwickelte und von Holtz in Lódź etabliert wurde (S. 14). Auch im estnisch-lettischen Baltikum konnte die lutherische Kirche ähnliche diakonische Strukturen entwickeln.

Exemplarisch stellt er den nächsten geschichtlichen Strang diakonischer Arbeit in Polen am evangelischen Seuchenhaus, heute Krankenhaus, in Warschau dar. Gegründet 1736 auf einem Friedhof für Dissidenten, wurde es zur Pflegeeinrichtung protestantischer Kranker oder Verletzter. Nach dem ersten Weltkrieg öffnete es die Tore für alle Hilfesuchenden und wurde weithin bekannt (S. 17-19). Im zweiten Weltkrieg grenzte es an das Warschauer Ghetto und diente einigen wenigen jüdischen Ghettoflüchtigen als Anlaufstelle. Es wurde 1944 völlig zerstört (S. 21).

Im Kommunismus wurde jedwede öffentliche Diakonie im Keim erstickt, da sich der Staat als die alle(s) versorgende Einheit verstand. Kirchlich-gemeindliche Diakonie verlagerte sich auf innerkirchliche Dienstleistung an Bedürftigen. Doch waren die Spielräume in den unterschiedlichen staatlichen Gebilden verschieden, wie die Beispiele, DDR, ČSR, Slowakei, Polen, Ungarn und das Baltikum lehren.

In Tschechien gelangte die kleine achtköpfige Diakonissenarbeit zu Beginn des 19. Jhdt. zu Ruhm, da ihre voll ausgebildeten Pfleger im Ersten Weltkrieg vielen verwundeten Kriegsopfern als einer der wenigen Institutionen helfen konnten (S. 63-64).

Nach Danys stieß die kommunistische Partei in der ČSR auf besonders offene Ohren, was die kirchliche Diakonie lahmlegte. Privatbesitz wurde fast völlig verboten, die Diakonie und die Kirchen wurden verstaatlicht und damit vom ideologischen Feind betrieben und bezahlt (S. 66). Eine Studie von Vlastimil Jaša aus dem Jahr 1956 beschreibt die damit einhergehenden ungelösten staatlichen Probleme in der Kinder- und Jugendpflege, der Prostitution, dem Kampf gegen den Alkoholismus, dem Problem der Scheidungen, der Schwangerschaftsabbrüche, der Kinderlosigkeit und Ein-Kind-Ehen und des Suizid bzw. Freitod. Themen, die in der kommunistischen Öffentlichkeit verschwiegen wurden. Diese Missstände aufgreifend wurde nach der Wende die Diakonie ganz in die Hände der Evangelischen Kirche der Böhmischen Brüder (EKBB) übergeben (S. 74). Der Diakonissenstand hatte sich aufgelöst. Die Arbeit richtet sich nun auf Altenheime, den Dienst an Menschen mit körperlichen oder mentalen Einschränkungen und therapeutischen Hilfen (S. 75). Die kirchlich-gemeindliche Diakonie wurde nun als Wirtschaftsunternehmen im sozialen Bereich verstanden. Um die ethischen Aspekte der Fürsorge und der Dienst- und Opferbereitschaft wieder hervorzuheben wurde die Diakonie 1999 unter eine diesbezüglich fordernde Satzung gestellt.

Im Teschener Land (Polen) hingegen hat der Pietismus zu einer Staatshörigkeit und gleichzeitigem Dissidententum geführt (S. 85). Kulisz gründete dort im Jahre 1907 eine Anstalt mit Namen „Bethesda“ (S. 89). Die kirchlich-gemeindliche Diakonie wurde zum Ausdruck des geistlichen Lebens in der ganzen Region.

In der DDR, Polen und Ungarn war die Diakonie eng mit kirchlichen Strukturen verknüpft, welche wiederum auf westliche Kontakte und Zahlungen blicken konnten. Augenscheinlich waren diese Beziehungen Grundlage besserer medizinisch-pflegerischer Versorgung, als in anderen Staaten. Gerade die DDR profitierte von diesen Strukturen besonders, indem ausländisches Kapital zur Versorgung eingesetzt wurde.

Nach der Wende wurde die finanzielle Notlage der sozialistischen Länder besonders für Personen mit körperlichen oder mentalen Einschränkungen kritisch. Die kirchlichen und gemeindlichen Strukturen in den besprochenen Ländern konnten diese Notlage, auch mit westlicher personeller und finanzieller Hilfe aufgreifen und eigene diakonische Strukturen entwickeln.

Danys gibt einen exzellenten Rück- und Überblick über die Entwicklung der Diakonie in Mitteleuropa. Gerade im Hinblick auf die missiologische Seite des Gemeindebaus, der Disability Studies und dem kirchlich-gemeindlichen Umgang mit den „Anderen“ (otherness) in Zeiten des Umbruchs bieten seine Ausführungen hilfreiche Einsichten.

 

Diakonie ; Disability Studies ; Behinderung ; behinderte Menschen ; kirchliche soziale Dienste ; Polen ; Tschechoslowakei