Rezension: Rynkiewich, Michael A. 2011. Soul, Self, and Society

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Prof. Michael Rynkiewich ist am Asbury Theological Seminar und der E. Stanley Jones School of Mission and Evangelism als Anthropologe tätig. Seine wissenschaftlichen anthropologische Tätigkeiten im Rahmen der Christlichen Entwicklungshilfe reichen weit zurück in die 1970er Jahre.

Rynkiewich verarbeitet in dieser Publikation seine Beobachtungen über die Anwendung der Anthropologie als Hilfsdisziplin der Missiologie. Er arbeitet sich langsam durch einen Überblick der Anthropologie, bevor er sich an eine „christliche Anthropologie“ wagt (Kapitel 13; S. 243-250). Seine Bewertung ist selbstkritisch und reflektiert den gegenwärtigen Stand anthropologischer (im deutschsprachigen Raum: Ethnologie) Forschung in der Missiologie. Seiner Meinung nach tut sich eine tiefe Kluft auf im Hinblick auf die wissenschaftliche Disziplin der Anthropologie und der Anwendung der Hilfsdisziplin Anthropologie im Rahmen der Missiologie. Doch dazu später. Wie es dazu kam und welche Auswege es gibt bindet er in einen historischen Rück- und kurzen Überblick über die Anthropologie ein.

In seiner Einleitung (Kapitel 1; Anthropologie, Theologie und Missiologie) beschreibt Rynkiewich das Leben eines Arbeiters namens Lakan aus Papua Neuguinea und dessen ökonomische Migration. Im Verlauf des Narrativs wird deutlich, das Lakan, wie die meisten modernen Menschen, Mitglied vieler unterschiedlicher sozialer Netzwerke ist. Hinsichtlich dieser Entwicklungen relativieren sich die Begriffe Kultur, „Mutter“-sprache, Diaspora und Religion im anthropologischen Kontext. In dem, was Rynkiewich als das „Standardmodell der Anthropologie“ in der Missiologie bezeichnet, werden die oben genannten Begriffe als statisch angenommen (S. 65). Dies entspricht dem anthropologischen Stand der 1950-1960er Jahre, seither hat sich jedoch die Menschheit aufgrund von Migration, Diaspora, Transnationalismus, Urbanisierung und Globalisierung erheblich verändert. Mit der Veränderung der menschlichen Gesellschaften hat sich auch die anthropologische Forschung entwickelt. Diese Entwicklung fand aber nicht Eingang in die Missiologie. Vielmehr bleib man dort am statischen Bild der Familie, der Individual- versus Kollektivgesellschaft und des Volkes als homogene Einheit (gemeinsamer Ursprung, gemeinsame Sprache, Heimatland) hängen.

In 12 Kapiteln arbeitet sich Rynkiewich durch die Gebiete Kultur, Ethnozentrismus und Kontextualisierung (Kapitel 2; S. 11-44); Sprache, Symbole und interkulturelle Kommunikation (Kapitel 3; S. 45-63); das Selbst, Gesellschaft und Verhalten (Kapitel 4; S. 64-77); Heirat, Familie und Verwandtschaft (Kapitel 5; S. 78-99); Ökonomie, Entwicklung und Mission (Kapitel 6; S. 100-120); Politik, Macht und Gesetz (Kapitel 7; S. 121-133); Religion, Glaube und Ritual (Kapitel 8; S. 134-154); Kasten, Klassen und Ethnizität (Kapitel 9; S. 155-168); Kolonialismus, Neokolonialismus und Postkolonialismus (Kapitel 10; 169-197); Migration, Diaspora und Transnationalismus (Kapitel 11; S. 198-213); Urbanisierung und Globalisierung (Kapitel 12; S. 214-242); und eine christliche Anthropologie (Kapitel 13; S. 243 – 250). Mit diesem Aufriss begibt sich Rynkiewich auf eine Reise durch die Geschichte der noch jungen wissenschaftlichen Disziplin Anthropologie.

Kapitel 2 beginnt mit dem Selbstverständnis einer Gesellschaft und wie sie sich als „Kultur“ nach außen spiegelt. In der Ethnographie (ethnography) werden Kulturen nach außen beschrieben, in der ethnology (vergleichende Anthropologie; nicht zu verwechseln mit dem dt. Begriff Ethnologie) werden sie miteinander verglichen. Im Verlaufe der Entwicklungen der Kulturbeschreibungen (Ethnografien) hat sich ein „Kulturrelativismus“ gebildet. Dieser geht davon aus, dass eine „Kultur“ einzigartig, abgrenzbar und in sich homogen wäre (S. 27). Grundlage solcher Annahme bildet der Ethnozentrismus. Solches Denken führte in seiner Konsequenz in den Rassismus und die rassenideologische Ausprägung anthropologischer Denkarten. Daraus resultierte, dass Teile der Anthropologie mit den rassenideologischen Begleiterscheinungen beider Weltkriege in eine Sackgasse gerieten. An dieser Stelle schiebt Rynkiewich einen etwas abwegigen Abschnitt über „Kulturschock“ ein, der die Herausforderungen des Anthropologen und Missiologen in fremder Umgebung beschreibt. Danach untersucht er das Verhältnis von biblischer Nachricht (Evangelium) zur „Kultur“ im Rahmen der Kontextualisierung (Niebuhr, Carson, Menuge, Yoder). Kontextualisierung setzt er in Kontrast zu Ethnozentrismus. Sein Resultat, die Botschaft muss zu den Menschen in ihrem Kontext gebracht werden, das heißt der eigene Ethnozentrismus zugunsten einer Enkulturation der Botschaft durchbrochen werden. Die Inkarnation Gottes in der Person Jesus von Nazareth ist ihm dabei theologische Basis. Leider erklärt er diese These nicht näher, was missiologisch sehr zu begrüßen wäre (S. 41).

Im dritten Kapitel gibt Rynkiewich eine Übersicht zur Sprachwissenschaft in der Anthropologie und Missiologie. Wichtigste Erkenntnis ist, das immer schneller voranschreitende Sprachsterben von Sprachen, welche dominanten National- und Verkehrssprachen ausgesetzt sind. Ansonsten handelt es sich um eine allgemeine Übersicht zu den Disziplinen der Sprachwissenschaft und ihrer Bedeutung für die interkulturelle Kommunikation [dies hätte er besser getrennt untersucht. EW.).

Im vierten Kapitel löst Rynkiewich dann das statische Verständnis von Kultur im Rahmen des Deconstructuralism auf (S. 65). Er zeigt anhand der unterschiedlichen und vielfältigen Rollen und des damit verbundenen Status, den ein Individuum in verschiedenen sozialen Kontexten inne hält, dass „Kultur“ ein Produkt menschlicher Enkulturation ist. Das Konstrukt „Kultur“ ist ein relativer und nicht fixierbarer Begriff, noch weniger sind „Kulturen“ miteinander vergleichbar. In gleicher Weise negiert er auch die Unterscheidung einer kulturellen Orientierung an Ehre und Scham oder Sünde und Schuld, wie sie von Ruth Fulton Benedict (1946) eingeführt wurde. Nichtsdestotrotz nutzt er das Bild der „Theorie zum Gesicht“ (S. 74; auch „Name“) und beschreibt es in den von ihm kritisierten Kategorien (!). Er empfiehlt deshalb in seiner Zusammenfassung (S. 77), dass eine Gesellschaftsbeschreibung aus kultureller, sozialer, ökologischer, und historischer Perspektive erstellt werden sollte.

Im fünften Kapitel zur Ehe, Familie und Verwandtschaft beschreibt Rynkiewich weltweit verschiedenste familiäre und verwandtschaftliche Systeme die ausgiebig studiert wurden (Irokesen, Hawaiianer, Marshallesen, Amerikaner). Der Polygamie, als Polygynie (Mann – mehrere Frauen) und Polyandrie (Frau – mehrere Männer) widmet er sich im Hinblick auf die Kirche in den Kontexten, in denen nur wenige Männer zugänglich sind und da wo Frauen unterdrückt werden. Er kommt zu dem Schluss dass die Kirche unterschiedliche Strategien entwickelt hat mit dieser Form menschlichen Zusammenlebens umzugehen. Die Motivation für die Kirche ist dabei rein praktisch bedingt. Eine theologische Verteidigung einer monogamen heterosexuellen Beziehung sieht er im westlichen Kulturkontext verankert und angesichts der vielfältigen unterschiedlichen Gesellschaftssysteme nicht als allgemein gültiges Postulat (S. 95-97).

An dieser Stelle widmen wir uns aus Platzgründen des siebten Kapitels zur Politik. In diesem Kapitel wird besonders der normale zeitgeistliche Einfluss in der Anthropologie deutlich. Das Zusammenspiel von Gesetz und Politik wird meist unter dem unzureichenden Gesichts­punkt der besser oder weniger entwickelten „öffentlichen Institutionen“ behandelt (S. 129). Jede Gesellschaft besitzt jedoch wirksame Systeme um Disput und Konflikt zu regeln und so­mit die innere und äußere Ordnung zu garantieren (Hoebel). Diese Institutionen und ihr Miteinander sollten Gegenstand der Kontextualisierung sein, wenn in der Christlichen Entwicklungs­hilfe biblische Rechtssysteme in einen neuen kulturellen Kontext eingeführt werden (S. 130). Zudem ist dieser Vorgang in sich zutiefst politisch und muss auch von der Kirche als solcher angesehen werden.

Im zehnten Kapitel über Kolonialismus, Neo- und Postkolonialismus weist Rynkiewich auf die enge und unauflösbare Verzahnung von Anthropologie und Missiologie als kolonialistischer Aktivität in Historie und Gegenwart hin (S. 169). Ob man mit ihm so weit gehen möchte und den westlichen Schöpfungsnarrativ – die Suche nach Eden und das gelobte Land – als Ursache des Kolonialismus annehmen möchte, bleibt zu hinterfragen. Er macht jedoch deutlich, dass sich die christlich-biblische Hermeneutik über die Jahrhunderte hinweg durchaus flexibel auf die Rechtfertigung des Kolonialismus einließ (S. 186-188). Politische und kirchliche Interessen lassen sich im Rückblick kaum trennen. Ein kenotischer (Kenosis = Selbstentleerung) Ansatz scheint ihm ein Mittel aus dem Dilemma zu sein (S. 197). Wie eingangs schon erwähnt, wird aufgrund der Verstädterung der Menschheit, der Globalisierung aufgrund der anschwellenden Mobilität und dem damit einhergehender zunehmenden Normalfall der „Diaspora“ manches fraglich. Ob Menschen nun innerstaatlich oder weltweit migrieren (wer lebt denn noch in seiner „Heimat“), „Diaspora“ beschreibt nunmehr den Menschen außerhalb seiner angestammten „Heimat“. Ein statisches Verständnis von „Kultur“, „Muttersprache“, dem Individuum als „Person“ und sogar der Objektivität in der Wissenschaft der Anthropologie ist heute nicht mehr haltbar. Vielmehr treten intersubjektive und dekonstruktive Merkmale bei der Gesellschaftsbeschreibung in den Vordergrund. Zuerst muss die eigene Subjektivität benannt, dann der Gegenstand der Untersuchung dekonstruiert und dann wieder im Hinblick auf die anthropologische Beschreibung konstruiert werden (Derrida).

Abschließend sei gesagt, die hier angerissene Kritik am Missbrauch der Anthropologie im Rahmen der Missiologie sind sehr zentral aber nicht neu. Es wiegt schwer, dass sich die Missiologie hier entgegen besseren Wissens nicht bewegt und ihre statische Sicht auflöst. Rynkiewich hat in diesem kurzen Abriss zum Miteinander der Anthropologie und Missiologie Probleme angerissen, jedoch meines Erachtens keine alternativen Methoden aufgezeigt, die dem Missiologen ermöglichen nun anthropologisch zu arbeiten. Hier ist die Anthropologie selbst schon wieder einiges weiter, wie die Ansätze des Intersubjektivismus und des Dekonstruktivismus zeigen. Bernard in Research Methods in Anthropology (2006) und Barnard in History and Theory in Anthropology (2000) nähern sich in ihren Darstellungen der Missiologie mehr an. Gerade die praxisbezogene „angewandte Anthropologie“ lebt vom Vergleich sozialer und kultureller Eigenheiten, für die eine strukturalistische Perspektive nötig ist.

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