Rezension: Rispler-Chaim, Vardit 2007. Disability in Islamic Law

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Vardit Rispler-Chaim ist Professorin für Arabistik (Sprache und Literatur) an der Universität von Haifa. Ihr Forschungsgebiet umfasst die rechtlichen Bestimmungen der islamischen Gesetzgebung sowie deren ethische Auswirkung. Ihre Publikationen beziehen sich auf praktische Rechtsgebiete wie Menschenrechte (1992), medizinische Ethik (1993), Frauenrechte (1995), genetische Forschung (1998), Abtreibung (1999) und Menschen mit körperlichen oder mentalen Einschränkungen (2007). Als Ertrag für die Missiologie erweitert ihre Forschung den Blick auf andere Religionen im Hinblick auf die dortige soziale Stellung und den ethischen Vorstellungen zu diesem letztgenannten Personenkreis.

Auf 96 Seiten beschreibt sie die islamische Rechtsprechung im Hinblick auf körperlich oder mental eingeschränkte Personen. Sie unterteilt in die Ausübung der religiösen Pflichten durch Menschen mit physischen oder psychischen Einschränkungen (S. 19-40), die Stellung derselben in Bezug auf den Dschihad (S. 41-46), die moralisch-ethische Stellungnahme zur Ehe im Hinblick auf behinderte Personen (S. 47-68), die rechtliche Wahrnehmung von intersexuellen Menschen (Hermaphroditen; khunta; S. 69-74) und zuletzt die willentliche oder unbewusste Verletzung/ Verstümmelung durch Menschen (S. 75-92). Ein ausführlicher Appendix enthält alle wichtigen Fatwas (verbindliche Rechtsauskunft) zu den genannten Bereichen (S. 97-134). Ein Index zu Behinderungen, zur verwendeten islamisch-arabischen Terminologie und zu den im Buch genannten Persönlichkeiten (S. 163-171) runden die Forschung ab.

In ihrer Einleitung geht Rispler-Chaim auf die Wahrnehmung von Menschen mit Einschränkungen im öffentlichen Raum und deren soziale Stellung im Hinblick auf die Menschenrechte ein. Sie bezieht die im religiösen Arabisch verwendeten islamischen Begrifflichkeiten auf gegenwärtig bekannte körperliche oder mentale Einschränkungen (S. 3-5; z. B. marid pl. marda „Kranker“ vs. marad „Krankheit“). Ihre ethisch-medizinische Debatte beruht auf dem weit verbreiteten medizinischen Modell in Disability Studies, sie ist sich aber des sozialen und kulturellen Modelles bewusst (S. 16-17). Ihre Forschung umfasst auch AIDS und intersexuelle Menschen (s.u.; S. 10, 17), zwei Bereiche zu denen es eine Menge Fatwas gibt. Homosexualität und AIDS gilt im Islam als Folge ethisch-moralischer Verwerfung.

Weltreligionen ähneln sich in ihrer gesellschaftlichen Struktur. Es gibt die Insider und Outsider, die frommen Laien und die religiös Verantwortlichen (Mönche, Klerikale etc.). Daneben generieren Menschen mit Einschränkungen in religiösen Menschen die Frage nach dem (Un-)Sinn des Lebens. Gott, Götter oder göttliche Kräfte müssen in Einklang mit der Abweichung vom Normalen gebracht werden (wie auch für Krankheiten und Katastrophen). Im Islam wird kausal die Ursache aller Abweichung in Allah begründet, gleichzeitig ist es am Gläubigen die Schuld nicht bei Allah, sondern bei sich selbst zu suchen (S. 8-9). Vernunft (kafa’a, ‚aql) spielt die Grundvoraussetzung, um den religiösen Ansprüchen der Religionsgemeinschaften nachzukommen (S. 20). Mangelnde Vernunft schließt aus der religiösen Verantwortung aus oder begrenzt diese (z. B. Führungsverantwortung; S. 25).

Rituelle Reinheit (tahara) bildet das Fundament der fünf islamischen religiösen Pflichten/Säulen: das Bekenntnis (wird nicht besprochen), fünfmaliges Gebet (30:17; S. 23-27), Fasten (S. 27-33), Pilgerfahrt (S. 34-37), Almosensteuer (S. 37-38).

Rituelle Waschungen zum Gebet basieren u.a. auf dem Qur‘anwort „In ihr [der Moschee. EW.] sind Leute, die sich gerne reinigen, und Allah liebt die sich Reinigenden“ (9:108; S. 19). Behinderte Personen können dem oft nicht nachkommen. Die islamische Rechtsprechung sieht deshalb Ausnahmen vor. Rispler-Chaim betont, dass jede islamische Rechtsschule hierzu ihre eigene Auslegung hat. Die Verletzung des rituellen Reinheitsgebotes betrifft vor allem die Verunreinigung durch Körperflüssigkeiten (Urin, Speichel, Blut, Menstruation, Sperma). Natürliche oder auch künstliche Ausgänge sind rein zu halten und während der Gebete, z. B. durch Tampon, Binde, medizinische Verschlüsse zu verschließen. Generell ausgenommen sind Menschen mit psychischen Beeinträchtigung, Epileptiker und Bewusstlose (S. 20). Die Hanafiten setzen erstgenannte mit Kindern gleich und gebieten ihnen die Waschungen. Findet ein Mensch mit Einschränkungen (z. B. Mobilitätseinschränkung) Hilfe für die Waschung darf er diese in Anspruch nehmen. Alternativ zu Wasser ist Sand möglich (spezieller Lehm, Dreck; S. 21, Fatwa 1996 von Mufti ‚Atiyya Saqr; 4:43; 5:6 und 2:267). Auch für die Gebetsbewegungen knien, stehen, liegen (rak’as) gibt es Ausnahmen und Empfehlungen, wie sich z. B. an die Wand oder Gegenstände anzulehnen. Das Pflichtgebet mit seinen Bewegungen wird per Fatwa als Rehabilitationsmaßnahme empfohlen (S. 27). Sheikh Muhammad Sayyid Tantawi (2000) ordnet die Übersetzung des Freitagsgebetes für Gehörlose durch Zeichensprache an, was heftige Gegenreaktionen auslöste, da dies alle Gläubigen ablenke (S. 2).

Eine Rolle als Imam ist für Personen mit körperlichen oder mentalen Einschränkungen nur begrenzt möglich (S. 25). Denkbar, jedoch nicht bevorzugt, sind Imame mit Einschränkungen für denjenigen Personenkreis dem sie angehören (Blindheit, Taubheit, Inkontinenz, Kastration).

Das Fasten wird Menschen mit Lähmungen generell nicht empfohlen, um das Herz zu schonen. Menschen mit Hautbeeinträchtigungen dagegen wird es als Rehabilitationsmaßnahme nahe gelegt (S. 33).

Die Pilgerreise ist nur für Menschen empfohlen, die keine Mobilitäts- und keine psychische Beeinträchtigung haben (z. B. 2:196). Wer die Pilgerreise mit Hilfsmitteln vollzieht, dabei krank wird oder nach der Reise seine Beeinträchtigung überwindet, für den ist sie nicht gültig und zu wiederholen (Mufti ‚Atiyya Saqr und ‚Abd al-Qadir in 1993).

Menschen mit physischen oder psychischen Beeinträchtigungen sind teilweise von der Almosensteuer ausgenommen. Sie werden dabei mit ebenfalls freigestellten Kindern verglichen (S. 38). Als Empfänger kommen vor allem mental Eingeschränkte unter dem Aspekt der Armut und Hilfsbedürftigkeit in den Genuss der Steuer (9:60).

Vom Dschihad sind laut Auslegung „die Blinden, Kranken und Krüppel“ (24:61) ausgenommen sowie psychisch Kranke (S. 42-43). Die Rechtsvorschriften sehen für Nicht-Muslime unter islamischer Herrschaft Ausnahmereglungen für behinderte Menschen vor, da sie unter „die Schwachen“ fallen und als ungefährlich gelten.

Rispler-Chaim bespricht Ehevoraussetzungen für Menschen mit körperlichen oder mentalen Einschränkungen, Unfruchtbarkeit und genetische Beeinträchtigungen (S. 59-61). Dabei wird in islamisch-soteriologischer Hinsicht Schönheit, Reichtum und Geburtsfähigkeit besonders belohnt (Gesundheit bleibt unerwähnt; S. 49-52), was Menschen mit Einschränkungen oft generell ausschließen. Da Adoption im Islam verboten ist, so Rispler-Chaim, sind medizinische Methoden zur Feststellung der Unfruchtbarkeit oder genetischer Defekte im Islam besonders gefragt (S. 60).

Sehr ausführlich geht Rispler-Chaim auf intersexuelle Menschen ein (S. 69-74). Geschlechtsumwandlungsoperationen werden von vielen Fatwas genehmigt, wenn der „Nutzen“ von Sachverständigen geprüft wurde (S. 73-74). Offen bleibt dabei was einen „ganzen“ Mann oder Frau auszeichnet.

Rispler-Chaims Forschung gibt tiefe Einblicke in ethisch-moralische Aspekte des Islam, die besonders durch den Umgang mit Menschen mit physischen oder psychischen Einschränkungen als soziale Indikatoren zutage treten.

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