Rezension: Georges, Jayson & Baker, Mark D. 2016. Ministering in Honor-Shame Cultures: Biblical Foundations and Practical Essentials

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Georges (MDiv, Talbot) und Baker (Ph.D, Duke University) können auf eigene missiologische Erfahrungen zum Thema zurückgreifen. Georges arbeitete neun Jahre in Zentralasien und Baker zehn in Honduras. Gleich zu Beginn machen sie deutlich, dass es sich bei ihrem Ansatz lediglich um eine Tendenzen-darstellende Annäherung zwischen unterschiedlichen Gewissensorientierungen handeln kann. Es ist nicht ganz eindeutig, wo sie ihre Forschung verorten, jedoch scheinen sie ihre Erfahrungen als ethnographische Studien aus Sicht der kulturellen Anthropologie (cultural anthropology; Ethnologie) zu verstehen (Kapitel 1 Paragraphen 2 und 3). Die angeführten Erkenntnisse werden jeweils zu Beginn durch eine praktische ethnographische Beobachtung untermauert.

Als Einstieg benutzen die Autoren ISIS-Propaganda, um die dort beinhalteten Hinweise auf Ehre und Scham (honour-shame) zu untersuchen (S. 15). Diese steht im Kontrast zur nordamerikanisch-nordeuropäischen Gewissensorientierung, welche sich an Unschuld/Gerechtigkeit und Schuld ausrichtet (S. 37). Das Beispiel des amerikanischen Kriegsministeriums, zur Untersuchung der japanischen Kultur, durch die Anthropologin Ruth Benedict, um die japanische Gewissensausrichtung zu verstehen, verdeutlicht den tiefen kognitiven Graben zwischen den Kulturprägungen (S. 16).

Die Autoren stellen fest, dass jede ideologisch-theologische Denkrichtung in ihren Wertvorstellungen auf einer grundlegenden Prägung des Gewissens basiert. Sie verstehen deshalb ihren Ansatz komplementär und nicht absolut (S. 23).

In gezielten Schritten führen sie in die Denkstrukturen von auf Ehre und Scham orientierten Gesellschaften ein. Was richtig und was falsch ist wird dort kollektiv und Beziehungs-relevant entschieden. Im Gegensatz hierzu steht die philosophisch-rechtliche Wahrnehmung in Schuld-orientierten sozialen Gruppen. Ihre Zusammenfassung lautet: Schuld-Orientierung lehrt, „Ich machte einen Fehler, ich muss ihn zugeben“, Scham dagegen sagt, „Ich bin ein Fehler, ich muss das verbergen“ (S. 37-38).

Werte bestimmen das Verhalten und sind damit grundlegende Hinweise auf Gewissens-Orientierungen. Anhand folgender Themenkomplexe, wird dies für auf Ehre und Scham orientierte Gesellschaften näher erklärt:

Die Dynamik des Patronats als Gesellschaftsphänomen,

indirekte Kommunikation,
kollektive Ausrichtung auf den individuellen Anlass,
das Reinheit-Unreinheitsparadigma,
das soziale Rollensystem und zuletzt
die Gastfreundschaft (S. 50).
Im Einzelnen: Das Patronat oder der Paternalismus (nicht Korruption) schuldorientierter Gesellschaften basiert auf einem wechselseitigen Verhältnis ungleicher Partner. Der Schutzherr garantiert die physische Versorgung mit materiellen Mitteln (Lebensmittel, Bau- und Verteidigungsmaterial) und erhält im Gegenzug dafür Loyalität, Hörigkeit und Gefolgschaft. Dem Gewinn von Prestige (Ehre) steht drohend der gleichzeitige Verlust desselben durch Fehlverhalten entgegen, verursacht durch das Nichtteilen vorhandener Ressourcen. Indirekte Kommunikation ist eine Harmonie und Beziehungs-orientierte Form der Mitteilung. Sie stellt niemanden bloß und ist respektvoll und loyal zum Gesprächspartner (S. 53). Im einzelnen sozialen Ereignis wird die Respekts-Beziehung in den Vordergrund gestellt. So steht der Respekt auch in Bezug auf das Abwarten, z. B. gegenüber Höhergestellten bei einer Hochzeit zuoberst, auch wenn das Brautpaar, oder Hochzeitsgäste warten müssen (nicht mit Bequemlichkeit zu verwechseln). Reinheit stellt Ordnung dar, das Richtige am rechten Platz, wohingegen Unreinheit das Falsche am falschen Ort signalisiert (kein Legalismus! S. 55). Gastfreundschaft sucht immer das quantitativ und qualitativ Beste für die Gäste zu geben (keine Verpflichtung!). Festessen stellen soziale Ehre-Veranstaltungen dar, bei denen Essen als Gegenwert im Rahmen reziproker Erwartungen (siehe oben) eingesetzt wird (S. 58).

Im theologischen, dem zweiten Teil, werden die Werte und Interpretationen von auf Schuld und Gerechtigkeit ausgerichteten (westlichen) Gesellschaften mit denen von Ehre und Scham orientierten Gesellschaften verglichen. Da die Hebräische Bibel und das Neue Testament in letzteren Gesellschaften verankert waren, wird der Graben zur heutigen westlichen Interpretation deutlich. Finanzielle, individuelle und soziale Unabhängigkeit führen zu egalitären, Respekt-unabhängigen, an Bereicherung orientierten, auf Recht und Ordnung ausgerichteten, rationalen und Pünktlichkeits-orientierten Gemeinden und Kirchen (S. 60). Demgegenüber liegt die biblische Betonung auf der Ehre Gottes, welche sich in der Ebenbildlichkeit des Menschen wiederspiegelt (Ps 8:5). Sünde wird zur Verweigerung dieser Ehre gegenüber Gott und Menschen. Ehre beruht daher auf Status. Dieser ist von physischen, geistigen und psychischen Faktoren abhängig. Hier nehmen die Autoren auf den behinderten Mephi-Boschet aus der Nachkommenschaft Jonathans Bezug, welchem König David Respekt aus Mitleid und dessen Abstammung heraus zollte (2 Sam 3:9; S. 83). Leider lassen die Autoren hier einen inklusiven Ansatz vermissen.

Als nächste biblische Episode betrachten Georges und Baker die Geschichte der Sünderin, die Jesu Füße im Hause des Pharisäers Simon mit ihren Haaren ölt (Lk 7:36-50). Offensichtlich war Simon nicht der Praxis der Fußreinigung gefolgt, ein Missstand, den die Frau aufgriff und damit Simon nach Jesu‘ Aussage bloßstellte (S. 98-99). Ein weiteres Beispiel geben Georges und Baker mit dem Gleichnis des „verlorenen Sohnes“ (Lk 15:12-32). Beeindruckend ist, dass Jesus die Scham und Ehre Orientierung seiner Umwelt aufgriff, um auf Missbrauch und Übertretung hin zu weisen. Er hat mehrfach seine Jünger, die Pharisäer oder auch offizielle Machthaber bloß gestellt, um die Wertvorstellungen des Reiches Gottes zu veranschaulichen. Kumuliert hat dies in der Überwindung des Todes durch das Kreuz, was als eine große Schande – Fluch – deklariert wurde (Dtn 21:23; S. 175). In ihrer Nacherzählung betonen sie die Möglichkeit, den Gesichtsverlust vor Gott in der Beziehung zu Jesus dem Christus überwinden zu können.

Georges und Baker führen im dritten Teil ihrer Abhandlung in praktische Konsequenzen der beschriebenen Gewissensausrichtungen ein. Sie gehen auf die geistliche Ausrichtung, die Beziehungsverhältnisse, Evangelisation, Bekehrung, ethische Konsequenzen und die Gemeinschaft in solchen Kontexten ein. Als Anhänge bieten sie ein Bibelstellenverzeichnis (Appendix 1), Biblische Geschichten (Appendix  2) und Hinweise auf weitere Hilfsmittel zum Thema (Appendix  3). Aus dem Erfahrungsschatz von Georges stammen Re-Interpretationen biblischer Geschichten, die er zusammen mit Menschen aus dem besprochenen Gewissensspektrum erarbeitete und die in diesen dritten Teil einfließen.

Das Thema der Gewissens-Orientierung hat in der Anthropologie und der Missiologie eine gewisse Tradition. Es wird in der Forschung kritisch hinterfragt, z. B. ob man nicht besser in bestimmten Kontexten von einer Reinheit vs. Unreinheits-Orientierung ausginge (z. B. Wheatcroft 2005). Die hier vorliegende Ausarbeitung geht darauf nicht ein, was ein Kritikpunkt darstellt. Als Ideengeber und auch zum Verständnis biblischer Kontexte im Hinblick auf eine Ehre und Scham-Orientierung bietet dieses Werk tiefe praktische Einblicke.

 

Gewissensorientierung ; Elenktik ; Scham ; Ehre ; Kollektivismus ; Reinheit ; Unreinheit ; Evangelisation ; Islam ; Buddhismus ; Religionswissenschaft ; Anthropologie ; Ethnographie ; Behinderung ; Disability Studies

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