Rezension: Eurich, Johannes & Lob–Hüdepohl, Andreas 2014. Behinderung – Profile inklusiver Theologie, Diakonie und Kirche

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Die ökumenische Reihe Behinderung–Theologie–Kirche, wie sie von dem protestantischen Professor Johannes Eurich (Diakoniewissenschaftliches Institut Heidelberg) und dem römisch–katholischen Professor Andreas Lob–Hüdepohl (Katholische Hochschule für Sozialwesen Berlin) herausgegeben wird, ist im Moment die umfangreichste zum Thema Disability Studies im deutschsprachigen Raum. In 21 Beiträgen, aus den Bereichen Sonderpädagogik, Behindertenseelsorge, Ethik, Diakonie und Kirchenrecht, wird der kirchliche Kontext zur Inklusion von Menschen mit körperlichen oder mentalen Einschränkungen besprochen. Ausgangspunkt bilden die Veröffentlichungen des Ökumenischen Rats der Kirchen „Kirche aller. Eine vorläufige Erklärung“ (2004) und der katholischen Bischöfe Deutschlands unter dem Leitwort „unBehindert Leben und Glauben teilen“ (2003), die sich rund um das Europäische Jahr der Menschen mit Behinderungen ergaben (2003). Im Vorwort wird der kirchlich-theologische Leitgedanke deutlich, namentlich Menschen mit Behinderungen, die bislang eher als Objekte, über die geredet wird, nunmehr als Subjekte ihres eigenen Glaubenszeugnisses wahrzunehmen (S. 9).

Interessant sind die verschiedenen auch kritischen Perspektiven zur Inklusion, die hier eingenommen werden, sowie Themen die selbst–reflektiert und des Nachdenkens wert sind. Hierzu gehört das am körperlichen Defizit orientierte katholische Kirchenrecht bezüglich des Weiheamtes oder als Amtsträger der Kirche, das Abendmahl als Ort des Ungebrochen-Seins, Behinderung und Sexualität als Tabuthema sowie Behinderung und das Altwerden.

Ottmar Fuchs deutet Inklusion als theologische Leitkategorie (S. 12–36). Er kritisiert das exkludierende schwarz-weiß Bild „fundamentalistischer“ Kreise und deren Stigmatisierungsversuche um die Fronten aufrecht zu erhalten (S. 19, 26). Er definiert den Mitleidsbegriff auf zweierlei Ebenen. Zum einen kann ‚Mitleid‘ durch eine natürliche Abwehrhaltung aufgrund peinlicher Ergriffenheit motiviert sein, zum anderen ist es aber auch das schöpferische Mit-Leiden, dass über sich hinaus wächst und tätig wird (S. 22). Hieraus leitet Fuchs seine Definition von Barmherzigkeit als unterbrechenden Mitschmerz ab, den er als tragfähig genug betrachtet, um das am behinderten Menschen als defizitär Gedeutete zu überbrücken (S. 26-28). Kritisch betrachtet er die allgemeine unkritische Zustimmung zur Inklusion, ohne die Betroffenen selbst einzubinden (Kosten, Abbau staatlicher und privater Träger usw.). Ein Thema, das auch Thomas Günther aufgreift (S. 92–94).

Das römisch katholische Kirchenrecht wird bei Ottmar Fuchs kritisiert (S. 27–28), wie auch bei Thomas Schüller (S. 178–186), insbesondere dessen Umgang mit behinderten Theologen/Innen, was sich in der Kirche widerspiegelt. Eine ähnlich kritische Betrachtung zum evangelischen Pfarrdienstrecht findet sich bei Thomas Jakubowski. Es handelt sich um ein dem katholischen Kirchenrecht ähnliches, welches auf dem patriarchalischen auf staatliche Fürsorge aufbauenden Beamtenrecht aufbaut und dem Adressatenkreis eine Sonderstellung einräumt. In solchen rechtlichen Konstellationen fallen behinderte Menschen aufgrund ihrer Bedürfnisse aus Kostengründen als ‚Nutznießer‘ oder ‚Edel–Behinderte‘ verschrien, aufgrund ihres Anders–Seins durchs Raster.

Die Leidens- oder Theodizee-Frage wird gleich von mehreren Autoren besprochen. Johannes von Lüpke sucht im ‚Armen‘ und ‚Bedürftigen‘ Anknüpfungspunkte. Die Evangelien drehen sich seiner Meinung nach um diesen Personenkreis. Sie knüpfen damit an die, in der Hebräischen Bibel vorgegebenen Anleitung (Torah) zum Ausgleich sozialer Ungerechtigkeit, wie sie an den ‚Armen und Witwen‘ versinnbildlicht wird. In diesem Sinne kann er von der Göttlichkeit behinderter Personen sprechen (S. 37–40). Thomas Günter betrachtet den Schöpfungs–Diskurs der Genesis kritisch. Anstelle der ‚guten Schöpfung‘ findet er die immanente göttliche ‚Abwehr‘ und ‚Beseitigung‘ ungewollter Zustände als Norm. Zum Beispiel wird Chaos Ordnung, dunkelste Nacht wird lichter Tag und der Mensch ist allein als tragischer Zustand. Diese Nachsteuerung Gottes zieht sich durch die Bibel und endet allein in der Selbstbegrenzung Gottes. Es ist Gott selbst, der sich in diesem Nachsteuern finden lässt. Darin hebt sich die unüberbrückbare Kluft zwischen den menschlichen Seins-Zuständen auf (S. 75). Manfred Oeming befasst sich mit dem Tun–Ergehen Zusammenhang (TEZ) der Heiligen Schrift. Er arbeitet in der Auslegung eine „Kurzzeit–Vergeltung“ heraus, diese verkürzt Wahrheiten und sucht Schuldige. Er definiert den TEZ deshalb als Faustregel, die auch Ausnahmen zulasse (S. 116). Markus Schiefer–Ferrari geht auf die Theologie des Bruches im Hinblick auf das Brechen des Brotes und das Gebrochen-Sein des Leibes Christi ein. Dabei lehnt er zwar den durch John Hull, der eine Beeinträchtigung des Sehsinnes hatte, eingeführten exegetischen Befund ab, findet aber im ‚Bild des Abendmahles‘ einen inklusiven Ansatz. Dabei wird nicht der Gemeinschaftsaspekt des Mahls, sondern eben die Unterschiedlichkeit der Akteure zum Ab– und Ausdruck inklusiver christlicher Vielfalt (S. 142).

Zum Thema Behinderung und Sexualität finden sich zwei Beiträge. Einer davon bei Andreas Lob–Hüdepohl (S. 154–166) und einer von Thorsten Hinz und Joachim Walter (S. 284–286). Die UN-Konvention zur Rechten behinderter Menschen stellt den sexuellen Bereich als besonders schutzbedürftig heraus. Übergriffe an schwächeren, insbesondere auf Betreuung angewiesene Frauen ist nichts Neues. Im Hinblick auf Menschen mit körperlichen oder mentalen Einschränkungen wird hierbei eine besondere Schutzbedürftigkeit und auch Anwendung gefordert. Wie soll ein rundum Assistierter Sexualität leben? Wie kann aktive oder passive Sexualassistenz aussehen ohne als Prostitution zu enden? Wie kann eine Kirche, die sich während des Dritten Reiches für sexuelle Eugenik (Sterilisation, Abtreibung) aussprach, glaubhaft auf diesem Gebiet Hilfe anbieten (S. 162)?

Die weiteren Beiträge besprechen kirchliche, inklusive Leitbilder zur Gestaltung der Kirche in Vielfalt (Sabine Schäper, Wolfhard Schweiker, Johannes Eurich, Cornelia Coenen-Marx), aber auch Einzelprojekten (Bettina Kiesbye und Inge Ostertag, Jochen Straub, Kyra Seufert und Gerd Frey-Seufert). Brigitte Hubers kurze Reflexion der im Eingangsabschnitt oben erwähnten neuen Kirchendokumente ist erwähnenswert (S. 244–247), da deren Einfluss auf die kirchliche Praxis noch nicht absehbar ist.

Es ist nicht ganz eindeutig, nach welchen Kriterien diese Kompilation stattfand oder welche Zielgruppe anvisiert war. Nichtsdestotrotz bilden die Beiträge Hinweise auf Forschungsgebiete der Disability Studies, insbesondere im Hinblick auf die Diakonie als Innere Mission der Kirche. Hierbei ist neben einer Bandbreite an Projekten auch die theologisch-hermeneutische Aufarbeitung der Inklusion als Leitbild hilfreich dargestellt worden.

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