Rezension: Grünstäudl, Wolfgang & Schiefer–Ferrari, Markus 2012. Gestörte Lektüre – Disability als hermeneutische Leitkategorie biblischer Exegese

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Die ökumenische Reihe Behinderung-Theologie-Kirche, wie sie von den römisch–katholischen Professoren Johannes Eurich (Diakoniewissenschaftliches Institut Heidelberg) und Andreas Lob-Hüdepohl (Katholische Hochschule für Sozialwesen Berlin) herausgegeben wird ist im Moment die umfangreichste Darstellung zum Thema Disability Studies im deutschsprachigen Raum. In diesem Band 4 wird in 12 Beiträgen aus den Bereichen Theologie, (Heil– und Sonder–) Pädagogik, Philosophie, Ethik, und Diakonie der theologisch–kirchliche Kontext zur Inklusion von Menschen mit körperlichen oder mentalen Einschränkungen besprochen. Die römisch katholischen Herausgeber Grünstäudl und Schiefer Ferrari sind unter anderem an der Universität Koblenz-Landau im Bereich Bibeldidaktik und Bibelwissenschaften tätig.

Markus Schiefer Ferrari beginnt mit ‚Differenzvorstellungen‘. Abweichungen von der Norm, bezüglich Behinderung und den sie begleitenden Deutungsstrategien (S. 18). Er arbeitet die in der Exegese gebräuchlichen Sprachmuster hinsichtlich der in der Bibel erwähnten behinderten Menschen heraus (z. B. ‚ärgerliche Zumutung‘‚ ‚Abschaum der Gesellschaft‘ im Hinblick auf das große Gastmahl aus Lk 14; S. 19). Ebenso untersucht er die übliche Verknüpfung von Isolierung und Gleichsetzung von behinderten Menschen mit den ‚Armen‘ und ‚Schwachen‘, wie auch die innerbiblische Widerlegung dieser Hypothese. Wie dies deutlich wird, wenn sich doch Freunde um einen mobilitätseingeschränkten Menschen bemühten, wie in Mk 2:3 beschrieben (S. 20). Die verbreitete metaphorische bzw. übertragene Auslegung von ‚Behinderung‘ versucht Schiefer Ferrari an der ‚Wassersucht‘ aufzuzeigen (Lk 14:13; S. 27). Den Fragekomplex der Stigmatisierung geht er aufgrund der ‚Ästhetisierung‘ auf den Grund (S. 30–31).

Das Thema der Priester–Eignung aus Lev 21:16-24 wird von Thomas Hieke aufgegriffen. Er stellt fest, dass Anweisungen bezüglich des Hohepriesteramtes zwar fehlen, doch schließt er aus V. 23, dass dieses dort gemeint sei. Die durch eine Behinderung eingetretene ‚Entheiligung‘ findet sich parallel auch in den Reinheitsvorstellungen der Opfertiere wieder, die keinen Makel aufweisen sollten (S. 59). Hieke spricht von ‚minderwertigem Material‘, welches nicht Opfer–würdig sei. Er vermutet ein ‚Unvermögen‘ von behinderten Menschen und Gott ihnen kultische ‚Missgeschicke‘ aufgrund ihrer körperlichen Einschränkungen ersparen will (S. 60). Zuletzt lehnt Hieke die häufig vermutete ‚Nähe zur Todessphäre‘ aufgrund körperlicher Defizite entschieden ab, da die Bezeichneten am Kult teilnehmen und alles Heilige essen dürfen.

Michael Tilly widmet sich dem paulinischen Umgang mit Behinderung. Dabei summiert er die paulinische Argumentation als ‚biographisch bedingte und zugleich apologetisch motivierte Umwertung‘ eigener Schwachheit und Krankheit in eine charismatische Befähigung zum Apostelamt. Einen Ausblick liefert Tilly im Rahmen der Annäherung des ‚Normalitäts‘–begriffes an ein ‚gelingendes‘ Leben, welches nicht auf Gesundheit und Ability gegründet sei (S. 79–80).

Zum Verständnis von Krankheit und Gesundheit findet sich ein Beitrag von Markus Tiwald (S. 81–97).

Alois Stimpfle untersucht neutestamentliche Konstruktionen von Wirklichkeit. Er verbindet diese mit interessanten, realen biographischen Erfahrungen von Menschen mit Behinderungen (S. 105–107), namentlich Arnold Beisser (Kinderlähmung), Ilja Seifert (Querschnittlähmung) und Heike Beckedorf (Contergan-Schädigung). Stimpfle sieht im neutestamentlichen Ansatz eine anthropologische Konstante. Sie verortet Behinderung ‚außerhalb des Herrschaftsbereiches des Gottesgeistes‘. Dort finde auch Korrektur oder Heilung statt (S. 115). Er kommt zum Schluss, dass Behinderung als hermeneutische Leitkategorie geeignet ist, die Wahrnehmung der körperlichen Sinne, ob diese nun in vollem Umfang oder mit Einschränkungen erhalten sind, in Homiletik, Exegese und Katechumenat Inklusions–orientiert aufzuarbeiten.

Drei Beiträge von Tobias Nicklas, Ilaria L. E. Ramelli und Wolfgang Grünstäudl beschäftigen sich mit frühchristlichen Rezeptionen. Tobias Nicklas beschäftigt sich mit der Gottesbeziehung im Hinblick auf die Leiblichkeit des Menschen (S. 127–140). In der Antike, in welcher körperliche oder geistige Einschränkungen die Existenz viel stärker bedrohten als in der Moderne und zu Not-vollen Situationen führten, sei der Begriff ‚Heil‘ und sein semantisches Sprachumfeld ‚Heil-(ig)-ung‘ anders zu deuten als heute. Das Ganze des Menschen steht in der frühchristlichen Literatur im Mittelpunkt. Ebenso auch die unerwartete hermeneutische Deutung eines ‚schwachen‘ Leidenden am Kreuz im Gegensatz zu anderen damaligen religiösen Vorstellungen. Ilaria L. E. Ramelli (S. 141–159) erarbeitet literaturgeschichtlich die Werke von Bardaisan von Edessa (†222) und Origin von Alexandria (†255). Er beschreibt die stoischen Vorstellungen über Adiaphora (indifferente Sache) und Apokatastis (Wieder-herstellung). Die Dreiteilung in Körper, Seele und Geist half beiden antiken Autoren sich vom gängigen Muster göttlicher Strafe oder vererbter Sünde auf die Behinderung als ‚indifferente Sache‘ zu beziehen. Dabei wird die eigentliche Schwere ‚wahrer‘ Behinderung oder Krankheit in der Seele angesetzt und metaphorisch auf Sünde hin gedeutet (S. 158–159). Wolfgang Grünstäudl (S. 160–179) beschäftigt sich mit ‚Didymus von Alexandrien‘ auch genannt ‚der Blinde‘ (*313–†398) und dem Auge der Braut als Anspielung auf das Hohelied bzw. die Fähigkeit Christus als Bräutigam zu erkennen. Es geht um antike Vorstellungen zu Blindheit und Sehen. Insbesondere begeistert hier das Phänomen eines aktiven, inkludierten Kirchenvaters mit einer Sehbehinderung von Kindheit an (S. 177–179).

Die letzte Einheit dieser ‚Gestörten Lektüre‘ bespricht sonderpädagogische Irritationen. Erik Weber, Lars Mohr, Anita Müller-Friese und Matthias Bahr widmen sich der Ausgestaltung inklusiver Lehre bezüglich Planung, Ausarbeitung und Praxisorientierung. Erik Weber nimmt sich des sozialen Modells in den Disability Studies (S. 180–201) an. Er bedient sich dabei des kulturellen Modells von Dederich. Dieser argumentierte leibphänomenologisch und stellte die Erfahrung des Behindert–Seins in den Mittelpunkt (S. 199–200). Lars Mohr (S. 202–218) widmet sich dem Auftrag aus Gen 1:26-28 zur dominium terrae, wie er es nennt, also dem Welt-Herrschaftsanspruch und dies trotz Schwerbehinderung (S. 202). Die Erschaffung des Menschen ‚zum Bilde Gottes‘ stellt die Grundlage eines wie auch immer gearteten ‚Herrschens über die Erde‘ dar (S. 208). Die Erfahrungswelten schwerbehinderter Menschen wirken nachhaltig und mit großem Eindruck, jedoch müssen sie zur Geltung kommen können, was Auftrag und Ziel der Sonderpädagogik sei (S. 217). Anita Müller-Friese (S. 219–235) und Matthias Bahr (S. 236–253) runden dieses Werk mit praktischen bibeldidaktischen Vorschlägen zu den poetischen und narrativen Texten der Bibel ab.

Die Zielgruppe dieser Sammlung stellen Bibeldidakten dar, die nach Inklusions–orientierten Grundlagen und Hilfen für ihre Arbeit suchen. Hierbei ist neben einer Bandbreite an Projekten auch die theologisch–hermeneutische Aufarbeitung der Inklusion als Leitbild hilfreich dargestellt worden.

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