Rezension: Krauß, Anne 2014. Barrierefreie Theologie: Das Werk Ulrich Bachs vorgestellt und weitergedacht

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Anne Krauß ist evangelisch-lutherische Pfarrerin und Krankenhausseelsorgerin in Bayern. Sie spricht aus eigener Lebenserfahrung bedingt durch eine Beeinträchtigung des Hörsinnes, wenn sie das Wirken von Ulrich Bach (1931–2009) reflektiert, einem durch Polio auf Assistenz angewiesenen evangelischen Theologen. Bachs Theologie nach Hadamar (Neukirchen, 2006), in Anlehnung an eine Theologie nach Ausschwitz (dem jüdischen Holocaust), bildet den Grundstein seines hermeneutischen, befreiungsideologischen Ansatzes. Die Studie von Krauß erscheint in der Reihe Behinderung-Theologie-Kirche, die von Johannes Eurich (Diakoniewissenschaftliches Institut Heidelberg) und Andreas Lob-Hüdepohl (Katholische Hochschule für Sozialwesen Berlin) herausgegeben wird.

Im Eingangskapitel umschreibt Krauß das Themengebiet Disability Studies, wie es sich vor allem im deutschsprachigen Raum entwickelte und gegenwärtig darstellt. Die Themenkomplexe Krankheit, Gesundheit, Schmerz, Leid und die Frage der sozialen Identität innerhalb dieser Grundzustände menschlichen Daseins umreißen die Bandbreite der Überlegungen. Von der Theodizee-Frage weg, blickt sie auf die rechtlichen Rahmenbedingungen, die eine inklusive Theologie bewegen. Dabei bilden die Definitionen der Weltgesundheitsorganisation (disability, illness, disease) und die UN-Konvention über die Rechte von Behinderten (2006, ratifiziert von Deutschland in 2009) die Grundlage ihres Verständnisses. Bach selbst hat dazu unermüdlich seit 1973 bis zuletzt in 2006 (s. o.) publiziert. Anfänglich lag sein Schwerpunkt auf dem diakonischen Teil der Disability Studies, bedingt durch seine Arbeit in der Evangelischen Stiftung und der Diakonieanstalt Martineum. Später mischt er sich in die kontrovers geführte Debatte um den sogenannten „Abtreibungsparagraphen“ (§218 StGB Schwangerschaftsabbruch) ein. In seiner Zeit wird auch der Präferenz-Utilitarismus des australischen Ethik-Philosophen Singer intensiv besprochen (s. Practical Etics 1979). Bach wendet sich vehement gegen eine rational-utilitaristische Sicht, wie er auch den seiner Meinung nach ungerechtfertigten Abbruch einer Schwangerschaft bei Verdacht einer Behinderung ablehnt, da es die Isolation und Aussonderung von Menschen mit körperlichen oder mentalen Beeinträchtigungen voran treibt.

Im zweiten Kapitel wird die hermeneutische Grundlage einer Theologie nach Hadamar besprochen. Dies geschieht in Anlehnung an die Vernichtung behinderter Menschen im Dritten Reich. Insbesondere die systematisch geplante „rassenreinigende“ Aktion T4, geplant in der Tiergartenstrasse 4 in Berlin, und ausgeführt in Hadamar (Hessen) Grafeneck (Baden-Württemberg), Hartstein (Linz; Österreich), Bernburg (Sachsen Anhalt), Sonnenstein (Pirma), Brandenburg (Saale). Bach legt aus hermeneutischer Sicht eine Theologie des Kreuzes als göttlicher Ausdruck der „Schwachheit“ und Identifikation mit den Schwachen und den als anders Empfundenen zugrunde (S. 63-97). Sein kontextueller Ansatz lehnt sich an den befreiungstheologischen Idealismus jener postmodernen Tage (1970-2000) an und ruft zur Neuorientierung der Kirche im Umgang mit Menschen mit körperlichen und mentalen Einschränkungen auf. Schöpfungsbedingt steht bei ihm ausnahmslos jeder Mensch Gott nahe. Das Böse demonstriert sich nicht am behinderten oder kranken Menschen, sondern in der Ablehnung Gottes. Eine Profilierung durch Krankheit oder Behinderung („Gott will diese Menschen testen“) widerspricht dem Seins-Zustand eines Betroffenen („Ich bin wie ich bin“). Bach geht hierbei radikal weit, indem er eine „Euthanasie-Mentalität“ oder einen „theologischen Sozial-Rassismus“ unterstellt, wenn auf die theologisch bedeutsame Unterscheidung zwischen gesunden und kranken Menschen hingewiesen oder daran festgehalten wird. Seiner Meinung nach ist dies die Ursache unsäglicher, schädlicher Auswirkungen. Euthanasie, Behinderten-Feindlichkeit (ableism), eine hierarchisierende Imago-Dei Lehre und ein Tun-Ergehen Zusammenhang führen Menschen mit körperlichen oder mentalen Beeinträchtigungen ins Abseits (Exklusion statt Inklusion), wenn nicht gar ins Aus (Euthanasie).

Im dritten Kapitel bespricht Krauß Bachs Sicht von Heil und Heilung. Dabei widerspricht Bach der Ansicht eines Heilungsauftrags an die Kirche. Für ihn besteht nur ein Predigtauftrag. „Eine Kirche die einen Heilungsauftrag behauptet, den sie nicht hat, gefährdet den Predigtauftrag, den sie hat“ (S. 126). Krauß verwendet einen erheblichen Teil darauf, Bach an diesem Punkt zu widersprechen. Ihrer Meinung nach ist die Sehnsucht nach Heilung und einer „heilen“ Welt Grundlage der Theologie (S. 134-137). „Ohne Heilung kein Heil“, wobei es keine Verfügbarkeit des Heils gibt und sozusagen im Trüben gefischt wird, wenn Heilung beansprucht wird (S. 131). Dies sind die Grenzen der Theologie und Medizin. Die Vorstellungen von Heil, die auf die Prämissen Gesundheit, Leistungsfähigkeit, Vollkommenheit und Perfektion (kritisch dazu Henning Luther S. 144) aufbauen, sind nach Krauß’ Interpretationen von Bach genauso abzulehnen, wie eine Leidensmystik (Hiobsgestalt bei Schleiermacher; S. 140) oder ein Martyrium im Schatten des Kreuzes (Barth; S. 141), wie es in den Theologien Schleiermachers und Barths als Nacht- und Schattenseite der Schöpfung aufgeführt wird.

Im vierten Kapitel arbeitet Krauß noch einmal Bachs Ansatz auf. Dabei reflektiert sie dessen Ansatz nach einer „barrierefreien Theologie“ (s. Titel). Im Gegensatz zu den oben genannten Idealvorstellungen menschlichen Daseins sollten Daseins-Einschränkung und Angewiesen-Sein hervorgehoben werden. Beide Kategorien spiegeln die eigentliche Normalität und Interdependenz von Menschen wider. Barrierefreie Theologie in diesem Sinne geht historisch-gedanklich den modernen Inklusionsgedanken voran. Krauß geht des Weiteren im Hinblick auf Wunder- und Heilungsgeschichten auf die römisch-katholische Theologin Dorothee Wilhelm (biblische Geschichten sprächen nur von Normalisierung und Anpassung; S. 175), Ulrike Metternich (Dynamis- und nicht Wundergeschichten; S. 176), Andreas Lob-Hüdepohl (s. o. Wundererzählungen sind Beziehungsgeschichten; S. 180), die amerikanische Theologin Kathy Black (Theology of Interdependence; S. 181) ein. Sie führt als Beispiele barrierefreier Theologie die Ansätze von Andrea Bieler/Hans-Martin Gutmann (Theorie der Überflüssigen; S. 200), Henning Luther (s. o. diakonische Seelsorge als kirchliches Paradigma; S. 202), Ulf Liedke (Inklusive Anthropologie; S. 204) und Nancy Eiesland (the disabled God; S. 206) auf.

Mit einer Theologie des Imperfekten schließt Krauß ab und lässt so die Tür offen für weitere Ansätze, um den Phänomenen der Aussonderung, Diskriminierung und Othering von Menschen mit körperlichen und mentalen Einschränkungen zu begegnen. Die kritische Forschung am Wirken Ulrich Bachs ist eine Quelle des Ringens, vor allem in den Landeskirchen, um Teilhabe, Integration und Inklusion von Menschen mit Behinderungen. Gleichzeitig ist der angeregte und andauernde Diskurs eine Herausforderung an die Akteure aufeinander zu zugehen und miteinander die Vielfalt des Leibes Christi zu repräsentieren.

 

Disability Studies ; Behinderung und Bibel ; Behinderung und Kirche ; Hebräische Bibel ; Behinderungstheologie ; Hermeneutik ; Hadamar ; Theodizee

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