ANKÜNDIGUNG: 18. Forum Bibelübersetzung / 18th Forum Bible Translation

Liebe Freunde des Bibelübersetzungsforums,

das 18. Forum Bibelübersetzung findet von 02. (Di) bis 03. (Mi) Mai statt. Voraussichtlich wird die Veranstaltung am Dienstag um 9:30 beginnen und am Mittwoch um 16:00 enden.

Veranstaltungsort des diesjährigen Forums ist das Forum Wiedenest e.V. (Eichendorffstraße 2; 51702 Bergneustadt; Tel. +49 2261 406-0; info(at)wiedenest.de). Melden Sie sich bitte ausschließlich über https://www.wiedenest.de/wycliff bis zum 15. April 2023 an. Informationen über die Kosten finden Sie ebenfalls auf der Website.

Bei Fragen wenden Sie sich bei Dr. Tianji Ma (tianji.ma1309@gmail.com).

Vorläufiges Programm: Ablauf 18. Forum Bibelübersetzung 02.05 – 03.05.2023 Wiedenest_v3

Wir freuen uns sehr, Sie begrüßen zu dürfen.

Tianji Ma / Eberhard Werner

 

Dear friends of the Bible Translation Forum,

The 18th Forum on Bible Translation will take place from 02 (Tue) to 03 (Wed) May. It is expected that the event will start on Tuesday at 9:30 and end on Wednesday at 16:00.

The location for this year’s Forum is Forum Wiedenest e.V. (Eichendorffstraße 2; 51702 Bergneustadt; Tel. +49 2261 406-0; info(at)wiedenest.de). Please register exclusively via https://www.wiedenest.de/wycliff by April 15, 2023. Information about the costs can also be found on the website.

If you have any questions, please contact Dr. Tianji Ma (tianji.ma1309@gmail.com).

 

Preliminary program: Ablauf 18. Forum Bibelübersetzung 02.05 – 03.05.2023 Wiedenest_v3

We are very much looking forward to welcoming you.

Tianji Ma / Eberhard Werner

 

Disability Studies und Bibelübersetzung

werner [at] forschungsinstitut.net

 

Abstrakt

Dieser Aufsatz ist eine kurze Einführung in die Disability Studies und die Bibelübersetzung. Was auf den ersten Blick nicht offensichtlich ist, wird viel deutlicher, wenn die sprachlichen und sozialen Auswirkungen historischer Bibelübersetzungen im Fokus stehen. Nicht nur politische Korrektheit, sondern auch ein inklusives Umdenken in der Kirche ist nötig, um bestehende Hermeneutiken des Ableism oder Disableism zu überwinden.

 

 

Die Disability Studies (DS; dt. Behindertenstudien) haben ihren Ursprung in den Sozialwissenschaften der 1960er Jahre, die sowohl mit der schwulen und feministischen Befreiungsbewegung als auch mit der lateinamerikanischen Befreiungstheologie zusammenfielen. Seitdem sind die DS in der Theologie zunehmend in den Blickpunkt gerückt, aber weniger in der Missiologie oder der Interkulturellen Theologie oder in der Wissenschaft zur Bibelübersetzung. Forschung über, von und mit Menschen mit körperlicher oder geistiger Beeinträchtigung ist in diesem akademischen Raum noch nicht eingeführt worden. Im Rahmen der Behindertenforschung sind die Geschichte, die Bedürfnisse (z.B. Pflege, Betreuung, Unterstützung) und die sozialen Rahmenbedingungen von Erwachsenen mit körperlicher oder geistiger Behinderung untersucht worden. Weniger in der Missiologie, wo weder christliche Eltern noch andere christliche Betreuer von Kindern oder jene Gruppen, die sich auf den kirchlichen Dienst konzentrieren, im Mittelpunkt standen.

Angesichts der teuren langfristigen (Bibel-)Übersetzungstrainings, der Vorbereitung in interkultureller Sprachwissenschaft, der kostspieligen Mitgliederbetreuung und Verwaltungsstrukturen sowie der hohen Kosten für medizinische oder physische Hilfe sowohl vor Ort als auch zu Hause besteht ein offensichtlicher Mangel an Forschung über DS in der Missiologie. Aus einem inklusivistischen Ansatz heraus eröffnet ein solcher Forschungsbeitrag den Entsendeorganisationen verschiedene Möglichkeiten:

  • die Informationen über die Bedürfnisse ihrer Mitarbeiter mit körperlicher oder geistiger Beeinträchtigung zu sammeln und
  • die Bedenken bezüglich der Behinderung innerhalb von Personengruppen vor Ort zu bewerten, und zwar in Bezug auf mindestens zehn Prozent der Bevölkerung einer Ethnie (12,8% in den USA, Volkszählung 2017; 10% in Deutschland, Volkszählung 2016).

Die DS entstanden aufgrund der gesellschaftlichen Vorurteile gegenüber Menschen mit Behinderungen. Ableismus oder Disableismus (d.h. Behindertenfeindlichkeit) geschieht in Form von Diskriminierung, Isolierung und Ausgrenzung.

Es waren vor allem behinderte Kriegsveteranen und behinderte Personen, die in Sonderbetreuungseinrichtungen isoliert von einer normalen Umgebung leben mussten und nicht in der Lage waren, an Universitäten zu studieren oder die Bedürfnisse des täglichen Lebens (z.B. Einkaufen, Kochen, Umgang mit Beamten) zu bewältigen, weil ihnen der öffentliche Raum schlicht und einfach nicht zugänglich war. Hinzu kommt die Weigerung öffentlicher Träger und Beamten (Ämter, Versicherungen, Banken), auf die Bedürfnisse dieser Personengruppen und Eltern von Kindern mit Behinderungen einzugehen, insbesondere im Hinblick auf Bildung oder die betreute Pflege zu Hause statt in speziellen Pflegeheimen. Während in den USA der Aufschrei gegen die Diskriminierung von Behinderten die (Un-)Zugänglichkeit und (mangelnde) Bildung betraf, lag der Schwerpunkt in Großbritannien und Deutschland auf der Suche nach und dem Bedarf an einem unabhängigen betreuten Alltagsleben. Radikale Insiderbewegungen wie die „Krüppelbewegung“ („Jedem Krüppel seinen Knüppel“, Deutschland) wurden nicht nur auf nationaler, sondern auch auf internationaler Ebene anerkannt (Fandrey 1990). Im Jahr 2006 wurde von der UNO die „Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen“ gechartert. Die USA, Grossbritannien und Deutschland ratifizierten die Konvention 2009; bis März 2018 gab es weltweit 175 Ratifizierungen (Online siehe https://www.un.org/).

Die Begriffe „Partizipation“ und „Integration“ wurden zu Schlüsselwörtern der Anfangszeit, später ersetzt durch den vielschichtigen Begriff „Inklusion“, der ein inklusives Umfeld auf allen Lebensebenen wie Zugänglichkeit, betreutes selbständiges Leben, Kommunikations- und Sprachhilfen, soziale Akzeptanz und Wahrnehmung ausdrückt.

Historisch gesehen war die Terminologie der populären Bibelübersetzungen (z.B. King James Version, Luther Bibel) sehr einflussreich und im Hinblick auf einen kirchlichen Ableismus oder Disableismus massgeblich beteiligt. Später, als durch den Sprachwandel einige Begriffe in der Umgangssprache als Missbrauchsbegriffe verwendet wurden, passte sich die Übersetzungstradition nicht an die moderne inklusive Sprache an, sondern wurde exklusiv. Beispiele wie „Krüppel“, „Idiot“, „minderwertig“, „lahme Krücke“, „blinde Nuss“, „Monster“ usw. sind heutzutage aus dem akzeptablen Sprachgebrauch eher verdängt worden. Aus Mitleid oder Sympathie statt eines tiefen Einfühlungsvermögens oder konketen Erfahrungswerten von Betroffenen wird jedoch in der Bibelübersetzung manchmal immer noch (un)bewusst eine exklusive Terminologie verwendet. So wird z.B. bei der Revision der Lutherbibel im Jahr 2017 in Anlehnung an die „lutherische Tradition“ immer noch „ein Gelähmter“ statt „ein gelähmter Mensch“ (Mt 4,24) als Code für die Revision verwendet. Ein Grund dafür ist der Mangel an behinderten Bibelübersetzern, Exegeten und theologischen Hermeneuten, wenn man sich das Sprichwort „Nichts über uns, ohne uns“ vor Augen hält. Dies steht im Einklang mit der Entwicklung einer Geschlechter-inklusiven oder feministischen Sprache in den 1980er Jahren, die 1999 zur Revision der Lutherbibel führte und statt „Weib“, was zunehmend die Bedeutung „Schlampe“ trug, zu „Frau“ führte.

In der Bibelübersetzung gibt es ähnliche Forderungen nach politischer Korrektheit (political correctness) in Bezug auf die Übersetzung von Beschreibungen von Personen mit einer Behinderung sowie einer inklusiven Wahrnehmung durch die Kirche. Wynn Kerry war einer der ersten, der sich mit diesem Thema befasste (2001). Er gab Übersetzern vier Empfehlungen, von denen die hilfreichste darin bestand, von der Verallgemeinerung zur deskriptiven Terminologie überzugehen. So kann „ein Lahmer“ zu „einem Mann/einer Frau mit einer Mobilitätsbeeinträchtigung“ werden, und „eine blinde Person“ kann als „eine Person mit Sehbehinderung“ ausgedrückt werden. In Markus 8,25 heißt es, „sein Augenlicht wurde wiederhergestellt“ in den meisten (wörtlichen) Bibelübersetzungen (z. B. Luther1975; „his sight was restored“ so NRSV;). Das lässt die Zuhörer mit der Annahme zurück, dass die „Blindheit“ des geheilte Mannes eine krankheitsbedingte Beeinträchtigung in höherem Alter sei, da das Sehvermögen des Mannes „wiederhergestellt“ wurde („er sah wieder“, setzt voraus, das er schon mal sah). Im besten Fall wird sich das Publikum fragen, ob der Mann blind geboren wurde oder erst später erblindet ist. Diese Unsicherheit wäre vor allem für empfindsame Exegeten offensichtlich, die in ihrer Darstellung eine inklusive Sprache verwenden würden.

Darüber hinaus muss die Hermeneutik in Betracht ziehen, dass die biblischen Autoren ihre kulturgebundene Wahrnehmung von Behinderung widerspiegeln. Über mehr als neunzehn Jahrhunderte hinweg, führte die wörtliche Übersetzung, die die Sicht der NT-Autoren auf Behinderung transportierte, dazu, dass Menschen mit Behinderungen vom Auftrag der Kirche zur Sendung und sozialen Fürsorge der gesellschaftlich Marginalisierten ausgeschlossen oder isoliert wurden. Heute zwingt die Politik die Kirche als öffentlicher Akteur dazu, die Integration von Menschen mit Behinderungen auf allen Ebenen der Gesellschaft als Führungskräfte, Pfarrerinnen und Pfarrer, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und natürlich als Mitglieder und Interessierte zu ermöglichen. Auf diese Weise wird hoffentlich Sympathie aus Mitleid durch Empathie aufgrund eines Gleichheitsgrundsatzes ersetzt, so dass die Kirche eine inklusive Rolle beim Aufbau der Vielfalt (Diversität) in der Gemeinschaft der Heiligen spielt (Reynolds 2008). Zusätzliche Lektüre: Kerry 2007a, 2007b.

Bibliographie

Fandrey, Walter 1990. Krüppel, Idioten, Irre. Zur Sozialgeschichte behinderter Menschen in Deutschland. Stuttgart: Silberburg-Verlag. [Engl.: Cripples, idiots, lunatics. On the Social History of Disabled People in Germany.].

Reynolds, Thomas E. 2008. Vulnerable Communion: A Theology of Disability and Hospitality. Grand Rapids: BrazosPress.

Wynn, Kerry 2001. Disability in Bible Translation. Bible Translator 52/4, 402-414. New York: UBS.

Wynn, Kerry H. 2007a. Johannine Healings and Otherness of Disability. Perspectives in Religious Studies 34, 61-75. (Heilung)

Wynn, Kerry H. 2007b. The Normate Hermeneutic and Interpretations of Disability within the Yahwistic Narratives, in Avalos, Hector, Melcher, Sarah J. & Schipper, Jeremy (eds.): This Abled Body. Rethinking Disabilities in Biblical Studies, 91-101. Atlanta: Society of Biblical Literature.

Forum Bibelübersetzung – Fachtagung – ab 2005 –

Das jährliche Forum Bibelübersetzung – Fachtagung – ist eine Fachtagung an der sich Theologen, Übersetzer, Linguisten und andere an Bibelübersetzung interessierte (z.B. Missiologen, Soziologen, etc.) treffen um sich kritisch und fair über ihre Arbeit in dem Bereich Wissenschaft zur Bibel auseinanderzusetzen.

In der Vergangenheit hatten wir Übersetzer der Einheitsübersetzung, der Elbefelder Bibel, der Basis Bibel, der neuen Zürcher Bibel, der Bibel in gerechter Sprache, der Lutherbibel und der Neuen evangelistischen Übersetzung. Außerdem Linguisten aus den Bereichen funktionales Übersetzen und Relevanztheorie, sowie Übersetzungsberater von United Bible Societies und Summer Institute of Linguistics. Redner und Teilnehmer decken das gesamte Spektrum kirchlicher Tradition ab.

Die Idee des Forums ist es, das weithin unbeachtete aber unserer Meinung nach zentrale christliche Thema „Bibel als Übersetzung“ zu diskutieren und sich dabei zu informieren wer, wann was und für wen in diesem Bereich etwas unternommen hat oder unternimmt.

Wir würde uns persönlich sehr freuen wenn sie sich dafür begeistern lassen und bin gespannt auf ihre Anfrage. Gerne dürfen Sie das Forum auch an Ihre Bekannten weiter empfehlen die Interesse an der Wissenschaft zur Bibelübersetzung haben.

Das Forum Bibelübersetzung – Fachtagung – wird unterstützt von: Wycliff Germany e.V. (Holzhausen), Verlag Theologie und Religion (VTR; Nürnberg), Summer Institute of Linguistics (SIL; Dallas), Forum Theologie (Wiedenest) und der Forschungs-Stiftung Kultur und Religion (Gießen).

Eberhard Werner und Tianji Ma

werner [at] forschungsstiftung.net , Tianji.Ma [at] stud.fthgiessen.de

Hier finden Sie die Programme der Foren:

1. Forum Bibelübersetzung 2005;   1 FBÜ-2005 Inhalt
2. Forum Bibelübersetzung 2006;  2. BÜ Forum Wied 12 – 13 Juni 2006
3. Forum Bibelübersetzung 2007;  3. FBÜ-2007
4. Forum Bibelübersetzung 2008;  4. FBÜ-2008
5. Forum Bibelübersetzung 2009;  5. Forum Bibelübersetzung, 8.-9. 9. 2009
6. Forum Bibelübersetzung 2010;  6. Forum Bibelübersetzung, 24. – 25. 9. 2010
7. Forum Bibelübersetzung 2011;   7. Forum Bibelübersetzung, 03. – 04.05. 2011
8. Forum Bibelübersetzung 2012;  8. Forum Bibelübersetzung, 15.05 – 16.05.2012
9. Forum Bibelübersetzung 2013;  9. Forum Bibelübersetzung, 14.05 – 15.05.2013
10. Forum Bibelübersetzung 2014; 10. Forum Bibelübersetzung, Wiedenest, 06.05 – 07.05.2014
11. Forum Bibelübersetzung 2015;  11. Forum Bibelübersetzung 05.05 – 06.05.2015
12. Forum Bibelübersetzung 2016; 12. Symposium Forum Bible translation Oslo 200th anniversary Norwegian Bible Society
13. Forum Bibelübersetzung 2017; 13. Forum Bibelübersetzung, 16.05 – 17.05.2017 Karimu
14. Forum Bibelübersetzung 2018; 14. Forum Bibelübersetzung Wiedenest 24-25 April 2018
15. Forum Bibelübersetzung 2019; 15. FBÜ BTF Oslo 15-16 May 2019 Program
16. Forum Bibelübersetzung 2020 fiel wegen der Corona Epidemie aus – Corona Jahrbuch 2020 ist publiziert
16. Forum Bibelübersetzung 2021; 16.th Bible Translation Forum 5.-6. Mai 2020 Program
17. Forum Bibelübersetzung 2022; 17. Forum Bibelübersetzung 03.05 – 04.05.2022 Karimu

MLE und Erst-Bibelübersetzungsprojekte – Wie erleichtert die Mehrsprachige Bildung (MLE) Erst-Bibelübersetzungsprojekte?

Eberhard Werner

 

Abstrakt 1

1. Einleitung. 2

2. Erst-Bibelübersetzungsprojekte – Kontexte. 3

3. Verständnis von Mehrsprachigkeit und mehrsprachiger Bildung. 5

3.1 Motivation für MLE-Programme. 6

3.2 Identität, das Selbst und die Mehrsprachigkeit 7

3.3 Besonderes Publikum von MLE – Kinder 7

4. Erst-Bibelübersetzungen und MLE-Programme. 8

4.1 MLE-Programme – Projektplanung. 9

4.2 MLE – Alphabetisierung und Sprachentwicklung. 11

5. Schlussfolgerung – MLE und Bibelübersetzung. 12

Bibliographie. 13

 

Abstrakt

Wir befassen uns mit der nachhaltigen Nutzung dessen, was wir als „Erste Bibelübersetzungsprojekte“ in christlichen Entwicklungsorganisationen bezeichnen. Zu viele Bibelübersetzungen und ihre Teilprodukte wurden nie genutzt, weil es an einer Kirche, an Lesefähigkeit oder an Bildung im Allgemeinen mangelte. Mehrsprachige Bildung ist eine Disziplin, die die Beherrschung der Muttersprache sowie der Sprache der weiteren Kommunikation (Fach- oder Landessprache) unterstützt. So werden Schreib- und Lesefähigkeiten sowie der Umgang mit schriftlichen Produkten geschult. Religiöse Texte sind oft willkommen, um als Übergangsmaterial von einer Sprache in eine andere zu dienen. Hier kommt die Bibelübersetzung mit ihren mündlichen und schriftlichen Aspekten ins Spiel. Die lebendigen historischen Geschichten und ein gemeinsames Thema vom Beginn der Schöpfung bis hin zu einer ewigen Zukunft bieten eine Vielzahl von Genres. Die Sprachentwicklung als Teildisziplin der Bibelübersetzung unterstützt Sprachen, die am Rande des Aussterbens stehen, bei der Entwicklung von Überlebensstrategien wie der mehrsprachigen Bildung (MLE). MLE selbst verfolgt sowohl Early-Exit- als auch mehrsprachige Ansätze. Literatur als übergreifende Disziplin von MLE beinhaltet Linguistik, Pädagogik, Anthropologie und Schriftlichkeit und unterstützt die Entwicklung von MLE-Programmen. Alle diese Teildisziplinen zusammen ermöglichen ein erfolgreiches Zusammenspiel zwischen der Wissenschaft der Bibelübersetzung und der mehrsprachigen Bildung. In diesem Artikel werden wir einen strategischen Ansatz diskutieren, der beide Disziplinen miteinander verbindet.

1. Einleitung

Die Anfänge der mehrsprachigen Bildung (MLE) reichen bis ins Jahr 1953 zurück, als die UNESCO die Verwendung der Volkssprache1UNESCO 1953. Der Gebrauch der Volkssprachen im Unterricht. Frankreich. Online: URL: http://www.inarels.com/resources/unesco1953.pdf [PDF-File] [Stand 2021-11-10]. Der Band enthält Artikel von Fachleuten, die sich im November 1951 in Paris trafen, um eine kontinentale Studie über den Gebrauch der Volkssprachen zu diskutieren, die alle fünf Kontinente umfasste. Diskutiert wurden verschiedene Pilotprojekte mit mundartlichem Unterricht. in Bildungsprojekten hervorhob. Fast vierzig Jahre später, im Jahr 1990, markierte die Weltkonferenz über Bildung für alle, die in Jomtien, Thailand, stattfand, einen weiteren Meilenstein in der Entwicklung von MLE-Programmen. Auf dieser Konferenz einigten sich die Delegierten aus 155 Ländern darauf, allen Kindern den Zugang zur Grundschulbildung zu ermöglichen und den Analphabetismus weltweit zu verringern (UNESCO, 2015). In einem weiteren Schritt wurde 1999 ein jährlicher Tag der Muttersprache am 21. Februar eingeführt. Im Zuge dieser Entwicklungen wurde auch die menschliche Sprache als immaterielles, lebendiges Kulturerbe der Menschheit anerkannt.2UNESCO 2008. Intangible Cultural Heritage. Living Heritage and Mother Languages. Online: URL: https://ich.unesco.org/en/ich-and-mother-languages-00555 [Stand 2021-11-06]. Das Bewusstsein stieg, nachdem erkannt wurde, dass die Globalisierung, die Digitalisierung und die enormen Migrationsbewegungen, die auf die Arbeitswelt ausgerichtet sind, das Sprachensterben verstärken und zu einer Mehrsprachigkeit führen, so dass nur noch einige wenige, weitgehend gesprochene Sprachen für eine breitere Kommunikation übrig bleiben. Das Dokument „Das Dilemma der Muttersprache“ aus dem Jahr 2003 spiegelt die wirtschaftliche und soziale Sackgasse wider, in die Nationalstaaten geraten, wenn große gesellschaftliche Gruppen weniger oder gar nicht gebildet sind (siehe auch Kosonen 2013).3UNESCO 2003. The mother tongue dilemma. New York: UNESCO. https://unesdoc.unesco.org/ark:/48223/pf0000130800 [Stand 2021-11-06]. Keine dieser Interventionen hat jedoch die Entwicklung von MLE wesentlich vorangebracht. In den letzten 15 Jahren sind nur sehr lokale und kleine Projekte entstanden.

Zunächst werden wir uns mit der Muttersprache und dem Erstspracherwerb beschäftigen, da die Forschung zu diesen Themen für das Verständnis von MLE und ersten Bibelübersetzungsprojekten von zentraler Bedeutung ist. Zweitens wird die Bedeutung und Funktion von Erstbibelübersetzungsprojekten in den Blick genommen. Drittens ist das breite Spektrum der MLE-Strategien von Interesse, und viertens sehen wir das Zusammenspiel beider als kombinierte Versuche zur muttersprachlichen Bildung.

2. Erst-Bibelübersetzungsprojekte – Kontexte

Erst-Bibelübersetzungsprojekte zielen darauf ab, eine örtliche Kirche oder eine Gruppe von Gläubigen zu unterstützen, die keinen oder nur einen begrenzten kognitiven Zugang zu Bibelübersetzungen aus den Sprachen ihrer Umgebung haben.4Es muss zwischen Erstbibelübersetzungen, neuen Bibelübersetzungen und Revisionsbibelübersetzungen unterschieden werden. Neue Bibelübersetzungen und Revisionen stehen in Kontexten, in denen es mindestens eine bestehende und verwendete Bibelübersetzung gibt. Neue Bibelübersetzungen unterscheiden sich von Revisionsübersetzungen insofern, als sie nicht dem Genre einer traditionellen Bibelübersetzung folgen, wie dies bei Revisionsübersetzungen der Fall ist, wenn sie sich an einen bestimmten Übersetzungsstil, Wortschatz, Grammatikgebrauch oder Satzbau halten. Erste Bibelübersetzungen als Teil der Bibelübersetzungswissen­schaft bieten daher weltweit ein großes Erfahrungsfeld aus Linguistik, Pragmatik, Übersetzungswissenschaft, Anthropologie, Pädagogik und Psychologie (Werner 2018:135-164). Die erste Übersetzung in die jeweilige Landessprache stellt nicht nur ein religiöses Dokument dar, sondern ist auch ein politisches Statement, da die Landessprache durch eine Orthographie und ein Produkt ausgedrückt wird, das als literarisches Werk eine repräsentative Literaturgattung darstellt. Die politische Haltung ist im Wesentlichen das, was die MLE mit den ersten Bibelübersetzungsprojekten verbindet.

Erst-Bibelübersetzungen in Kontexten, in denen es keine Bibelübersetzung in der Muttersprache gibt, sind Produkte langjähriger linguistischer und anthropologischer Forschung. Warum ist das so?

Erstens entspricht der Grundgedanke von MLE den Erst-Bibelübersetzungsprogrammen, die mit der Muttersprache beginnen, aber bei Referenzbibeln, der Sprache der Glossare, des Referenzmaterials oder der Einbeziehung unterstützender Institutionen an der Sprache der weiteren Kommunikation oder der Landessprache festhalten.5So verweisen beispielsweise Bibeln in „kurdischen“ Sprachen in der Türkei, die zur indo-iranischen Sprachfamilie gehören, auf türkische Bibeln und exegetisches Material, obwohl Türkisch zur türkischen Sprachfamilie gehört. Dasselbe gilt für Sprachlernmaterial wie Wörterbücher, Fibeln oder Leseprodukte, die sich ebenfalls auf Türkisch beziehen.

Zweitens ist eine Übersetzung nur dann erfolgreich, wenn das Idiom der Muttersprache gut erforscht ist und Phonologie, Orthographie und mündliche Aufnahmen mit dem geschriebenen Text übereinstimmen. Daher bieten Computerprogramme wie Scripture App Builder6Am weitesten verbreitet ist der Scripture App Builder, eine Computer-App von SIL International, die sehr einfach einen geschriebenen Text mit Audio zusammen­führt und im App Store zur Verfügung stellt. Scripture App Builder. Dallas: SIL International. Online: URL: https://software.sil.org/¬scriptureappbuilder/ [Stand 2021-10-10]. heutzutage Text und Audio zusammen an, um sowohl Analphabeten als auch Lese- und Schreibkundige zu erreichen. Andere Tools wie FieldWorks Language Explorer (FleX)7FieldWorks Language Explorer. Dallas: SIL International. Online: URL: https://software.sil.org/fieldworks/ [Stand 2021-10-10]. unterstützen die phonologische und morpho-syntaktische Analyse einer Sprache.  FleX ermöglicht Interlinearisierung und baut während der Interlinearisierung ein Lexikon auf. Die linguistische Analyse erlaubt die Beschreibung der Grammatik, des Wortschatzes und der diskursiven Merkmale der Sprache.

Erste Bibelübersetzungen und eine gute linguistische Analyse zeigen jedoch nur begrenzten Erfolg und helfen Sprachen, die am Rande des Aussterbens stehen, nicht.  Wie die EGIDS-Skala zeigt,8Ein Instrument zur Beschreibung der Sprachbewertung ist die Expanded Graded Intergenerational Disruption Scale (EGIDS) von Paul Lewis und Gary Simons, die die GIDS-Skala von Fishman erweitert haben. Auf dieser Skala wird der Status einer Sprache beschrieben und in den weiteren Kontext der zu erwartenden Entwicklungen gestellt. Die meisten Sprachen, die seit mehr als fünfzig Jahren unter einer dominanten Landessprache stehen, befinden sich im Bereich 6b und sind „bedroht“. Die Sprache wird nur in der Familie und nicht im öffentlichen Raum verwendet. SIL International 2020. Language vitality 2020. Dallas: SIL International. Online: URL: https://www.sil.org/­about/­endangered-languages/language-vitality [Stand 2021-10-10]. ist es wichtig, sich auf die Alphabetisierung und den Gebrauch der Muttersprache als Schriftsprache zu konzentrieren, damit die Kinder Lesefähigkeiten entwickeln. Durch das Lesen werden Ideen zum Ausdruck gebracht, diskutiert und weitergeführt, Traditionen gefestigt und eine Identität aufgebaut. Zugehörigkeit und Identität sind von zentraler Bedeutung für einen gesunden Ethnozentrismus, der eine Abgrenzung gegenüber „dem Anderen“ ermöglicht und die Identität prägt. Das Gewissen ist dabei das Hauptmerkmal. Es wird durch Enkulturation gebildet und konstituiert die Identität, das Selbst und die Zugehörigkeit (Käser 1998:130-131; Iurato 2015:8-81, 94).

Im Prozess der Bibelübersetzung steht die Auswertung des sprachlichen Inventars einer Muttersprache und des Wörterbuchs dieser Sprache im Mittelpunkt. Die Bibelübersetzung umfasst viele Gattungen wie Erzählungen, Lyrik oder Prosa.

3. Verständnis von Mehrsprachigkeit und mehrsprachiger Bildung

Die mehrsprachige Erziehung ist, wie der Name schon sagt, auf Mehrsprachigkeit ausgerichtet. Sie basiert auf der Prämisse „first-language-first“. MLE beginnt also mit der Muttersprache, auch Erstsprache (L1) genannt, und geht über in die Sprache der weiteren Kommunikation oder eine Landes­sprache (L2).9Der Übergang von der L1 zur L2 beginnt mit einer Einführung in die L1, der mündlichen Beherrschung der L1 und gut ausgebildeten Lese- und Schreibfähig­keiten. Dies geschieht bevor der Schwerpunkt auf das Lesen und Schreiben in der L2 und die mündliche Beherrschung der L2 gelegt wird. Danach wird das flüssige Lesen und Schreiben in beiden Sprachen, die Einführung in beide Sprachen und schließlich das lebenslange Lernen in beiden Sprachen betont. SIL International 2015. Multilingual Education. Brochure. Dallas. Online: URL: https://www.sil.­org/sites/­default/files/mle_­brochure­_2015_a4_­english_web.pdf [PDF-File] [Stand 2021-11-10]. Es werden verschiedene Konzeptionen von MLE-Projekten diskutiert. Ein Standard-MLE-Ansatz wird von der Zentralregierung oder einer lokalen Behörde geleitet und ist auf Volkssprachen (L1) ausgerichtet, die sich von der Sprache der höheren Bildung und der Wirtschaft (L2) unterscheiden. Aufgrund des politischen Systems reichen MLE-Programme, wenn sie überhaupt eingeführt werden, von frühzeitigen Übergangspro­gram­men bis hin zu vollständigen zwei- oder mehrsprachigen Schulbildungssystemen. In den meisten Programmen steht jedoch die Muttersprache (L1) im Mittelpunkt und wird zumindest zu Beginn als Unterrichtssprache verwendet. Nichtsdestotrotz ist die Sprache des weiteren Gebrauchs (L2) von zentraler Bedeutung für das Hochschul­system, weshalb sie für die Kombination mit Bibelübersetzungs­versuchen von Interesse ist.

3.1 Motivation für MLE-Programme

Historisch gesehen konzentrieren sich die nationalen Schulsysteme auf nur eine Sprache als Unterrichtssprache. In Ländern mit mehr als einer Landessprache führt dies zu unterschiedlichen Schulsystemen, die sich an eine Unterrichts­sprache halten, wie z.B. eine französische Schule, eine deutsche Schule oder eine englische Schule. Diejenigen, die die Unterrichtssprache nicht beherrschen, sind gezwungen, die Sprache zu lernen, um dem Unterricht folgen zu können. In einigen Fällen wird dies erzwungen, in anderen sind die Schüler auf sich allein gestellt. So oder so: Wenn die Schüler dem Unterricht nicht folgen können, ist die Gefahr groß, dass sie ihre schulischen Leistungen vernachlässigen und damit auch die Chance verpassen, in das höhere Schulsystem einzusteigen. Dies betrifft natürlich nicht nur das Individuum, das am meisten unter dem Verlust leidet, sondern ein solches Gesellschaftssystem erzeugt auch eine Menge ungebildeter Menschen, die das Wirtschaftssystem belasten. Wenn Menschen in ihrer Muttersprache unterrichtet werden, schöpfen sie ihr kognitives Potenzial optimal aus, und auf diese Weise sind das gemeinsam erarbeitete enzyklopädische Wissen, das muttersprachliche Lexikon und die Wahrnehmung der Welt leichter zugänglich, und neue Ideen lassen sich leichter entwickeln (Thomas & Collier 1997).

3.2 Identität, das Selbst und die Mehrsprachigkeit

Gewissen und Denken sind die wichtigsten Antriebskräfte des Selbst, der Identität und der Persönlichkeit. Sie alle werden nur dann kultiviert, wenn die Muttersprache geschätzt wird und genutzt und entwickelt werden darf. Kindern fällt es leichter, sich mit zwei oder mehr Sprachen auseinanderzusetzen, wenn eine Sprache gut beherrscht wird. Es ist auch einfacher, in der Muttersprache lesen und schreiben zu lernen als in einer anderen Sprache. Der Übergang von einem bekannten Rechtschreib- und Schriftsystem zu einem anderen ist also einfacher als der Einstieg in eine Fremdsprache. Eine Ausnahme bilden die Zweisprachigen, die für jeden sprachlichen Kontext einen eigenen Wortschatz und ein eigenes morpho-syntaktisches Gedächtnis entwickeln. Andererseits sind das Denken, das Bewusstsein und die Wahrnehmung der Welt zentral und bilden die Identität und das Selbst (Fabbro 1996: xii, 89-90).

3.3 Besonderes Publikum von MLE – Kinder

Die Zielgruppe für MLE-Programme sind kleine Kinder, die den Unterschied zwischen ihrer Muttersprache und der Sprache der Nachrichten, ihrer Nachbarn oder der Sprache, die von den meisten Menschen in ihrem Land gesprochen wird, erkennen. Das Schulungsmaterial für das erste Jahr wird im Wesentlichen für sie erstellt. Das Zusammenspiel zwischen den Beamten und dem MLE-Leiter ist von zentraler Bedeutung. Die UNESCO10Die UNESCO unterstreicht seit 1953 die Bedeutung der Muttersprache. Der Tag der Muttersprache wurde zur Erinnerung eingeführt. UNESCO 2014. Multilingual Education. Why is it important? How to implement it? Online: URL: https://unesdoc.unesco.org/ark:/48223/pf0000226554 [Stand 2021-10-10]. fördert MLE und erklärt die Muttersprache zu einem zentralen Bestandteil der Kindererziehung.11Malone entwickelte ein Ressourcen-Kit zur Bewertung des MLE-Bedarfs: MTB MLE-Ressourcen-Kit: Einbeziehung der Ausgeschlossenen. Sie entwickelte dieses Kit, um die verschiedenen Teile und Akteure in MLE-Programmen zu erkennen. Alle Nationen wurden aufgefordert, sich der Erklärung zur Muttersprache anzuschließen, was die meisten auch taten. Aus diesem Grund muss das Unterrichtsmaterial von den nationalen Schulbehörden genehmigt werden. Es muss mit dem Unterrichtsmaterial der nationalen Sprachschüler übereinstimmen. Mit dem MLE-Unterricht soll jedoch vermieden werden, dass die Schüler einer Muttersprache, die nicht die Landessprache oder die Sprache der allgemeinen Kommunikation ist, mit zusätzlicher Arbeit belastet werden, da dies oft zu Frustration führt. In einigen Ländern findet der Unterricht in der Muttersprache außerhalb des normalen Schulsystems statt. Ein solcher Ansatz ist jedoch nur begrenzt erfolgreich und hilft den vom Aussterben bedrohten Sprachen nicht.

4. Erst-Bibelübersetzungen und MLE-Programme

Bei der Bibelübersetzung steht die Muttersprache (L1) im Mittelpunkt des Interesses. Beginnend mit dem phonologischen Inventar, dem Vorschlag einer Orthographie, dem morpho-syntaktischen Register und dem Textdiskursregister ist der Übergang zur Übersetzung ein wesentlicher Schritt zur Entdeckung einer Muttersprache. Der Sprecher der Muttersprache ist das grundlegende Subjekt, das diese Schritte leitet. Sie sind diejenigen, die ihre Sprache am besten kennen, auch wenn sie vielleicht nicht die besten Übersetzer sind, wenn sie die Aufgabe der Übersetzung nicht verstehen oder nicht in der Lage sind, im Team zu arbeiten.12Kiraly schlägt einen sozial-konstruktiven Ansatz beim Übersetzen vor. Die Übersetzer fangen an, ihre Übersetzungsprozesse und -ergebnisse zu diskutieren und konzentrieren sich dabei auf eine gemeinsame Vorgehensweise, um das Ziel einer Übersetzung zu erreichen, die dem Skopos des Projekts folgt (2000:4). Die Ergebnisse der ersten Bibelübersetzung sind auch von zentraler Bedeutung für MLE und Bildungsmaterialien wie Fibeln, Erstleseliteratur und audiovisuelle Anleitungen zu Kunst und anderen kommunikativen Ausdrucksformen. Nicht nur das geschriebene Wort, sondern auch Zeichnungen, Kunsthandwerk, Bildhauerei und Musik sind grundlegende Elemente für den Ausdruck von Kultur. Bislang liegt die Verbindung zwischen ersten Bibelübersetzungen und MLE im Wesentlichen im Bereich der Linguistik und Anthropologie.

4.1 MLE-Programme – Projektplanung

Der Erstspracherwerb wird von Kindern in der Regel im vierten Lebensjahr abgeschlossen (Clark 2009:14). Nach diesem Prozess sollte die schulische Ausbildung mit dem Training von Lesen und Schreiben und anderen Lernerfahrungen beginnen. Idealerweise wird nach Abschluss des Erstspracherwerbs mit einem MLE-Programm für Kinder begonnen. Mehrsprachige Personen und ihre Entwicklungsprozesse werden im Folgenden erörtert.

Susan Malone hat ein MLE-Projektplanungsinstrument für MLE-Projekte veröffentlicht (2010). Sie hat selbst Programme ins Leben gerufen und hat Erfahrung mit verschiedenen Kontexten, wie Papua-Neuguinea im Jahr 1991 (Malone 2010:3), Asien, Afrika und dem Pazifik. Weitere Beispiele und ein Fokus auf 11 südostasiatische Länder werden von Kosonen und Young (2009) vorgestellt.

MLE-Programme weisen unterschiedliche Annäherungsgrade durch die beteiligten Sprachgruppen auf. Ein Beispiel für ein achtjähriges Programm zielt auf eine Sprachsituation ab, in der funktionale Zwei- oder Mehrsprachigkeit erforderlich ist (Malone 2010:17). Dies ist oft der Fall in großen Gesellschaften mit vielen offiziell anerkannten Sprachen.

Es gibt einige MLE-Programme, die auf einen dreijährigen Übergang abzielen, wenn eine Muttersprache nicht offiziell anerkannt ist, aber zu Hause gut gedeiht, d. h. ein Niveau von 6b auf der EGIDS-Skala hat (siehe oben). Dies ist nicht sehr empfehlenswert und kommt eher in Kontexten mit begrenzter Akzeptanz von MLE-Programmen vor. Bei solchen Projekten wird ein Jahr lang in der Schule mit dem Lesen und Schreiben der Muttersprache begonnen (2010:16). In diesem ersten Schuljahr wird die Landessprache oder die Sprache der allgemeinen Kommunikation maximal für 20 % des Unterrichts oder als Sprachlernmaterial in kleinem Umfang verwendet. Im ersten Schuljahr bzw. in der ersten Klasse beträgt der Umfang des muttersprachlichen Unterrichts zum Lesen und Schreiben 80%. Im zweiten Schuljahr beginnt ein 50%-iger Übergang zur Landessprache oder zur Sprache der breiteren Kommunikation durch Einführung der Orthographie und des phonemischen Systems der Landessprache oder der Sprache der breiteren Kommunikation. Außerdem wird Übergangsmaterial von der Muttersprache zur Landessprache bereitgestellt. Die anderen 50 % sind auf das Lesen und Schreiben des Lehrmaterials der 2. Klasse oder des Schuljahres in der Muttersprache ausgerichtet. Im dritten Schuljahr geht der Unterricht zu 80 % in den Übergang über und nur noch zu 20 % in den muttersprachlichen Unterricht. Das vierte Schuljahr wird dem nationalen Schulsystem angeschlossen. Es ist zu betonen, dass der reguläre Schulstoff des ersten und zweiten Schuljahres in der Muttersprache unterrichtet werden muss, während im dritten Schuljahr die Schüler hauptsächlich mit der Landessprache oder der Sprache der allgemeinen Kommunikation in Kontakt kommen. Im MLE wurden also die kognitiven Fähigkeiten in der Muttersprache trainiert, um Sprache zu lernen und zu beherrschen. Die Grundprinzipien sind immer dieselben.

Die MLE-Programme für frühe Bildung werden hier erwähnt, weil sie eine Kombination mit Erst-Bibelübersetzungsprojekten ermöglichen, wenn die Landessprache (L1) durch eine phonologische und grammatikalische Beschreibung linguistisch erforscht wird. Wir müssen jedoch bedenken, dass die normalen MLE-Programme längere Übergänge vorsehen. Sie beginnen mit dem Schulbeginn und erstrecken sich über die gesamte Schulzeit, so dass die Möglichkeit besteht, andere Sprachen zu erlernen.

Die folgende Übersicht zeigt einen möglichen Projektplan:

Phase I – das Lernen findet vollständig in der Muttersprache des Kindes statt.
Stufe II – Aufbau einer fließenden Beherrschung der Muttersprache. Einführung der mündlichen L2.
Stufe III – Aufbau der mündlichen Sprachkompetenz in der L2. Einführung der Alphabetisierung in der L2.
Stufe IV – Verwendung von L1 und L2 für lebenslanges Lernen.
4.2 MLE – Alphabetisierung und Sprachentwicklung

Alphabetisierung ist eine weitere Disziplin, die im Zusammenhang mit MLE und Bibelübersetzung im Mittelpunkt steht. Der Begriff beschreibt die Fähigkeit zu lesen und zu schreiben. Im Laufe der Zeit hat sich die wissenschaftliche Disziplin der Alphabetisierung mit Prozessen der mündlich-auralen Wahrnehmung und des Schreibens und Lesens aus pädagogischer, psychologischer und soziologischer Sicht beschäftigt. In der Bibelübersetzung liegt der Fokus der Alphabetisierung auf dem flüssigen Lesen und Schreiben sowie der mündlichen Wahrnehmung gesprochener Texte, so dass die Erstellung von Lesematerialien wie Fibeln und Übergangslektüre oder Audioprodukte für den Spracherwerb in den Mittelpunkt rücken. Heute werden Apps wie PrimerPro13PrimerPro 2020. Dallas: SIL International. Online: URL: https://software.­sil.­org/primerpro/ [Stand 2021-10-10]. oder Bloom14Bloom. Dallas: SIL International. Online: URL: https://bloomlibrary.org/landing [Stand 2021-10-10]. angeboten. Sie sind leicht einzurichten, um Übergangs- oder Lesematerial zu produzieren, das auf lokalem und kontextualisiertem Material basiert und welches leicht eingebaut werden kann (z. B. Bilder, Zeichnungen und Lieder). MLE, begleitet von diesen Apps, hilft Muttersprachlern, solches Material selbst zu produzieren. Die Verfügbarkeit und einfache Nutzung dieser Apps machen den Sprachentwicklungsprozess nachhaltig und finanziell unabhängig. Die Produkte sind alle online verfügbar und können in verschiedenen Formaten wie PDF, Power Point Präsentationen oder Videosequenzen genutzt werden.

Sprachförderung ist zum einen ein Begriff, der den Erst- oder Mutterspracherwerb beschreibt, zum anderen ist es ein wissenschaftliches Thema mit einem breiten Anwendungsbereich. Für unsere Zwecke liegt der Schwerpunkt auf der Sprachgefährdung als der ursprünglichen Kraft des Sprachverlusts. Aktivitäten zur Verlangsamung oder Verhinderung des Sprachverlusts fallen unter das Thema Sprachentwicklung. MLE bietet eine solide Grundlage und eine Übergangsbrücke von der Muttersprache zur Landessprache oder zur Sprache der allgemeinen Kommunikation (siehe Bild Malone 2010:13). Dabei steht die Anerkennung der Muttersprache als National- oder Welterbe durch die nationale Regierung oder die UNESCO an erster Stelle. Zweitens wird das öffentliche Bewusstsein für die Kultur, die eine Muttersprache überlagert, durch offizielle Sprachaktivitäten wie MLE-Projekte geschärft. MLE-Ansätze zielen auch darauf ab, kulturelle Unterschiede zwischen der muttersprachlichen Gemeinschaft und der nationalen Gemein­schaft zu überbrücken. Dies geschieht zum einen durch die Annäherung an beide Sprachgruppen im Schulsystem und zum anderen auf offizieller Ebene durch die gegenseitige Entwicklung eines MLE-Projekts durch Beamte beider gesellschaftlicher Gruppen. Es wird auch zu einer sprachlichen Annäherung kommen, da beide Sprachen öffentlich sind und in bestimmten Kontexten gegenseitig anerkannt, entwickelt und verwendet werden, ohne die Bedeutung einer nationalen Sprache oder der Sprache der allgemeinen Kommunikation in Frage zu stellen. Der lokale Gebrauch einer Muttersprache innerhalb von Familien oder sozialen Gruppen steht nicht im Widerspruch zum Gebrauch der Landessprache für höhere Bildung und wirtschaftliche Zwecke.

5. Schlussfolgerung – MLE und Bibelübersetzung

Aus vielen Gründen ist die mehrsprachige Erziehung (MLE) ein wichtiges Instrument für den Umgang mit verschiedenen Sprachen. Der wirtschaftliche Gewinn für eine Gesellschaft besteht darin, dass sie größere soziale Gruppen erreicht. MLE und erste Bibelübersetzungsprojekte haben gemeinsam, dass die sprachlichen Voraussetzungen zusammengehören. Ein gründliches Verständnis der Sprache und der Kultur ist die Voraussetzung für die Übersetzung und das Verständnis eines so umfangreichen Textes wie der Bibel. Gleichzeitig ist ein solches Verständnis auch für die Vorbereitung von Material für MLE-Programme wichtig. Die Überschneidung liegt im Interesse der Entwicklung von Lese- und Schreibfähigkeiten bei Kindern und Erwachsenen. Der zusätzliche Nutzen von MLE besteht darin, dass Identität und Zugehörigkeitsgefühl aufgebaut werden, was zur kognitiven Beherrschung von mindestens zwei Sprachen führt. Erst-Bibelübersetzungsprojekte profitieren von fähigen und bi- oder mehrsprachigen Muttersprachlern, die wissen, wie man ihre Sprache schreibt und liest.

 

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Disability Studies und Bibelübersetzung

werner [at] forschungsinstitut.net

 

Abstrakt

Inklusives Übersetzen ist ein wichtiges Werkzeug, um die Vielfalt der Menschheit (Diversität) zum Ausdruck zu bringen. Disability Studies zeigen die Notwendigkeit von sprachlichem und übersetzerischem Inklusivismus auf. Sie wollen das Anderssein von Menschen am Rande der Gesellschaft präzisieren. Diese Marginalisierung führt zu Diskriminierung und Ableismus (UK: disablism). Um die Grenzen des „Normalen“ in Richtung der Menschen am Rande zu verschieben, sind inklusivistische linguistische Ansätze notwendig.

 

Disability Studies (DS) haben ihren Ursprung in den Sozialwissenschaften der 1960er Jahre, zeitgleich mit der schwulen und feministischen Befreiungsbewegung und der lateinamerikanischen Befreiungstheologie. Seitdem gibt es ein zunehmendes Bewusstsein für DS in der Theologie, aber nicht so sehr in der Missiologie (in Deutschland: Interkulturelle Theologie) oder in der Bibelübersetzung. Die Forschung über, von und mit Menschen mit körperlicher oder geistiger Beeinträchtigung ist in diesen Disziplinen noch nicht eingeführt. In den Disability Studies werden die Geschichte, die Bedürfnisse (z.B. Pflege, Assistenz) und die sozialen Rahmenbedingungen von Erwachsenen mit körperlicher oder geistiger Beeinträchtigung untersucht. Dies gilt immer noch weniger in der Missiologie, wo weder christliche Eltern noch andere christliche Betreuer von Kindern oder solche Gruppen, die sich mit christlicher Betreuung beschäftigen, im Fokus standen.

Angesichts der teuren Langzeit-(Bibel-)Übersetzungsausbildung, der Vorbereitung in interkultureller Linguistik, der kostspieligen Mitgliederbetreuung und Verwaltungsstrukturen sowie der hohen Kosten für medizinische oder körperliche Hilfen sowohl im Einsatz als auch zu Hause, besteht in der Missiologie ein offensichtlicher Mangel an Forschung zu DS. Aus einem inklusiven Ansatz heraus eröffnet ein solcher Bedarf den Entsendeorganisationen die Möglichkeit, Informationen über die Bedürfnisse ihrer Mitarbeiter mit körperlicher oder geistiger Beeinträchtigung zu sammeln sowie die Belange von Menschen mit Behinderung innerhalb von Personengruppen im Feld zu evaluieren. Die Zielgruppe macht immerhin mindestens zehn Prozent der Bevölkerung einer Ethnie aus (12,8% in den USA, Zensus 2017; 10% in Deutschland, Zensus 2016).

DS entstanden aus den gesellschaftlichen Vorurteilen gegenüber Menschen mit Behinderungen (d.h. „ableism“; UK: „disablism“). Dies wirkte sich aus in Form von Diskriminierung, Isolation und Ausgrenzung von behinderten Kriegsveteranen und Menschen mit Beeinträchtigungen. Sie waren in speziellen Pflegeeinrichtungen isoliert von einer normalen Umgebung und  nicht in der Lage, an Universitäten zu studieren oder die Bedürfnisse des täglichen Lebens (z.B. Einkaufen, Kochen, Umgang mit Ämtern) zu bewältigen, allein aufgrund der Tatsache, dass der öffentliche Raum für sie unzugänglich war. Hinzu kommt die Weigerung der Behörden, auf die Bedürfnisse der Eltern von Kindern mit Beeinträchtigungen zu hören, insbesondere in Bezug auf die Ausbildung oder die Betreuung zu Hause statt in speziellen Pflegeheimen. Während sich in den USA der Aufschrei gegen die Diskriminierung von Behinderten auf die (Un-)Zugänglichkeit und (fehlende) Bildung bezog, stand in Großbritannien und Deutschland das Streben nach/der Bedarf an unabhängigem, unterstütztem Alltag im Vordergrund. Radikale Insiderbewegungen wie die „Krüppelbewegung“ (in Deutschland) wurden nicht nur auf nationaler, sondern auch auf internationaler Ebene wahrgenommen (Fandrey 1990). Die UNO hat 2006 die „Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen“ verabschiedet. Die USA, Großbritannien und Deutschland ratifizierten die Konvention im Jahr 2009; bis März 2018 gab es weltweit 175 Ratifizierungen (Online siehe https://www.un.org/).

Die Begriffe „Teilhabe“ und „Integration“ wurden zu Schlagwörtern der Anfangszeit, später abgelöst durch den vielschichtigen Begriff „Inklusion“, der ein inklusives Umfeld auf allen Ebenen des Lebens wie Barrierefreiheit, unterstütztes selbständiges Leben, Sprache, soziale Akzeptanz und Wahrnehmung ausdrückt. Historisch gesehen war die Terminologie der gängigen Bibelübersetzungen (z.B. King James Version, Lutherbibel) sehr einflussreich. Später, als durch den Sprachwandel einige Begriffe in der Umgangssprache als Schimpfwörter verwendet wurden, passte sich die Übersetzungstradition nicht an die moderne inklusivistische Sprache an, sondern wurde exklusiv. Beispiele wie „Krüppel“, „Idiot“, „Invalide“, „lahm“, „Unmensch“ usw. sind heute aus dem akzeptablen Sprachgebrauch geächtet. Aus Mitleid oder Sym- statt Empathie wird jedoch in der Bibelübersetzung manchmal noch (un-)bewusst exklusivistische Terminologie verwendet. So verwendet die 2017 revidierte Lutherbibel immer noch einen „Lahmen“ statt „gelähmte Person“ (Mt 4,24) und folgt damit der „lutherischen Tradition“. Ein Grund dafür ist der Mangel an behinderten Bibelübersetzern, Exegeten und theologischen Hermeneutikern, ganz entgegen dem Motto: „Nichts über uns, ohne uns.“ Dies ist eine Parallele zur Entwicklung einer geschlechtsinklusiven oder feministischen Sprache in den 1980er Jahren, die 1999 in der Lutherbibel zur Revision von Weib, das die Bedeutung „Schlampe“ trug, zu Frau, „Frau“, führte.

In der Bibelübersetzung gibt es ähnliche Forderungen nach politischer Korrektheit in Bezug auf die Übersetzung von Beschreibungen von Menschen mit einer Behinderung sowie eine inklusivistische Wahrnehmung durch die Kirche. Wynn Kerry war einer der ersten, der sich mit diesem Thema auseinandergesetzt hat (2001). Er gab vier Empfehlungen für Übersetzer, wobei die hilfreichste darin bestand, von der Verallgemeinerung zur beschreibenden Terminologie überzugehen. So kann „ein Lahmer“ zu „ein Mann/eine Frau mit einer Mobilitätsbehinderung“ werden, und „ein Blinder“ kann als „ein Mensch mit einer Sehbehinderung“ ausgedrückt werden.

Markus 8,25 lautet in den meisten (wörtlicheren) Bibelübersetzungen „sein Augenlicht wurde wiederhergestellt“ (so NRSV; vgl. Dt. wiederhergestellt). Dies lässt die Zuhörerschaft mit der Annahme zurück, dass die „Blindheit“ des geheilten Mannes höchstwahrscheinlich eine Beeinträchtigung war, die durch eine Krankheit im späteren Alter verursacht wurde, da die Sehkraft des Mannes „wiederhergestellt“ wurde („er sah wieder“, unter der Annahme, dass er zu einem bestimmten Zeitpunkt im Leben sah). Im besten Fall wird sich das Publikum fragen, ob der Mann blind geboren wurde oder erst später im Leben blind wurde. Diese Unsicherheit würde vor allem sensiblen Exegeten auffallen, die in ihrer Wiedergabe eine inklusive Sprache verwenden würden. Darüber hinaus muss die Hermeneutik berücksichtigen, dass die biblischen Autoren ihre kulturgebundene Wahrnehmung von Behinderung reflektierten.

Eine wörtliche Übersetzung, die die Sichtweise der NT-Autoren auf Behinderung transportiert, führte über mehr als neunzehn Jahrhunderte zur Ausgrenzung, Isolierung oder, seit dem 18. Jh., zur Abschiebung von Menschen mit Beeinträchtigung in spezielle Heime, aus dem kirchlichen Auftrag der Diakonie. Heute zwingt die Politik die Kirche als öffentlichen Akteur, die Inklusion von Menschen mit Behinderungen auf allen Ebenen der Gesellschaft zu ermöglichen, als Führungskräfte, Seelsorger und Mitarbeiter und natürlich auch als Mitglieder und Interessierte. Auf diese Weise wird hoffentlich die Sympathie aus Mitleid durch Empathie aus Gleichheit ersetzt und damit eine inklusivistische Rolle beim Aufbau von Vielfalt in der Gemeinschaft der Heiligen wahrgenommen (Reynolds 2008). Zusätzliche Lektüre: Kerry 2007a, 2007b.

References

Fandrey, Walter 1990. Krüppel, Idioten, Irre. Zur Sozialgeschichte behinderter Menschen in Deutschland. Stuttgart: Silberburg-Verlag. [Engl.: Cripples, idiots, lunatics. On the Social History of Disabled People in Germany.].

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Wynn, Kerry H. 2007a. Johannine Healings and Otherness of Disability. Perspectives in Religious Studies 34, 61-75. (Heilung)

Wynn, Kerry H. 2007b. The Normate Hermeneutic and Interpretations of Disability within the Yahwistic Narratives, in Avalos, Hector, Melcher, Sarah J. & Schipper, Jeremy (eds.): This Abled Body. Rethinking Disabilities in Biblical Studies, 91-101. Atlanta: Society of Biblical Literature.

Rezension: Morton, Jeff 2012. Insider Movements: Biblically Incredible or Incredibly Brilliant?

Morton, Jeff 2012. Insider Movements: Biblically Incredible or Incredibly Brilliant? Eugene: Wipf & Stock, 126 Seiten.

werner [at] forschungsinstitut.net

Jeff Morton ist Professor an der Biola University’s Cook School of Intercultural Studies. Wie schon in seinen vorhergehenden Werken Two Messias (2011) und als Mit-Herausgeber von Chrislam (2011) hat er sich im vorliegenden Werk, im Rahmen von 12 kurz gefassten Artikeln, mit sogenannten „Insider Movements“, auch „Jesus Movements“ genannt, auseinandergesetzt. Angelehnt an Bewegungen, die Jesus als dem „Messias“ (Messias Movements) folgen (z. B. messianische Gläubige jüdischen Hintergrunds) untersucht er solche aus dem islamischen Bereich. Morton geht dabei auf die – für die gesamte Diskussion sehr hilfreiche – Unterteilung in religionstheologisches Verständnis, biblische Grundlagen und das Verständnis von Bekehrung / Umkehr ein. Diese drei Bereiche durchleuchtet er anhand der von den Hauptbefürwortern Kevin Higgins (Global Team; IJFM 2004-2009), Lewis Rebecca (Frontiers; IJFM 2007-2010), Dudley Woodberry (Fuller Seminary; 1989; 1996; 2007) und Rick Brown (SIL International; IJFM 2004-2010) getroffenen Aussagen in Evangelical Missions Quarterly (EMQ) und dem International Journal of Frontiers Mission (IJFM). Aufgrund ihrer Aktualität wird die im April 2013 erschienene ablehnende Haltung der World Evangelical Alliance (WEA) bezüglich Islam-kontextualisierter Terminologie in Bibelübersetzungen nicht behandelt. Fragen der Identität der moslemischen Messias Nachfolger, dem Verständnis von Kirche und der Übersetzung für den Islam anstössiger Terminologie in Bibelübersetzungen oder Schriftmaterial beantwortet er in seinen anderen Publikationen.

Gleich in der Einleitung und im ersten Kapitel macht Morton deutlich, dass er den Islam als „false religion with a false message about a false hope delivered by a false prophet, and written in a book filled with false claims“ (S. 9; Hervorhebungen im Original. EW) betrachtet. Um die, seiner Meinung nach, gravierenden Unterschiede zwischen dem biblischen und koranischen Gottesverständnis aufzuzeigen, benutzt Morton die Eigennamen Yahweh und Jesus im Kontrast zum islamischen Allah. Dabei wird für ihn die anti-christliche Ausrichtung des Islam vor allem am koranischen Textinhalt deutlich, den er durchgängig als Belegstelle aufzeigt.

Kapitel zwei beleuchtet die Vorstellung eines laut Higgins originären orthodoxen Islam, welcher sich von innen durch Messianische Moslems erneuert und gar nicht so weit von urchristlichen Ansichten entfernt sei (S. 14). Anhand des zentralen Ereignisses der Inkarnation Jesu zeigt er den „antichristlichen Geist“ (S. 17) des diese ablehnenden Islam auf. Im Weiteren bespricht Morton anhand ausgewählter biblischer Textbelegstellen von Befürwortern der Insider Bewegung seine drei Hauptargumente (siehe oben).

Im Weiteren bespricht er Gen 14:17-20, das Auftreten des Königs von Salem Mechisedek (Kapitel drei). Higgins sieht in dieser Perikope ein Handeln Gottes (El in V. 18 in Anlehnung an semitisch Elohim und Allah) in anderen Religionen, namentlich der Religion Melchisedeks, welcher eine Vorausschattung des Messias darstellt. Morton lehnt dies ab. Letzterer nimmt an, dass Melchisedeks Religion, ähnlich wie die des Abraham, dem Kern nach den wahren Gott Yahweh anbetete und deshalb bei Yahweh Beachtung fand.

In Kapitel vier bespricht Morton 2 Könige 5:15-19. Die Geschichte Naamans und dessen Heilung von Lepra durch den Propheten Elisa ist laut Higgins ein weiterer Hinweis darauf, dass ein Gläubiger in seinem religiös-kulturellen Umfeld verharren soll. Die Tatsache das Naaman von Israels Erde nach Aram mitnahm zeigt, dass er mit der Erlaubnis des Propheten in seiner kulturell-religiösen Tradition bleiben sollte. Über die biblische Verknüpfung des Besitzes von der Erde Israels und den nun von ihm verehrten Gott Israels (V 15, 17) zeigt diese Geschichte dass man Yahweh auch als Nicht-Israelit anbeten kann. Am, Ende wehr Morton solches als Argument aus dem Schweigen ab, da keine qualitative Aussage über die Stellung Naamans im Verhältnis zum Gott Abrahams getroffen würde.

In Kapitel fünf bespricht Morton Jona 1 und die Stellung des Propheten und der Schiffsbesatzung als Beweis für nicht-jüdische Yahweh Verehrung. Deren Beziehung zu Yahweh, allein aufgrund der erwähnten Gebete, kann seiner Einsicht nach nicht als Beweis für eine wirkliche Gottesbeziehung gelten.

Johannes 4 und Apostelgeschichte 8 sind weitere Stellen die von Befürwortern als Belegstellen nicht-jüdischer Anhänger des Yahwe-Kultes gelten und beweisen sollen, dass diese Volksgruppen in ihrem religiös-kulturellen Umfeld geblieben sind (Kapitel 6). Die Bekehrungen aus dem Volk der Samaritaner werden von Befürwortern oft als Beispiel für Insider Movements gesehen (S. 36-37). Morton schließt eine solche Ableitung aber wiederum aus dem Argument des Schweigens aus. Da nicht über eine detaillierte Umkehr der Samaritaner gesprochen wird kann man darüber auch nichts sagen.

Apostelgeschichte 15:19-21 (Kapitel 7), Apostelgeschichte 17:22-23, 28 (Kapitel 8), 1 Korinther 7:17-20 (Kapitel 9) und 1 Korinther 9:19-23 (Kapitel 10) runden die Betrachtungen ab, wobei die Argumentation ähnlich bleibt.

In Kapitel 10 greift Morton einen hier bemerkenswerten Vergleich von Woodberry auf. Dieser sieht Ähnlichkeiten zwischen dem Dekalog aus Exodus 20 und denselben Geboten im Koran. Morton vergleicht beides und kommt zum Ergebnis, dass (1) das Sabbat-Gebot im Koran nicht aufgegriffen wurde, da Moslems den Freitag als Feiertag nutzen (S. 74), (2) dass es zwei Gebote gibt, die nicht eindeutig im Koran beantwortet werden (keine anderen Götter, nicht töten), aber (3) dass die anderen Gebote auch im Koran auftauchen. Mohammed bleibt für Morton ein Plagiator. Interessant an diesem Punkt ist das Morton Woodberrys Ausführungen zu einer Annäherung an den Islam bis auf den Artikel von John Wilder im Jahre 1977 zurückführt: Some Reflections on Possiblities for People Movements Among Muslims (Missiology 1977). Das Ganze stellt für Morton einen inzwischen lange währenden und gefährlichen Paradigmenwechsel in der evangelikalen Theologie dar.

Danach geht Morton auf das Verständnis von Umkehr und Bekehrung und Christianisierung ein (Kapitel 11). Er sieht das Hauptanliegen der Befürworter von Insider Movements darin, um jeden Preis eine Christianisierung oder im schlimmsten Fall Verwestlichung von gläubigen Jesusnachfolgern aus dem Islam vermeiden zu wollen (S. 88-90). Morton verdeutlicht, dass diese Grundannahme falsch sei, da ein Bekehrter nicht Namens-Christ, sondern ein wahrer Christusnachfolger wird, der sich beliebig benennen könne, aber eben zu „Christus“ gehört. Dabei spielen kulturell-religiöse Argumente nur eine untergeordnete Rolle. Zum Abschluss schließt Morton mit einer klaren Absage an die Insider Movements als Teil des wahren Christentums (Kapitel 12).

Erwähnenswert sind noch die zwei Appendixes. Appendix 1 enthält eine Grundsatzerklärung von Bassam Madany gegen die Initialisierung von Insider Movements als einem westlichem Produkt. Appendix 2 ist eine Untersuchung von Roger Dixon zu Insider Movements in West Java, Indonesien. Roger Dixon hat die Bewegung (auch in Bangladesch) teilweise mit begleitet und kommt zu dem Schluss, dass es sich um ein falsches Evangelium und einen falschen Ansatz handelt, der viele Gräben aufgetan statt geschlossen hat.

Dieses Buch ist hilfreich, um sich ein Bild zur Theologie und Missiologie von Befürwortern und Gegnern des Insider Movement Ansatzes zu machen. Es ist an manchen Stellen ironisch, bzw. sarkastisch negativ, was dem „evangelikal-bibeltreuen“ und „konservativen“ Verständnis des Autors entspricht. Wenn eine theologisch Annäherung an den Islam – und das ist der Casus Knacksus in dieser Diskussion – nicht gewünscht wird, dann kommt man zu solchen Schlüssen. Vor allem die Auseinandersetzung zwischen Schrift und Koran machen diese Studie zu einem Hilfsmittel für apologetische Untersuchungen. Zum Schluss sollte noch gesagt werden, dass die Überbetonung eines westlichen Einflusses bei der Bildung von Insider Movements nicht die ganze Wahrheit abbildet. Teilweise stießen christliche Entwicklungshelfer in der islamischen Welt auf bereits existierende Kreise von Messiasnachfolgern derer sie sich annahmen. Letztere Entwicklung taucht jedoch bei Morton nicht auf.

Diaspora, Migration, Flucht und Bibelübersetzung

Eberhard Werner

 

Inhalt

Diaspora, Migration, Flucht und Bibelübersetzung. 1

Abstract 1

1.    Vorwort: Unergründliche Diaspora. 1

2.    Diaspora – Gründe: Versuch einer Eingrenzung. 3

3.    Auswirkungen der Diaspora – Personenkreise, Identität 5

4.    Missiologische Überlegungen zur Diaspora. 8

4.1 Generelle missiologische Überlegungen. 8

4.2 Einzelfallüberlegungen. 10

4.2.1 Identität(en) – In der Diaspora. 10

4.2.2 Anknüpfungspunkte an den christlichen Glaube – Diaspora und Kirche. 12

4.2.3 Kreative Einbindung in diakonische Strukturen. 14

Bibelübersetzung und Diaspora. 15

Zusammenfassung. 16

 

Abstract

Migrationsbewegungen gibt es seit Menschengedenken. Immer schon haben verschiedenste Ursachen solche Bewegungen ausgelöst, dabei interessiert uns wie Religionen sie eingeschränkt oder begleitet haben. Dabei zählen religiöse Feindschaften durchaus auch zu den Ursachen. Die christliche Kirche kennt solche Erfahrungen, ja ist Teil solcher Bewegungen, Gegenbewegungen und diesbezüglicher diakonischer Hilfseinrichtungen. Neben historischen Fakten, sollen in diesem Aufsatz missiologische Aspekte angedacht werden, um den Themenblöcken Migration und Diaspora gerecht zu werden. Fragen, welche sich um die Herausbildung von Identität(en) drehen spielen hierbei eine Rolle. Um diese umfangreichen Themengebiete zu verstehen, werden sie eingegrenzt auf anthropologische Beobachtungen unter spezifischen lokalen Bewegungen und deren politisch-sozialen Auswirkungen in Deutschland. „Identität“ wird aus missiologischen Gründen anhand dreier Grundbedürfnisse von Migranten (im Übrigen aller Menschen) untersucht: a.) Bedürfnis nach Anerkennung durch Arbeit bzw. Sozialem Engagement, b.) Bedürfnis sich auf einen sprachlichen und kulturellen Rahmen als „Heimat“ zu besinnen, und c.) das Bedürfnis eine gesunden Lebens-Neugierde zu befriedigen, um die (eigene und gesellschaftliche) Zukunft zu gestalten. Des Weiteren bietet eine biblisch-christliche Untersuchung die Möglichkeit Impulse aufzugreifen, die sich aus der Lebenssituation von Migranten in der Diaspora ergeben. Hierbei spielt die Bibelübersetzungs-Bewegung eine Rolle, welche zur Sprache kommen wird. Die gegenwärtige Ost-West orientierte asiatisch-nahöstliche Flüchtlingsbewegung aus Pakistan, Afghanistan und Syrien in Richtung Europa und hier schwerpunktmäßig Deutschland, bietet die aktuelle Grundlage für solche Überlegungen. Die Süd-Nord orientierte Bewegung aus Afrika wird nur gestreift, da sie teilweise andere Ursachen und Auswirkungen hat.

1. Vorwort: Unergründliche Diaspora

Von Senecca wird das Zitat überliefert, „Überall zu sein, heißt nirgends zu sein.“ In Erkenntnis der Tatsache, dass das komplexe und weitreichende Thema „Diaspora“ niemals abschließend besprochen werden kann, wurden für diesen Artikel die Situation von Migranten und ihr Werdegang aus der Türkei in Deutschland beispielhaft und vergleichsweise herangezogen. Des Weiteren befasst er sich mit dem Fragekomplex wie (individuelle und gruppenbezogene) Identitäten gebildet werden und wie sie sich in der Begegnung mit Migranten darstellen. Dies alles im Hinblick darauf, missiologische Implikationen abzuleiten und eventuelle Handlungsstrategien für Evangelisation und Diakonie anzudenken.

Was heißt Diaspora im heutigen Zeitalter fast unbegrenzter Mobilität?1Finanzielle und zeitliche Grenzen bilden derzeit den Rahmen, leider spielen umweltschützende, energieeffiziente und nachhaltige Gründe eine marginale Rolle. Zukünftig wird der Rückgang fossiler Brennstoffe die Mobilität wesentlich beeinflussen. Seneccas weise aber mystische Aussage weist darauf hin, dass dieses Thema niemals abschließend besprochen werden kann. Die meisten modernen Studien auf diesem Gebiet stammen aus soziologischer Perspektive und besprechen die Fragen nach Assimilation, Integration und Inklusion von Bevölkerungsgruppen, die sich selbst als Diaspora bezeichnen oder von außerhalb so wahrgenommen werden. Dabei treten oft auch Einzelaspekte in den Vordergrund, wie sie in den unterschiedlichen Disziplinen als bedeutsam gelten: Dies können sprachliche Merkmale oder Besonderheiten sein2Bengio, Ofra & Maddy-Weitzman Bruce 2013. Mobilised diasporas: Kurdish and Berber movements in comparative perspective. Kurdish Studies 1/1, October, 65-90. Online: URL: http://metapress.com/content/­751148011116366k/­fulltext.pdf [PDF-File] [accessed 2021-05-04]., aus christlich-theologischer Sicht auch kirchliche oder missiologische Fragestellungen3Hunter, Erica C. D. 2014. Coping in Kurdistan: The Christian Diaspora, in Omarkhali, Khanna (ed.): Religious Minorities in Kurdistan: Beyond the Mainstream, 321-337. Wiesbaden: Harrassowitz. Roam, Caitlin 2015. One Method Does Not Fit All: Case Studies of the Muslim Diaspora. EMQ 51/1, 20-28. Wheaton: Evangelism and Missions Information Service (EMIS). Also Online: URL: http://www.emqonline.com/­node/­3207 [accessed 2016-04-20]. Rynkiewich, Michael A. Rynkiewich 2013. Mission in “the Present Time”: What about the People in Diaspora? Paper presented to the International Society for Frontier Missiology on September 13, 2013 (Plano, TX). IJFM 30/3, 103-114. [PDF document]. Holter, Knut 2014. My father was a migrant Aramean: Old Testament motifs for a Theology of Migration, in Im, Chandler H. & Yong, Amos (eds.): Global Diasporas and Mission, 57-70. Oxford: Regnum Books International. Also Online: URL: http://www.ocms.ac.uk/regnum/downloads/-Global_Diasporas_and_¬¬Mission.¬pdf [accessed 2021-03-20]., aus religionswissenschaftlicher Perspektive interkulturell theologische Besonderheiten4Boyarin, Daniel & Boyarin, Jonathan 2005. Diaspora: Generation and the Ground of Jewish Identity, in Braziel, Evans Jana & Mannur, Anita (eds.): Theorizing Diaspora, 85-118. Oxford: Blackwell., aus anthropologischer Sicht geschlechterspezifische oder kulturübergreifende Beobachtungen5Manalansan, Martin F. IV 2005. In the Shadows of Stonewall: Examining Gay Transnational Politics and the Diasporic Dilemma, in Braziel, Evans Jana & Mannur, Anita (eds.): Theorizing Diaspora, 207-230. Oxford: Blackwell. Gilroy, Paul 2005. The Black Atlantic as a Counterculture of Modernity, in Braziel, Evans Jana & Mannur, Anita (eds.): Theorizing Diaspora, 49-80. Oxford: Blackwell., aus islamisch-religionstheologischem Hintergrund soziologische Fragen6Langer, Robert 2008. Alevitische Rituale, in Sökefeld, Martin (Hg.): Aleviten in Deutschland: Identitätsprozesse einer Religionsgemeinschaft in der Diaspora, 65-108. Bielefeld: Transcript. und vieles mehr.

Historisch gesehen hatten die Völkerwanderungen („mass migration“) während des Römischen Reiches große Verschiebungen von Ethnien zur Folge. Ihnen gingen die Keltenbewegungen entlang der Donau des 4. Jh. v. Chr. voraus, gefolgt von den Germanen die aus dem Norden zuwanderten und viele mehr. Neben der Ausbreitung des Christentum (1. – 4. Jh. n Chr.) ist auch die des Islam zu nennen (6. – 9. Jh. n. Chr.) Kriegszüge und gewaltsame Ausbreitungen wurden durch die Mongolenstürme des 11. – 13 Jh. n. Chr. eingeleitet. Diese führten während des hohen Mittelalters zur Neugestaltung des vorderasiatisch-nahöstlichen Raums. Danach konstituierte das Osmanische Reich nicht nur Nordafrika, sondern auch das östliche Südeuropa, den Balkan und den sogenannten fruchtbaren Halbmond im Nahen und Mittleren Osten neu. Die wohl größte moderne Migrationsbewegung fand aus Europa nach Nordamerika von 1800 bis 1925 statt, als jeder fünfte Europäer immigrierte.7Allein geschätzte 5,45 Millionen Deutsche immigrierten in den Jahren 1821-1912 (Naumann 1916:125-130). Naumann, Friedrich 1916. Die amerikanische Neutralität, in Naumann, Friedrich (Hg.): Die Hilfe. Wochenschrift für Politik, Literatur und Kunst 22. Jg., 125-130. Berlin-Schöneberg. Parallel dazu gab es die chinesische Migration nach Kanada und Nordamerika. Seit den neunzehnhundertsechziger Jahren haben Migrationsbewegungen um ein vielfaches zugenommen. Es wird geschätzt, dass im Jahre 2005 weltweit 200 Millionen Menschen Migranten waren. Das sind ca. 3% der Weltbevölkerung und betrifft somit jede 34. Person (Schätzung um 2005 in Hanciles 2008:118, 121).8Hanciles, Jehu J. 2008. Migration and Mission: The Religious Significance of the North-South Divide, in Walls, Andrew F. & Ross, Cathy (eds.): Mission in the Twenty-Fist Century, 118-129. London: Darton, Longman and Todd. Aufgrund der andauernden Zunahme der Krisenherde und der Explosion der Weltbevölkerung seit Beginn des 20. Jh. ist deshalb von „der Epoche der Migration“ (:118) zu sprechen.

Dieser Artikel beschäftigt sich mit den soziologischen Brennpunkten, wie sie aufgrund der gegenwärtigen, also seit dem Jahr 2015, sogenannten „Flüchtlingskrise“9Als Vorschlag zum Unwort des Jahres 2015 regt der Begriff „Flüchtlingskrise“, obwohl oft unbedacht übernommen, zum Nachdenken an. Es geht ja nicht um eine Krise, die von Flüchtlingen her kommt, sondern um eine Hilfsaktion an Menschen, die ihre Heimat verloren haben. http://www.shz.de/deutschland-welt/panorama/unwort-des-jahres-fluechtlin… [Stand 2021-05-23]. aus Pakistan, Afghanistan und mehrheitlich Syrien nach Europa und hier insbesondere Deutschland und Schweden in der Öffentlichkeit besprochen werden. Die in der Öffentlichkeit als bedrohlich wahrgenommene Migrationsbewegung aus den Maghreb Staaten umfasst in der Realität nur wenige Tausend und spielt hier keine Rolle, da politisch auf schnelle Abschiebung gedrängt wird. Ebenso wird das durchaus interessante Gebiet der politischen, meist finanzielle Zahlungen betreffende, Verhandlungen mit den Herkunftsländern hier nicht betrachtet, da dies den Rahmen sprengt.

Die Lebensgestaltung beruht auf äußeren Umweltfaktoren, die politisch und durch die Natur gestaltet werden, hierzu zählen auch menschliche Grundbedürfnisse. Diese hier aufgezeigten Grundbedürfnisse sind nicht als abschließend zu verstehen. Aus praktischen Gründen wurden die Bedürfnisse nach Sicherheit und Schutz und andere vernachlässigt. Aufgrund anthropologischer Beobachtungen der praktischen Lebensgestaltung von Migranten konnten unter anderen drei Grundbedürfnisse festgemacht werden:

a.) das Bedürfnis nach Anerkennung durch Arbeit bzw. sozialem Engagement,

b.) das Bedürfnis sich auf einen sprachlichen und kulturellen Rahmen als „Heimat“ (rück) zu besinnen, und

c.) das Bedürfnis eine gesunde Lebens-Neugierde zu befriedigen, um die (eigene und gesellschaftliche) Zukunft zu gestalten.

Die westlich dominante Perspektive, die hier eingenommen wird, versucht den missiologischen Möglichkeiten, die im Moment denkbar sind, entgegen zu kommen. Dabei ist bekannt, dass dankenswerterweise auch asiatische, südamerikanische und afrikanische Organisationen und Institutionen vermehrt in Europa missiologisch tätig werden. Auf eine zunehmende Veröffentlichung ihrer Erfahrungen ist freudig zu warten. Des Weiteren wird auf die Er­fahrungen mit der europäischen „Gastarbeiterbewegung“ der sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts zurückgegriffen, da sie langfristige Entwicklungen für die hiesige Fragestellung aufzeigen.

2. Diaspora – Gründe: Versuch einer Eingrenzung

Der griechische Begriff διασπορά diaspora „Verstreuung“ findet sich in Bezug auf Migrationsbewegungen. Diese bezeichnen eine (ehemalige) Minderheit an einem Ort, den sie selbst nicht als ihren Ursprungsort beschreiben. Früh schon wurde der Begriff für das jüdische Volk benutzt, welches aus Israel von den Assyrern (9. Jh. V. Chr.) und später aus Juda von den Babyloniern (6. Jh. V. Chr.) nach Babylon umgesiedelt wurde (z. B. 1. und 2. Chronik; 1. und 2. Könige). Der aus der ins Griechische übersetzten Hebräischen Bibel stammende Begriff (Deut. 28:64) wurde zwar als Schmähruf verstanden, ging aber als „jüdische Diaspora“ in die Geschichte ein. Später wurde er auf unzählige Migrationsbewegungen angewandt (Wan 2012 unter Diaspora Quick Links10Wan, Enoch 2012. The Phenomenon of Diaspora: Missiological Implications for Christian Missions. Diaspora Study. Online: URL:www.GlobalMissiology.org [Stand 2021-05-13].). Wo es zu politischen oder religiösen Verfolgungen kommt, da findet der Begriff schnell seinen Platz, wie die ausführliche, bei weitem nicht abschließende Liste bei Wan aufzeigt (2012: List of References).

Will man die Gründe auflisten, die zu einer Diaspora-Situation führen, so ist grob in freiwillige und zwangsläufige, wie auch zeitlich einzugrenzende Migration, die zur Diaspora führt zu unterscheiden, wobei es natürlich Überschneidungen gibt. Freiwillig ist dabei der Umzug in eine vorher fremde Region als Nachzug, aus beruflichen oder sozialen Gründen. Der Begriff zwangsläufig bezeichnet dabei die Verfolgungs-, Kriegs- oder Unglückssituationen in welcher die Heimat aufgrund äußerer Zwangsausübung verlassen werden muss. Flüchtlings- oder Vertriebenenbewegungen aus Krisengebieten sind sicher die weitaus bekanntesten Kategorien. Überschneidungen bei den Motivationen oder den Gründen für die Migration finden sich z. B. aus wirtschaftlichen Gründe. Zu letzteren zählen Wanderarbeiter, die sowohl freiwillig (z. B. Cargo-Schifffahrt) als auch zwangsgesteuert (z. B. Sklavenarbeit, Prostitution) sein können. Unbenannt sind hier Entwicklungen die zuerst freiwillig waren, dann aber in Zwang ausarteten und umgekehrt. Die militärischen Vormärsche mancher Ethnien, wie den Hunnen (5. – 3. Jh. v. Chr.), den Wikingern (bis ins 8. Jh. n. Chr.) und den Mongolen (s.o.) wurden in ihrem Verlauf zu zwangsläufig notwendigen Bewegungen, um den Nachschub zu garantieren oder sie verliefen sich darin, dass die Völker in anderen aufgingen.

Zeitlich ist von kurzzeitigen und langfristigen Erscheinungen auszugehen. So wird von kurzzeitigen Diasporasituationen gesprochen, wie z. B. die angeworbenen indischen Arbeiter am neuen Panamakanal oder den olympischen Spielen 2016. Es kommt auch zu langfristigen Diaspora-Situationen, die über Generationen hinweg gehen.11Als eindrückliche Beispiele können die chinesischen Arbeiter an der Ost-West und West-Ost Trasse der nordamerikanischen Eisenbahn des 19. Jh. gelten, die sich später in den neu entstandenen Städten niederließen. Auch die seit den vierziger Jahren des letzten Jahrhunderts entstandenen modernen palästinensischen Lager in Jordanien, die als Politikum instrumentalisiert werden gehören dazu. Soziologisch interessant ist der nach dem Zweiten Weltkrieg entstandene Status der dänischen Minderheit in Norddeutschland. Eine Diaspora kann sich auch ganz auflösen, indem eine Gruppe in die Heimat zurückkehrt (z. B. albanische Asylantragsteller) oder sich völlig an die neue Umgebung assimiliert (z. B. französische Hugenotten in Deutschland; große Teile von Sinti und Roma).

Problematisch ist jedoch die eigene und innere Zuweisung einer Gruppe zu diesem Begriff. Ist der aus Indien stammende, dort geborene, und in Madagaskar aufgewachsene, durch die Arbeit nach Italien kommende und dort eine Italienerin heiratende Wanderarbeiter wirklich in der Diaspora? Stellt eine Gruppe mit ähnlichem Hintergrund eine solche dar? Was ist „Heimat“ für diese Menschen? Benötigen sie eine solche für die eigene Identität? Wie definiert sich die Identität in solchen Fällen? Die Zuweisung von außen scheint auf den ersten Blick einfach, jedoch ist sie gar nicht eindeutig, zumal die eigene Einschätzung letztendlich entscheidet wie sich jemand verortet.

Eine wichtige Frage bezüglich der Diaspora ist die Frage nach der Identität. Sie zu klären ist schwierig, da Personen die in einem Land geboren sind und dort, bis auf kurze Auslandsaufenthalte, immer gelebt haben meist nationalistisch denken und so den Kontrast für die „anderen“ (otherness) bilden. Menschen die diese Erfahrung nicht teilen werden als Fremde betrachtet. „Fremdheit“ steht dem Nationalismus entgegen. Nationalismus aber ist Ausdruck von Zugehörigkeit und Heimat, als einer inneren und äußeren Identitätsfestlegung. Die Identitätsnachweise (Personalausweis, Reisepass, Führerschein) weisen die äußeren Zugehörigkeitsmerkmale nach. Der ständige Wohnsitznachweis wird zum Merkmal dieser öffentlichen Papiere. Wie im vorhergehenden Beispiel aufgezeigt wurde, sagt dies noch nichts über die Person und wo sie sich selbst innerlich verortet, wenn dies überhaupt möglich oder nötig ist. Mehrere Identitäten sind möglich und manchmal auch nötig. Neben den oben genannten Beispielen gehören hierzu sogenannte Arbeitsnomaden aus dem Bau, der Schifffahrt, dem Fracht- und Logistikwesen etc. Sie decken alle gesellschaftlichen Schichten ab. Sie bilden selbst soziale Schichten in ihrem jeweiligen Umfeld (z. B. deutsche pendelnde Ärzte in Norwegen oder der Schweiz). Dies kann zeitlich begrenzt sein oder auch feste Strukturen haben. Im Bauwesen sind zeitliche Arbeitsprojekte auf den Einsatz temporärer Arbeiter (z. B. sportliche Großereignisse, riesige Bauprojekte) wie auch ständiges Betreuungspersonal (z. B. Kernkraftwerke, Dämme etc.) möglich.

Diaspora ist also keineswegs ein homogener Begriff, welcher nur eine Person oder Gruppe in der Fremde bezeichnet, er umfasst auch die zugrundeliegende Lebenssituation und wie es dazu kam. Diaspora ist zum einen eine Merkmalzuweisung von außen, die einer Person oder Gruppe als Identität zugewiesen wird, gleichzeitig handelt es sich aber auch um ein inneres Identitätsmerkmal, welches sich als „fremd“, „Fremde(r)“ oder „in der Fremde sein“ äußert.

In politischen oder sozialen Betrachtungen wird meist die Auswirkung einer Diasporasituation auf die Betroffenen selbst, sowie der sich als heimisch-betrachtenden Bevölkerung diskutiert. Dies ist ein weiterer Aspekt, der in die Betrachtungen einfließen sollte. Manche Diasporasituation wird erst im Verlaufe und beim Auftreten von soziologisch-politischen Spannungen bemerkt. Vorher konnte es sich um eine bis dahin unbemerkte Bewegung handeln. Hierzu zählt auch der Tourismus, der eine Migrationsbewegung darstellt, die zur temporären Diaspora führen kann. Für deutsche Touristen stellen Mallorca, die Ostküste Spaniens und die südliche Türkei eine temporäre Diaspora dar.

3. Auswirkungen der Diaspora – Personenkreise, Identität

Im Hinblick auf die drei eingangs erwähnten menschlichen Grundbedürfnisse (Pkt.1 a-c), welche sich in der Diaspora besonders auswirken, wird hier die Frage der „Identität“ begrenzt und zwar im Hinblick auf a.) Arbeit / soziales Engagement, b.) sprachlich-kultureller Rückbezug auf die „Heimat“, und c.) die Gestaltung der Zukunft.

Die Diaspora führt in der Fremde zumeist zur verstärkten Wahrnehmung der eigenen Identität (Hiebert & Hiebert 1995:285-286; Muslime in Europa in Hanciles 2008:125).12Hiebert, Paul G. & Hiebert Meneses, Eloise 1995. Incarnational Ministry: Planting churches in Band, Tribal, Peasant, and Urban Societies. Grand Rapids: Baker. Erst in der Erkenntnis des Fremdseins als Merkmal der Abgrenzung zum Neuen kann sich ein Spannungsfeld mit der eigenen, wie auch fremden Identitäten eröffnen. Ganz deutlich wird das an der politischen Organisation von radikalen Gruppen im Ausland. Prominenteste Beispiele in Deutschland sind die Kurdische Arbeiterpartei – PKK (Partiya Karkerên Kurdistanê) und zunehmend tritt die ISIS/IS (Islamic State of Iraq and al-Sham; Daesh) in das Blickfeld (zur PKK s. Bruinessen 1999:8-1013Bruinessen, Martin M. van 1999. The Kurds in Movement: Migrations, mobilisations, communications and the globalisation of the Kurdish question. Working Paper 14. Islamic Area Studies Project. Tokyo, Japan.). Beide Bewegungen werden als fremdgesteuert und damit der Diaspora zugeordnet. Friedliche politische Bewegungen, die sich um die Diaspora drehen gibt es unzählige.14Zu nennen wären hier die türkischen Aleviten bestehend aus Kurden, Zaza und Türken (s. FN 5 oben Langer 2008). Die armenischen und aramäischen Migrationsbewegungen seit 1915, sowie der Yeziden ist ebenso zu nennen. Maisel, Sebastian 2014. One Community, Two Identities: Syria’s Yezidis and the Struggle of a Minority Group to Fit in, in Omarkhali, Khanna (ed.): Religious Minorities in Kurdistan: Beyond the Mainstream, 79-96. Wiesbaden: Harrassowitz. Die bekanntesten sind die Vertriebenenverbände, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg formierten. Die Diaspora wurde längst zur Heimat und doch wird auch von „Heimat“ in den Vertreibungsgebieten gesprochen (z. B. Salzborn 200015Salzborn, Samuel 2000. Grenzenlose Heimat. Geschichte, Gegenwart und Zukunft der Vertriebenenverbände. Berlin: Elefanten Press.). Auch hier liegen mehrere Identitäten zugrunde.

Wie kennzeichnen sich die Identitäten, die sich in der Fremde entwickeln? Eine Diasporasituation wirkt sich auf viele soziologisch-politische Gruppen, Kulturen und Nationen aus:

1. Das Individuum oder die Gruppe, die sich in der Fremde befindet.

2. Die Kultur(en) in deren Nationalgebiet sich die Diaspora entwickelt,

3. Die Kultur(en) aus denen die Diaspora sich in die Fremde entfernt hat.

4. Internationale Institutionen und Organisationen, die sich für die Angelegenheiten, Nöte und Rechte sozialer Strukturen einsetzen.

Für die ursprüngliche „Heimat“ bilden die Gruppen in der Diaspora:

1. ein politisches Sprachrohr,

2. sie sind finanzielle Stützen und

3. sie ermöglichen die Ausreise durch (Familien-) Nachzug, Partnerschaften und dienen als illegale Anlaufstellen.

Für die neue „Heimat“ sind diese Diaspora-Gruppen Herausforderungen bei der sozialen und beruflichen Integration, Grund sich mit den politischen Situationen der Herkunftsländer zu beschäftigen sowie die Basis für eine gemeinsame Zukunftsgestaltung als Teil der sich dadurch neu konstituierten Gesamtgesellschaft.

Die deutsch-türkische Vergangenheit ist da besonders aufschlussreich, da sie alle diese Elemente aufweist. Ursprünglich waren es vor allem militärische Hilfen, die bereits ab dem 18. Jh. zur Einrichtung von türkischen Einheiten im preußischen Heer führten. Assimilation war in dieser Bewegung durchaus üblich. Dieser ersten türkischen Präsenz folgten die sogenannten „Gastarbeiter“ ab dem 30. Oktober 1961 (Gastarbeiter-Abkommen von Bad Godesberg). Damit wurde eine türkische Diaspora begründet. Nicht nur die zahlenmäßige Größe, sondern auch die Unklarheit des politischen Status dieses Personenkreises, sowie die Dauer des Aufenthaltes führten zu einer vorübergehenden Entfremdung zum deutschen Gastgeberland. Durch Nachzug und politisch-wirtschaftlichen Verschlechterung der Situation im Heimatland (türkische Militär Putsche 1960, 1971 und 1980; Staatskrise 1991-1994), sowie wirtschaftlicher Erstarkung der Diaspora wurde diese zum politischen Sprachrohr. Die türkische Diaspora setzt sich in der EU für Frauenrechte, die Kurden, Zaza, Aleviten, Armenier und sozialen Minderheiten (Homosexuelle, Trans- und Intersexuelle etc.) ein. Sie unterstützt finanziell die Angehörigen und politische Gruppen aktiv (z. B. PKK, Bauprojekte wie Mietshäuser), sowie passiv durch einen ausgeprägten Reisetourismus (Schlagwort: Auto-Putt der siebziger und achtziger Jahre durch Jugoslawien) und erstarkte durch einen ausgeprägten Nachzug von Familienangehörigen, sowie illegaler Einwanderung mit späterer Duldung.

Vergleichbare Bewegungen und Entwicklungen lassen sich für Frankreich aus den Maghreb-Staaten, die ehemaliges französisches Kolonialgebiet oder enge Handelspartner waren (Marokko, Algerien, Tunesien), sowie für Großbritannien aus dem asiatischen Commonwealth (Indien, Pakistan) aufzeigen. Hier spielen vor allem wirtschaftliche Gründe die Hauptursache. Fluchtbewegungen aus der Türkei können auf die Verfolgung der christlichen Armenier (1896 und 1915) im Übergang zur türkischen Republik sowie nicht-islamischer oder nicht-sunnitischer Gruppen (z. B. Yeziden, Aleviten etc.) aufgrund der Militärputsche in 1960, 1980 und den Unruhen von 1994-1996, wie auch politisch unruhiger Zeiten zurückgeführt werden. Hierbei spielen ebenso ethnische Gründe eine Rolle. Allen gemeinsam ist diesen Gruppen, dass sie über kurz oder lang in der Diaspora politisch aktiv wurden und sich auch religiös formierten. Im Heimatland führte die Einmischung aus dem Ausland wiederum zur erhöhten Spannung mit den zurückgebliebenen Gruppen.

Offensichtlich haben spanische, italienische und griechische Gruppen in der Diaspora, die in gleicher Weise aus dieser Zeit der Abkommen über Gastarbeiter stammen, ihre Identität(en) über den Weg der Integration und Assimilation gefunden. Hierbei muss beachtet werden, dass es zu einem gegenseitigen Miteinander der Diaspora und der Länder kam, in der sie sich etablierte. In Europa fällt auf, dass die islamisch-türkische Diaspora die größten Schwierigkeiten hat sich positiv und bereichernd zu integrieren und zu entfalten. Immer wieder flammt die religiöse Fragestellung auf, ob denn der Islam Teil deutscher Kultur sein könne. Wie auch immer man diese Frage beantwortet, es ist damit angezeigt, dass der Islam in Deutschland über die Entwicklungen rund um Migration und Diaspora angekommen ist. Damit ist er missiologisch zu bewerten und ein Ansatzpunkt für den interkulturell theologischen Dialog. Die soziologisch-politische Rückwirkung der Diaspora auf die Herkunftsländer wiegt schwer, wie die französische Beziehung zu den Maghreb Staaten und die deutsch-türkische Beziehung zeigen.

Die europäische Situation zeigt, dass sich die Aufnahmeländer auf lange Sicht wegen oder trotz der vielfältigen Diaspora-Situationen wirtschaftlich positiv entwickelten. Die Integration in den Arbeitsmarkt ist in allen Ländern überwiegend gelungen. Es ist aber auch nicht zu übersehen, dass es eine Zunahme der Gewaltkriminalität durch spezifische Diasporagruppen gibt. Vor allem die organisierte Drogen-, Beschaffungs- und Schmuggel-Kriminalität findet über die Diaspora europäische Märkte, die sie bedient. Hier ist vor allem der Drogenschmuggel aus Afghanistan über die Türkei zu nennen an der viele auf dem Weg zum Verbraucher verdienen. Ebenso die Zwangsprostitution aus östlichen Ländern, die zum Menschenhandel und Human Trafficking von Ost nach West führte (Jürgs 201416Jürgs, Michael 2014. Sklavenmarkt Europa. Das Milliardengeschäft mit der Ware Mensch. München: Bertelsmann.). Ganz andere wirtschaftliche Bewegungen gibt es aus den asiatischen Staaten, die ökonomisch schlecht gestellt sind, in die reichen arabischen Staaten (Saudi Arabien, Kuwait, Vereinigte Emirate, Oman, Bahrein). Gleiches gilt aus dem Süden Amerikas in Richtung den nördlichen Vereinigten Staaten von Amerika (USA). Generell geht diese Form der Kriminalität, der Menschenhandel und damit auch der ertragsträchtige Menschenschmuggel von arm nach reich. Die damit einhergehende Diaspora-Situation führt in die Illegalität und damit in die Kriminalisierung.17Einhellig wird die Kluft zwischen Arm und Reich als Ursache der hier beschriebenen Kriminalität betrachtet. Neuestes Beispiel ist das seit dem Aufstand am ägyptischen Tariq Platz bekannte „slut hunting“, eine Art Flashmob zur sexuellen Bedrängung von Frauen in der Öffentlichkeit. Es wird in Europa mit dem Recht ausgeübt, sich an „reichen Westlern“ zu vergehen, wie dies in Köln an Sylvester 2015 geschah (dies ist nur ein Teil der Begründung). Andere Formen sind in der gezielten Banden-Einbruchskriminalität zu finden in denen aus „armen“ Balkanstaaten Busse von Männern angekarrt werden, die direkt neben der Autobahn in Wohnviertel einbrechen und dann sofort wieder in ihre Länder mit dem Diebesgut abziehen. Gleichzeitig sind es Diasporagruppen die sich an dieser Form der Kriminalität aufgrund ihrer Beziehungen und Netzwerke gerne beteiligen.

Es lässt sich also festhalten, dass die Diaspora-Situation sowohl positive als auch negative Folgen sowohl für das Individuum, wie auch für die Diaspora- und die Herkunftsländer hat. Besondere negative Folgen sind politische und religiöse Radikalisierungen, wirtschaftliche Verarmung von sozialen Gruppen, soziale ethnische Spannungen sowie die damit einhergehende Kriminalisierung (Ausländerstraftatbestände, Gewaltkriminalität). Herausragende positive Folgen finden sich in den langfristigen wirtschaftlichen Besserstellung von Individuen und Gruppen, der politischen und wirtschaftlichen Einflussnahme auf die Herkunftsländer durch Einbindung der politischen und wirtschaftlichen Institutionen, Gremien und der Medien als Sprachrohr, sowie den bereichernden interkulturellen Begegnungen.

4. Missiologische Überlegungen zur Diaspora

Wie können die Diaspora und die damit einhergehenden sozialen Phänomene missiologisch aufgegriffen werden? Zwei sich ergänzende missiologische Ansatzpunkte treffen zusammen. Da ist zum einen die Evangelisation, als christliches Mittel und Ausdruck der Kontaktaufnahme und Kommunikation mit den Mikrokulturen18Mikrokultur ersetzt den diskriminierenden Begriff Subkultur, der ja eine untergeordnete Einheit suggeriert. Bei Mikrokulturen handelt es sich oft um gleichrangige Einheiten., die als Diaspora wahrgenommen werden oder sich als solche empfinden (z. B. Derbe und andere Apg. 14:20-23). Zum zweiten ist da die Diakonie, als tatkräftige und tätige Unterstützung am Nächsten. Beides zusammen zielt auf die Überbrückung des Grabens zwischen Diasporasituation und der Wahrnehmung als „Fremde“ (z. B. Apg. 21:7 Paulus hat Zeit mit Menschen verbracht). Natürlich kann und soll das nur insoweit eingreifen, als es die Gruppe oder ein Individuum möchte. Manche Diasporasituation wird, wie bereits erwähnt, nicht wahrgenommen oder ist gewollt.

4.1 Generelle missiologische Überlegungen

Aus den oben beschriebenen Beobachtungen ergeben sich generelle missiologische Überlegungen, die sich in folgende, nicht abschließende, Punkte eingliedern lassen:

1. Missiologische Unternehmungen an Personen oder Gruppen in der Diaspora werden immer als politisch wahrgenommen. Diese politische Wahrnehmung geschieht, jeweils aus unterschiedlichen Blickwinkeln. So von der Diaspora selbst, von den in der Diaspora umgebenden nationalen oder dort innewohnenden Kulturkreisen, aus den im Herkunftsland beheimateten nationalen oder dort innewohnenden Kulturkreisen heraus, sowie nicht zuletzt von internationalen Organisationen oder Institutionen, die sich mit einer Diaspora-Gruppe beschäftigen (siehe oben bezüglich Personenkreise Nr. 1-4). Nimmt man die oben beschriebenen radikalen Gruppen als extreme Bandbreite so reichen die Reaktionen von aufopfernder Selbsthingabe (Sympathisanten) bis zur gewaltbereiten Bekämpfung der Diaspora. Im Hinblick auf diese Wahrnehmung sollten missiologische Unternehmungen selbst transparent und gut organisiert werden. Da viele solcher Unternehmungen im Privaten und auf lokaler Ebene anfangen ist es wichtig schnell die Öffentlichkeit zu suchen und die eigene Arbeit vorzustellen. Das nimmt manchen Kritikern zumindest teilweise die Möglichkeit falsche Schlüsse zu ziehen und polemisch zu diskreditieren (z. B. Proselytentum, Geheimdienstaktivitäten). Gegen falsche Anschuldigungen und Verleumdungen kann man sich nicht schützen.19Hier ist der Vorwurf der „Mission“ zu nennen, wie er gerne in der Türkei ausgespielt wird. Obwohl der türkische Begriff „misyon“ säkular im Sinne von „Auftrag“ benutzt wird (z. B. die „misyon“ einer Universität), hat sich eine zweite diesmal religiöse Bedeutung im Sinne der christlich-westlichen Abwerbung vom Islam entwickelt. Dies wird von sunnitisch religiösen und politischen türkischen Kreisen benutzt um antiwestliche und antichristliche Stimmung zu erzeugen (s. interner jährlicher Bericht der evangelisch-evangelikalen Christen in der Türkei).

2. In der Diaspora bilden Gruppen selten eine homogene Einheit. Vielmehr spiegeln sie die Ursprungs-Kultur wider und setzen sich aus einem Sammelsurium von soziologischen Strömungen mit unterschiedlichen Schwerpunkten zusammen. Gemeinsame Nenner sind die Sprache, die Ableitung eines gemeinsamen Ursprungs der sich durch Traditionen, Mythen und lokalen Zuweisungen ergibt.20Dies sind im Übrigen die Merkmale ethnischer Einheiten im Generellen. Eine gemeinsame Sprache, ein gemeinsamer Ursprung (Traditionen, Mythen) und eine lokale Zuweisung, dessen was als Heimat empfunden wird. Hierdurch verortet sich eine soziale Mikrokultur in ihrer Umgebungsgesellschaft und definiert sich über diese Bindungen. Ebenso wird sie von außen anhand dieser Merkmale definiert. Von außen können jedoch auch oberflächliche oder falsche Kenntnisse zu einer Gruppenzuweisung führen. Hier wären Bezeichnungen wie die „türkischen Gastarbeiter“ oder „Türken“ zu nennen, die sowohl auf kurdische (Kurmanji-Sprecher), zazaische (Zazaki-Sprecher) und auch aramäisch-syrisch orthodoxe Menschen aus der Türkei angewandt werden. Die Begriffe „Afrikaner“ oder „Schwarze“ treffen dagegen auf alle dunkelhäutigen Menschen zu. Die Umschreibung „die Ausländer“ ist dagegen sehr allgemein und dient der Abgrenzung zur eigenen nationalen Festlegung. Aus missiologischer Sicht ist die sprachlich-anthropologische Annäherung an eine Gruppe geboten. Die größte Hürde, nämlich die Sprache, ist in der Diaspora durch die Nationalsprache leichter zu überbrücken, als dies im Ursprungsland der Fall wäre, wo die dortige National- oder Verkehrssprache eine zusätzliche wichtige Bedeutung hat. Dennoch ist eine Grundkenntnis der Muttersprache ein Weg ins Zentrum der Kultur. Diese inzwischen zum Politikum erhobene Erkenntnis führt als Forderung, zumindest in Deutschland, zu intensivem Deutsch-Erlernen durch Migranten. Als anthropologische Annäherung bietet sich eine ethnographisch orientierte Untersuchung der kulturellen Unterschiede zur eigenen Kultur an. Dabei sollte mit einigen herausragenden Beobachtungen begonnen werden, um dann ins Detail zu gehen. Meist sind es die Kleidung (z. B. Kopftuchdebatte), der Umgang der Geschlechter miteinander und untereinander (Segregationsmuster) und die religiöse Struktur (z. B. Islam, Alevitentum, Sufismus, Parsismus) die interessieren. Die damit einhergehenden Erkenntnisse bilden kommunikative Ansatzpunkte (Evangelisation), sie weisen auf strukturelle Nöte hin, was diakonisches Handeln fordert.21Hierunter fallen neben anderem schwerpunktmäßig Sprachunterricht, Versorgung von Behinderten (Pflegehinweise, Umgangsformen), Behandlung von Drogensucht, Geschlechterfragen, Fragen zur Inzucht, sowie die Aufklärung zur Verhütung und zur Abtreibung.

3. Die Gründe oder Ursachen für eine Diasporasituation bringen teilweise Traumatisierungen mit sich. Diese werden verdrängt, negiert oder auch als Mittel zur Erschleichung von Leistungen benutzt. Die Traumata können durch Zuwendung und Diakonie überwunden werden. Gefährlich wird es dann, wenn mit einer überheblichen oder sich überschätzenden Haltung an dieses Problem heran gegangen wird. Wichtig ist es auf Fachpersonal (seelsorgerlich-therapeutische oder psychologische Fachleute) zurückzugreifen und geschlechterspezifische Eigenheiten zu beachten. Ganz anders verhält es sich mit der nicht zu unterschätzenden Anzahl an Abenteurern die aus Perspektivlosigkeit die Heimat verlassen haben. Insofern diese zugänglich sind ist die Diakonie auf die Spracharbeit zur Eingliederung und die Hinführung auf den Arbeitsmarkt ausgerichtet.

4.2 Einzelfallüberlegungen

Hierunter fallen Fragen nach der Identität, Anknüpfungspunkte zum christlichen Glauben und die kreative Einbindung in diakonische Strukturen.

4.2.1 Identität(en) – In der Diaspora

Ein Ansatzpunkt missiologischen Handelns ist die Fragestellung der Identität. Dies umso mehr, da die eigenen Festlegungen von Identitäten durch die biblische Botschaft hinterfragt werden können. Die diesbezüglichen Fragen drehen sich um die Verortung von Identität(en)? Wie identifizieren sich die Migranten selbst? Welche Identität(en) werden ihnen von außerhalb gegeben? Hierbei spielt das Begegnungsfeld der ursprüngliche(n) „Heimat(en)“ sowie der neuen „Heimat“ eine wichtige Rolle. Viele Erfahrungsberichte der zweiten und dritten Generation von Migranten weisen auf dieses Spannungsfeld. Dies gilt besonders, wenn sie in einem neuen Heimat-Staat aufgewachsen und dortige Staatsbürger sind und sich auch als solche empfinden, und sie immer noch auf ihr vermeidliches Herkunftsland, ihre Hautfarbe, ihr Kraushaar oder auf ihre Eltern angesprochen werden und sie als „Fremde, Ausländer“ klassifiziert werden.22Boz, Tuba & Bouma, Gary 2012. Identity construction: A comparison between Turkish Muslims in Australia and Germany. Epiphany 5/1, 95-112. Also Online: http://epiphany.ius.edu.ba/index.php/epiphany/article/­down­load/­45/46 [PDF-Datei] [Stand 2016-05-10].

Eine nationale Identität ermöglicht es, sich im dortigen Kontext politischer und sozialer Möglichkeiten zu bewegen. Dazu gehören Bürgerrechte und –pflichten. Ihnen sind die allgemeinen Menschenrechte übergeordnet (z. B. UN Menschenrechtscharta).23http://www.menschenrechtserklaerung.de [Stand 2016-05-24]. Die Bürgerrechte eines Staates sind nur in Teilen für Diasporasituationen anders gestaltet, ansonsten gelten die Strafvorschriften und der Maßregelvollzug für alle. Besondere spezifische Verpflichtungen, wie z. B. der Spracherwerb zur Teilnahme am Arbeitsmarkt oder die zeitliche und räumliche Begrenzung des Aufenthaltrechtes, und weitere spezifische Rechte, wie z. B. die Dauer des Aufenthaltes zur Erlangung von Sozialleistungen, treffen nur auf Migranten und damit die Diaspora zu.24So sind aufenthaltsrechtliche Verstöße nur durch Nicht-Deutsche möglich. Die Zugehörigkeit zu einer nationalen Identität stellt die Grundlage für Reisen ins Ausland und für bürokratische Aktivitäten (Wohnsitzanmeldung, Kontoeröffnung, Fahrzeugzulassung) dar.

Die Identitäts- und damit die Zugehörigkeitsfrage sind für die christliche Evangelisation eine Herausforderung. So wird aus theologischen Gründen die nationale Identität oft als unwichtig identifiziert und um eine geistliche und globale Perspektive erweitert. Die Teilhabe an der globalen-zeitlosen Kirche wird, aus einer geistlichen Dimension heraus, als die eigentliche postuliert. Grundsätzlich bietet diese Idee die Möglichkeit zur Überwindung nationaler Begrenzungen im Rahmen der Weltkirche. Jedoch ist darauf hinzuweisen, dass nationale Gesichtspunkte von je her auch in der Bibel eine Rolle spielten. Sie werden als gegebene Realitäten vorausgesetzt, ja bewusst erwähnt. So ist die Zugehörigkeit zum jüdischen Volk von Bedeutung wie die Apostel, Jesus Christus und die alttestamentlichen Erzväter und Propheten es in Abgrenzung zu den Philistern, Kanaanitern, Ägyptern, Assyrern, Babyloniern, Griechen und Römern beweisen. Aber auch die Zugehörigkeit zu nicht-jüdischen politisch-nationalen Größen wird aufgezeigt, wie den Samaritern oder der Dekapolis.25Ein wichtiges Moment in dieser Diskussion spielt die Entscheidung, welche nach dem Treffen der Ältesten und Apostel in Jerusalem getroffen wurde (Apg. 15:23-29, Gal 2:10-21). Die Spannung zwischen jüdisch-alttestamentlichen Gesetz und neutestamentlichen Glauben, sowie zwischen der jüdischen Volkszugehörigkeit und den nicht-jüdischen Völkern wird hier deutlich. „Heiden“, „Römer“, „jüdische Bürger“ und in Apg. 2:9-11 auch alle großen damals bekannten Ethnien werden im Neuen Testament erwähnt. Der Apostel Paulus hat sowohl von seinem Recht als jüdischer Bürger unter dem Namen Saulus von diesem Gebrauch gemacht (Apg. 9:14 i. V. m. 8:1, 3 und 9:1), wie auch von seinem römischen Bürgerrecht (Apg. 22:27). Die sprachliche und kulturelle Identität eines Menschen gibt Einblick auf seine Vorstellungen von der Welt (Weltbild) sowie seiner früheren Umwelt. Sprache spiegelt beides wieder. Kennt man solche sprachlich-kognitiven und anthropologischen Zusammenhänge, dann ist es auch einfacher sich inhaltlich dem Gegenüber zu nähern. Die Grundbedürfnisse nach Arbeit, einen Ursprung (erste „Heimat“) und Teilhabe an der Zukunftsgestaltung spiegeln diese Identität wider.

Die Motivation der Migration beruht auf wirtschaftlichen, politischen oder persönlichen Gründen und bewirkt die Abwendung von der Heimat.26Die hier genannte Reihenfolge folgt den beobachteten Gründen für die globale Migration, kann aber im Einzelfall für ein Land oder eine Situation durchaus anders sein. Eine letztendlich Festlegung ist nicht möglich, da die Motivationen und Gründe für Migration überlappen. Aus diesem Grund ist es wichtig sich der dortigen Situation etwas bewusst zu werden und auch die möglichen Beweggründe einer Migration zu kennen. Dies ist aus allgemeinen Quellen und nicht von den Betroffenen zu erfragen. In den meisten Fällen streuen Fragen über die Migrationsgründe nur Misstrauen und hemmen das Verhältnis. Dies gilt im Übrigen auch für persönliche Fragen über sichtbare körperliche Behinderungen oder seelische Traumata (Krieg, Kriminalität, Unglücke). Letzteres ist aus humanrechtlichen Gründen auch nicht erlaubt, wird jedoch schnell strafrechtlich relevant, falls solches Wissen veröffentlicht würde oder Zwang nachweisbar wäre. Es ist hier also Vorsicht geboten. Für ethnographische Studien ist daher das Einverständnis zur Aufnahme, Niederschrift und Bearbeitung der Daten nötig. Im Falle langwieriger Forschung ist gegebenenfalls die Erlaubnis zu wiederholen.

Die „Identität“ in der Diaspora betrifft sowohl die Vergangenheit, was man war, als auch die Zukunft, was man werden will (erste „Heimat und Zukunftsgestaltung). Ständig sind Migranten unbewusst mit diesem Dilemma konfrontiert. Über die Kinder, politische Veränderungen in dem Aufenthaltsland als auch den Herkunftsländern und zuletzt die eigenen Kompetenzen (berufliche Erfolge oder Versagen, soziale Abhängigkeiten) ist die Frage ständig mit welcher Kultur, welchem Staatsgebilde man sich mehr identifiziert. Schon seit je her gab es wirtschaftliche, wie auch politische Migrationsbewegungen, nur war in den wenigsten Fällen, wie heute eine enge Verknüpfung zum Herkunftsland aus politischen oder finanziellen Gründen möglich. Visaregelungen, günstige und umfangreiche Mobilitätsangebote (Flug, Auto, Bus, Zug) und zuletzt globale Abkommen im Bankwesen ermöglichen enge Beziehungen. Heute sind finanzielle Verknüpfungen möglich. Mietshäuser, Grundbesitz und Firmen in den Herkunftsländern bilden die Regel (eigene Beobachtungen unter türkischstämmigen Migranten). Diese Entwicklungen machen es noch schwerer sich für eine Identität zu entscheiden und sind für unterschiedliche von außen zugewiesene und eigens empfundene Identitäten zuständig. Migranten die aus religiösen oder politischen Gründen verfolgt wurden, haben sich in langer Arbeit im Aufenthaltsland eine Zukunft geschaffen. Ab einer gewissen finanziellen Absicherung treten jedoch die Gesetze der soziokulturellen Verpflichtungen gegenüber den im Heimatland Verbliebenen in Kraft. Dies führt zu einer wirtschaftlichen Rückbindung. Bereitstellung von Wohnraum, Rückkauf von ehemaligem Besitz und damit einhergehende Präsenz im ehemaligen Heimatland führen zu neuen Spannungen und Herausforderungen.

Die hier aufgezeigten Entwicklungen deuten die tiefe Verbundenheit mit der Herkunftskultur als erste „Heimat“ an. Die missiologische Planung muss die Annäherung und diese Identitätszuweisungen, des „sowohl Hier als auch Dort“ verstehen und beachten. Menschen in der Diaspora können, und wollen meist bewusst mit diesen unterschiedlichen Identitäten leben. Sie gehen damit nicht hausieren, da es auch Spannungsfelder zur Umgebungskultur oder auch zur Herkunftskultur geben kann. Nur selten geschieht es, dass gar keine Identität als „Heimat“ kategorisiert wird, doch kann das Geflecht für Außenstehende undurchsichtig sein. Die von den Migranten selbst empfundene Identität stellt die Ausgangsbasis für die Begegnung dar, auch wenn sie überbetont und idealisiert wird. Dies kann zu befremdlichen Absonderungen führen, wie die Betonung sich nicht durch den Umgang mit „westlichen“, fremdreligiösen Menschen „beschmutzen“ zu wollen (Purifikations-Phänomen). Nichtsdestotrotz sind auch solche Einstellungen, Ausgangsbasis für evangelistische und diakonische christliche Ansätze.

4.2.2 Anknüpfungspunkte an den christlichen Glaube – Diaspora und Kirche

Die genannten Grundbedürfnisse nach a.) Anerkennung durch Arbeit bzw. Sozialem Engagement, b.) die Rückbesinnung auf einen sprachlichen und kulturellen Rahmen als „Heimat“ und c.) einer gesunden Lebens-Neugierde, um die (eigene und gesellschaftliche) Zukunft zu gestalten bilden hervorragende Ansatzpunkte, da sie in der biblischen Botschaft elementar behandelt und aus kirchlicher Perspektive kontextualisiert werden.

Verschiedene Identitäten bringen viele Lebenserfahrungen mit sich. Diese sind nicht nur positiv im Sinne einer Horizonterweiterung, sondern können auch negativen Ursprungs sein und von Gewalt und Zerstörung her rühren. Die globale Zunahme religiöser Bewegungen während des 20. Jh. rührt unter anderem von den Menschheitserfahrungen der beiden Weltkriege, dem rasanten Wirtschaftsaufschwung und der damit einhergehenden wirtschaftlichen Schere zwischen den Industrienationen und der Zweidrittelwelt. Zunehmende Umweltkatastrophen, Klimaveränderungen und der expansive Bevölkerungswachstum tragen dazu bei, dass Religionen wichtige identitäts– und gesellschaftsbildende sowie –bindende Faktoren darstellen.

Wo sich Mikrokulturen abzeichnen, die sich aus sprachlichen, gesellschaftlich-kulturellen oder anderen Gründen als Ansprechpartner für christliche Bemühungen herauskristallisieren, da zeichnet sich immer auch ein Profil ab, wie sich diese zu christlichem Engagement stellen. Die Bandbreite geht von Ablehnung oder Gleichgültigkeit bis zur Akzeptanz und Offenheit gegenüber neuen Ideen (gesunde Neugier). Unabhängig von dieser Einstellung sind materielle Bedürfnisse, wie Existenzabsicherung, Lebensversorgung und Teilhabe am öffentlichen Leben vorhanden, die befriedigt werden wollen (Anerkennung durch Arbeit / soziales Engagement). Letzteres Bedürfnis ist leider aufgrund der Biographie von Jesus Christus wie sie überliefert ist nur hintergründig für die Kirche von Belang. Die Selbstversorgung als Zimmermann bis zu seinem öffentlichen Auftreten mit ca. 30 Jahren wird nur mittelbar deutlich. Die Tatsache, dass es keine Anklagen aus dieser Zeit gibt weist darauf hin, dass die Arbeit zuverlässig gehandhabt wurde (Mk 6:3). Abzuleiten wäre die soziale Anerkennung und innere Befriedigung die Jesus von Nazareth dadurch erfuhr. Nichtsdestotrotz hat sich die Kenosis (Entäußerung) der Gottheit dadurch inkarnatorisch manifestiert, dass Jesus ein Handwerk ausübte und sich und seine Nachfolger erst ab seinem öffentlichem Wirken von der Versorgung durch Jünger(innen) abhängig machte (Mk 3:20; 7:24; Lk 5:29; Speisewunder etc.).

Die Gemeinde kann durch Netzwerke und Verbindungen zu sozialen und öffentlichen Trägern (Krankenhäuser, Verwaltungen, Dienstversorger etc.) Verbindungen herstellen, die es ermöglichen auch diakonische Attribute in das Gemeindeleben aufzunehmen (Grundbedürfnis a). In der Verknüpfung von diakonischem Engagement mit gemeindebaulichen Elementen werden die Migranten nicht nur zur eigenen sozialen und finanziellen Versorgung angeregt, sondern sie erfahren auch mehr über gemeindlich-kirchliches Leben. Die Konfrontation mit christlicher Lehre, Lebensweise und gemeindlichem Leben stellt meist auch eine interreligiöse Erfahrung dar. Dies stellt eine Herausforderung für die Kirche und Gemeinde dar, da apologetische Elemente zur Reflexion der eigenen Position zwingen. In diesem Bereich ist die interkulturelle Begegnung und interkulturelle Kommunikation besonders zu beachten. Dies bedeutet auch die „erste Heimat“ der Migranten im Blick zu haben (Grundbedürfnis b). Dortige christliche Aktivitäten (ansässige Kirchen, christliche Präsenz durch Entwicklungshilfe etc.), die gesprochenen Sprachen, die nationale und ethnische Geschichte, sowie Führungspersönlichkeiten und soziale Strukturen sind von Bedeutung. Weltweit finden sich mehrheitlich Stammes- oder nach Blutslinie aufgeteilte soziale Strukturen, denen einzelne Führungseliten (Stamm oder Heroenfamilie27Sogenannte „Scheichs“, „Paschas“, „Häuptlinge“ oder „Heilige“ können durch Vererbung, aber auch durch besondere Verdienste (Kampfführung, Wundertaten, Weisheit) ihre Stellung erlangen. Ihnen stehen religiöse, politische und wirtschaftliche Helfer zur Seite, die kleinere soziale oder lokale Einheiten (Großfamilien, Dörfer, Sekten) führen. Die Arbeitsteilung sozialer Konstrukte ist seit alters her bekannt (z. B. Volk Israel Num 11:16-17). Insbesondere militärische, medizinische und verwaltungstechnische Einheiten sind zu erkennen (Schamanen, Priester, Ärzte, Dorfvorsteher, Kommandeure). Z. B. syrisch-türkisch-armenische Yeziden in Kreyenbroek, Ph. & Rashow, Kh. J. 2005. God and Sheikh Adi are perfect: Sacred Poems and Religious Narratives from the Yezidi Tradition. Wiesbaden: Harrasowitz, Einleitung. S. a. Maisel, Sebastian 2014 oben.) vorstehen. Diese Eliten bilden die Mediatoren zur Umgebung, sie sind Sprachrohr und Filter für gesamtgesellschaftliche Forderungen und Entwicklungen. Die europäische Tradition sogenannter Städtepartnerschaften ist ein Vorbild für Kirchen und Gemeinden sich zu Vernetzung. Internationale Partnerkirchen oder Partnerschaften zu sozialen Einrichtungen weiten den Blick und bieten ein Betätigungsfeld für Migranten, junge Leute und auch Rentner. Die eigene und gesellschaftliche Zukunft zu gestalten und dabei die gesunde menschliche Neugier zu befriedigen ist im Rahmen der Kirche durch diakonisch-politisches Engagement möglich (Grundbedürfnis c). Die lokale Vernetzung mit den verschiedensten Institutionen (Ausländerbeiräte, Inklusionseinrichtungen, Stadtteilverantwortliche) bildet das Fundament solcher Aktivitäten. Nachdem Deutschkenntnisse vorhanden sind stehen Migranten solche Vernetzungen zur Verfügung, oder sie können sich aktiv dafür einsetzen. Diese Win-Win Situation dient der christlichen Gemeinde und Kirche genauso wie den Akteuren.

4.2.3 Kreative Einbindung in diakonische Strukturen

Es wäre nun unverantwortlich zu sagen, dass die Diaspora ein leichtes Feld für christliches Engagement wäre. Sprachliche und kulturelle Hürden gilt es zu überwinden. Diesem Hindernis steht die eigene Erfahrung und Überlegenheit im eigenen sozio-kulturellen Kontext gegenüber. Eine Grenz-Überschreitung bietet der Gemeinde und Kirche die Möglichkeit, an Zahl und Erkenntnis zu wachsen. Wie auch immer, es bleibt abzuwägen welche Angebote der Gemeinde den Migranten dienen und welche nötig wären um die genannten Grundbedürfnisse abzudecken. Im Hinblick auf das Bedürfnis nach Anerkennung durch Arbeit und sozialem Engagement (Grundbedürfnis a) sind die Ansätze der „Transformation“ erfolgversprechend. Stadtteilarbeit und soziale Einrichtungen (z. B. Second Hand Kleiderläden, Kinderkrippen, christliche Shops / Kaffees) bieten Anlaufstellen aber auch potentielle Arbeitsplätze. Die Vernetzung mit solchen Einrichtungen und die Hinzuziehungen öffentlicher Einrichtungen (z. B. Bundesagentur für Arbeit, Sozialamt / Amt für Integration) ist ein weiteres Standbein. Dem Grundbedürfnis sich auf den eigenen Ursprung zurück zu beziehen (Grundbedürfnis b) kann begegnet werden indem über die Sprache und Kultur Informationen eingeholt werden und so Anknüpfungspunkte hergestellt werden. Kontakte in die Heimat durch die Kirche oder Gemeinde wäre ein nächster Schritt. Partnerschaften mit Schulen, Führungspersönlichkeiten und –eliten können auf lange Sicht zum Austausch von Erfahrungen, Besuchskontakten und anderem führen.

Die Gestaltung der Zukunft ist sowohl eine geistliche als auch soziale Herausforderung für die Kirche (Grundbedürfnis c). Theologisch ist dabei die Besinnung auf eine Entrückung, bzw. baldige Erlösung der Gläubigen (1 Thess 4:17) eine kontraproduktive Eschatologie, der die gemeindliche Vorbereitung und Zukunftsgestaltung der Gemeinden durch die Apostel diametral entgegensteht. Die neutestamentlichen Gemeinden wurden auf lange Sicht auf die Konfrontation mit Andersdenkenden vorbereitet und die dafür nötigen Strukturen, sowie theologisch-missiologischen Grundsteine gelegt. Hierzu gehören die geistliche Zurüstung (Eph 6:11-20), die Hinweise auf die zukünftigen Dinge und die Bewährung im Glauben (Offbg; Hebr 11:1-11; etc.) und zuletzt die Zusage, dass erst die Wiedererscheinung des Christus das neue Zeitalter einleitet (Apg 1:10-11). Homiletisch muss die Verkündigung und Evangelisation die gestalterische Kraft der Kirche im Blick haben. Soziale Projekte sind auf die Gestaltung der Umwelt, der gesellschaftlichen Strukturen und die Einbindung unterschiedlicher Kulturen, Minderheiten und Randgruppen aufzubauen. Dabei sind vor allem marginalisierte Gruppen, wie Menschen mit Beeinträchtigungen, Menschen unterschiedlicher Herkunft oder auch anderer sexueller Ausrichtung als Teil einer Gesellschaft einzubeziehen, welche Diversitäten widerspiegelt. Es ist durchaus sinnvoll solche Projekte außerhalb des eigenen Rahmens durchzuführen, da dies den Angesprochenen mehr Bewegungsspielraum lässt. Bauliche Hindernisse sollten allerdings kein Hindernis zur Beteiligung darstellen, wie dies oft für Menschen mit Mobilitätseinschränkung der Fall ist. Migranten mit solchen Einschränkung hätten bei solchen Hindernissen eine doppelte Hürde zu bewältigen, da die eigene Mobilitätseinschränkung schon von vielem im eigenen Umfeld ausschließt.

Bibelübersetzung und Diaspora

Ein nicht unbedeutender Teil des christlichen Auftrages kann darin gesehen werden, dass den Sprachgruppen dieser Welt die Heilige Schrift sprachlich und kulturell zugänglich gemacht wird. Dies lässt sich aus dem jesuanischen Lehr- und Vermittlungsauftrag zur Jüngerschaft (Mat 28:18-20) ableiten. Wie dies in der Offenbarung als eschatologischer Grundsatz ausgedrückt wird, stehen einst vor dem Thron Gottes Menschen aus allen Sprachen und Nationen (Offbg. 5: 9-10, 13).

Von Beginn der Kirche an wird diese Vervielfältigung der Kirche durch muttersprachliche Bibelübersetzungen praktiziert. Die bekanntesten Beispiele bilden die griechische Septuaginta des 2. Jh. vor Christus, die zur Grundlage der Kirche wurde, die syro-aramäische Peschitta (2. Jh. V. Chr.), die lateinische Vulgata ab dem 4. Jh., die slawischen, und gotischen Bibelübersetzungen. Ab dem 19. Jh. nehmen die Arbeiten an Bibelübersetzungen in immer kleinere Sprachgruppen zu. Das Jahrhundert der Bibelübersetzungen wird von zahlreichen Einzelinitiativen, von Organisationen und von der Kirche getragen. Dabei spielen von Anfang an Diaspora-Gruppen eine erhebliche Rolle, weil sie oft als bi- oder polylinguale Vermittler in der Lage waren die Bibel aus der Lingua Franca in die Muttersprache zu übertragen. Insgesamt kommt bis heute dieser Gruppe die besondere Bedeutung zu, dass sie im Kontakt mit dem Christentum, den eigenen Sprach- und Kulturraum durch die Übersetzung der Bibel bereichern. Dies liegt zum einen daran, dass die Migrationserfahrung zu einer mehr oder weniger Offenheit für die neue Umwelt, deren Kontexte und Ideen bietet, zum anderen generiert die Sehnsucht zur Heimat auch ein Mitteilungsbedürfnis über die neue Situation in der man sich befindet und dabei wird ein transkultureller Prozess angestoßen.28Im Laufe der Integration, Assimilation kommt es natürlich auch zu Ablehnungen und einem Bewahrungs-Verhalten, welches alle diejenigen als bedrohlich empfundenen Einflüsse negiert und kritisch betrachtet. Dieses letzte Verhalten ist der Hauptgrund für Assimilations-Verweigerung und Absonderung, wie dies in manchen Stadtteilen beobachtbar ist.

Das Projekt einer Bibelübersetzung als transkultureller Prozess bietet die Möglichkeit, im Teamgefüge die linguistischen, theologischen und soziologischen Punkte gemeinsam zu bearbeiten. Das Diaspora-Gefälle von der nationalen Kultur hin zur Migrationskultur stellt eine besondere Herausforderung dar. Dabei bildet die angesprochene Identitätsfrage eine Schlüsselrolle. Durch ein Produkt, mit welchem sich eine nationale Kultur identifiziert, und darum handelt es sich bei der Bibel, wird ein Teil des Kulturgutes an eine Migrationskultur weiter gereicht. Diese Interaktion bewirkt in beiden gesellschaftlichen Gruppen eine From von Annäherung, die von der Kirche aufgegriffen werden kann. Für die Migrationskultur ist die Beschäftigung mit einem fremden Kulturgut eine Herausforderung, da die Reaktionen darauf nicht vorhersehbar sind.

Es ist nötig an diesem Punkt auch Revisionen oder Neuübersetzungen, die im Ausland von der Diaspora gefertigt werden, von christlich geprägten Migrationskulturen zu erwähnen, da dies die einheimische Kirche in der Heimat herausfordert (z. B. aramäische Übersetzungsprojekte in USA und Europa). Zum einen gilt es die Frage zu beantworten, warum eine Revision nicht von der Kirche im Heimatland geleistet wird und zum anderen ist die Absprache bzw. die Mitarbeit zwischen dem Bibelübersetzungsprojekt und der heimischen Kirche unabdingbar nötig, um die nötige Akzeptanz zu erhalten. Nichtsdestotrotz spielt auch hier die Diaspora eine wichtige Rolle, da sie kreativ und unabhängig von einheimischen Einflüssen übersetzen kann.

Bibelübersetzungsprojekte in der Diaspora bieten vielfältige Vorteile, haben jedoch auch Herausforderungen zu meistern. Die Vorteile sind zum einen, eine große politische und persönliche Sicherheit für alle Beteiligten, da sie meist im kleinen Rahmen, mit wenig Öffentlichkeitsbeteiligung in urbanen Situationen stattfinden. Des Weiteren sind Diasporakreise meist gut miteinander verdrahtet, sodass schnell aufeinander eingegangen und reagiert werden kann. Zuletzt bietet die Diasporasituation auch schnellen Zugriff auf akademische und technologische Ressourcen, da Bildungseinrichtungen nahe bei sind und unbeobachtet genutzt werden können. Als Herausforderungen ist zu nennen, dass Diasporagruppen keine homogenen Einheiten sind und es schwierig ist die oft wenigen Interessierten zu finden und zu mobilisieren. Hierzu gehört auch, dass es schwierig ist, die Balance zu halten, zwischen einem effektiven Management durch externe Projektleitungen, Berater, der finanziellen Unterstützung und dem Gefühl, dass das Projekt im Besitz des Übersetzer-Teams ist. Ebenso ist gerade das Leben in der Diaspora für die Migranten schon aufwändig und durch viele Konflikte belastet, sodass ein Bibelübersetzungsprojekt noch zusätzliche Belastungen mit sich bringt.

Zusammenfassung

In diesem Artikel wurden die Ursachen und Auswirkungen von Migration im Hinblick auf die Diaspora beleuchtet. Diaspora, als komplexe soziale Erscheinung, ist in freiwillige und zwangsläufige, wie auch zeitlich einzugrenzende Migration, die zur Diaspora führt zu unterscheiden. Dabei lassen sich äußere Zuweisungen, wie auch innere Empfindungen über Diasporasituationen nicht gegeneinander ausspielen. Wo und wie sich ein Migrant oder Mensch, oder eine Gruppe als Diaspora definiert bleibt zuletzt den Akteuren selbst überlassen. Nichtsdestotrotz sind typische Kennzeichen, Wahrnehmungen, Herausforderungen und Vorzüge erkennbar, die von außen an die Diaspora angelegt werden kann. Diese Studie bezieht sich somit auf Migranten in der Diaspora. Für den missiologischen Ertrag konnte die Perspektive auf drei Grundbedürfnisse verengt werden: a.) das Bedürfnis nach Anerkennung durch Arbeit bzw. soziales Engagement, b.) das Bedürfnis sich auf einen sprachlichen und kulturellen Rahmen als „Heimat“ zu besinnen, und c.) das Bedürfnis einer gesunden Lebens-Neugierde nachzukommen, um die (eigene und gesellschaftliche) Zukunft zu gestalten. Im Hinblick auf die Frage nach der „Identität“ bzw. den „Identitäten“ die durch eine Diasporasituation generiert werden, wurden die Herausforderungen, aber auch die Erfahrungszugewinne für Kirchen und Gemeinden beleuchtet. Kreative Ansätze zur diakonischen Einbindung von Menschen, die in einer Diasporasituation leben, helfen diesen Identitäten gerecht zu werden, gleichzeitig aber auch die Bedürfnisse anzugehen. Die Stadtteilarbeit und enge Vernetzung mit lokalen Organisation und Institutionen ist hilfreich um Beschäftigungs- und Engagement­optionen zu eröffnen (Bedürfnis a). Diese diakonische Linie wird durch die persönliche Zuwendung im Hinblick auf die „erste Heimat“, Sprache und Kultur unterstützt. Dabei spielen Kontakte zu den sozialen Führungseliten dort eine Rolle (Bedürfnis b.). Die Zukunftsplanung wird durch die Einbindung in die gemeindliche Struktur und den verknüpften Gremien ermöglicht. Selbstständige Aufgaben für die Menschen aus der Diaspora bilden den Höhepunkt christlicher Aktion. Die Sprache und Kultur der „neuen Heimat“ ist immer als Fundament für jegliches Miteinander zu verstehen. Bibelübersetzung als kirchlicher Auftrag bildet eine transkulturelle Verbindung zwischen den beteiligten Kulturkreisen und kann dazu dienen im kirchlichen Bereich, die Brücke zu schlagen. Das Wort Gottes als Mitte für Gläubige unterschiedlicher Kulturkreise ist Merkmal der globalen Kirche, da die gleiche Offenbarung nun in der jeweiligen Muttersprache zur Verfügung steht.

 

Die biblische Offenbarung – Nadelöhr göttlicher Kommunikation – Ein Überblick der trinitarisch-kommunikativen Grundlagen in Bezug auf die Wissenschaft der Bibelübersetzung

Eberhard Werner

Inhalt

Die biblische Offenbarung – Nadelöhr göttlicher Kommunikation. 1

Ein Überblick der trinitarisch-kommunikativen Grundlagen in Bezug auf die Wissenschaft der Bibelübersetzung  1

Abstract 1

Aufbau. 1

Einleitende Gedanken – Kommunikationswege. 2

Die Selbstoffenbarung. 4

Heilige Schrift – Anthropos und Theos. 5

Das Nadelöhr göttlicher Kommunikation. 7

Missiologische Überlegungen. 10

Erlebte Kommunikation. 12

Kirchengeschichtlicher Rückblick – Kommunikationsgedanke. 13

Zusammenfassung. 14

 

Abstract

Die Heilige Schrift vermittelt uns unterschiedliche Wege wie sich die göttliche Transzendenz in vorbiblischen, vorchristlichen, vorkanonischen und kanonischen Zeiten dem Menschen geoffenbart hat. Das geoffenbarte Konzept der Drei-Einigkeit oder Trinität des jüdisch-christlichen Gottes spielt dabei eine wichtige Rolle. Jedoch darf dieses theologische Theorem als biblische Wahrheit nicht darüber hinweg täuschen, dass es sich um ein rein relationales Gefüge handelt. Die beziehungsrelevante Kategorie des geoffenbarte Wesens Gottes wird unter anderem von den Kommunikationsformen und –wegen her erklärlich. Das Ereignis der Menschwerdung (Inkarnation), in der Herablassung (Kondeszenz) und der Entäußerung oder Entleerung (Kenosis) des göttlichen Gegenübers in persona, sowie der Bildung des Kanon im Kontext der gesamten heilsrelevanten Geschichte stellt einen vorläufigen Höhepunkt göttlicher Offenbarung dar, den man als kommunikatives Nadelöhr betrachten muss. Das „Davor“ und das „Nachher“ der Mitteilungswege dieser göttlichen Offenbarung bildet die Grundlage für die Wissenschaft der Bibelübersetzung. Die biblischen Kanons in ihren derzeit präsenten Formen, sowie die sie begleitenden und beschreibenden Schriften, formen die Basis unseres Gottesbildes. Diese Kanons fußen als Grundlagentexte auf der Grundlage der Textkritik. Sie verengen die göttlichen Mitteilungsmuster auf den impliziten und expliziten kommunikativen Gehalt des Bibeltextes. Aus diesem Grund ist die Wissenschaft zur Bibelübersetzung angehalten sich der Vielfalt der Möglichkeiten zur Übertragung kommunikativer sakral-göttlicher Inhalte bewusst zu werden und dem Rezeptor / Empfänger, sowohl die Übertragungswege, als auch die Bedeutungsoptionen des / der biblischen Texte(s) nahe zu bringen. Das uns zugängliche Wesen Gottes ist in diesen Übertragungs- und Kommunikationswegen beschrieben.

Aufbau

Im ersten Teil werden Kommunikationswege in der Hebräischen Bibel und dem Neuen Testament betrachtet, mit denen sich die göttliche Transzendenz auf mündlich tradierende oder schriftliche Weise der Menschheit, Teilgruppen oder Individuen näherte.

Im zweiten Teil wird die Funktion wie ein Nadelöhr / Verengung dieser Offenbarungswege auf die Kanonisierung und Niederschrift der Heiligen Schrift betrachtet, sowie die Bedeutung dieses Vorganges für Gemeinde und Kirche.

Im dritten Teil geht es um die daraus resultierenden missiologischen Konsequenzen1Dieser Artikel fußt auf der Arbeit Bibelübersetzung in Theorie und Praxis (Kovac Verlag, 2011)

Einleitende Gedanken – Kommunikationswege

Die Trinität, Drei-Einsheit, Drei-Einheit oder Drei-Einigkeit stellt ein theoretisches Konzept dar, welches sich aus den biblischen Berichten ableiten, jedoch nicht logisch begreifen lässt. Sie bleibt ein Geheimnis, welches sich im Glauben (πίστις, pistis) und Verstehen (σύνεσις, synesis) im Gläubigen manifestiert. Sie bezeugt einen Beziehungsaspekt, in welchem sich sowohl Gottes innere Liebesbeziehung zwischen seinen Offenbarungsformen (hypostasen oder persona) zeigt (ad intra), wie auch die nach außen wirkende Liebesbeziehung zum Menschen (ad extra). Letztere ist versinnbildlicht in der Beziehung zu seinem in menschlicher Form Gesandten (Messias, Christus). Die kommunikativen Formen und Wege, die diese trinitarische Offenbarung im biblischen Zeugnis nimmt, deuten auf die nach außen gerichtete sich offenbarende Seins-weise Gottes hin. Anhand dieser Kommunikationswege soll untersucht werden, welche kommunikative Stellung dieser geoffenbarte Gott zum Menschen hat und wie er sich ihm nahe bringen will. Die nicht-geoffenbarten Wesenszüge der Transzendenz bleiben verborgen und bilden das unauflösbare Geheimnis oder Mysterium des Schöpfers. Die göttliche Offenbarung, die Bibel, repräsentiert das einzige Zeugnis.

Kommunikationswege, welche aus der göttlich-transzendenten Sphäre in den human-physikalischen Bereich des Menschen hinein, in der Bibel beschrieben sind umfassen:

  • Mündliche Traditionen auch bekannt als oral-aurale Übertragung (Hörensagen), wie z. B. in Jer 23:27.
  • Schriftliche Offenbarungen, wie z. B. die Ich-Worte: Ich sage euch, Ich bin … (z. B. 2Mose 4:23; Jes 46:10; Mk 14:62; Joh 6:35).

Als Adressaten galten dabei Individuen (z. B. Mose, Abraham), Teilgruppen (z. B. Familien, Stämme etc.) oder ganze Völker (z. B. Israel, Assyrer, Babylonier). Solche Wege lassen sich unterscheiden in:

  • das direkte Reden Gottes (Direktoffenbarung)in Form der Stimme Gottes (z. B. 2Mose 3:16 im Dornbusch gegenüber Mose),
  • durch Träume (1Mose 40:16) oder Visionen (Hes 8:4).
  • das indirekte Reden (Teiloffenbarung),in Schriften (2Mose 32:16),
  • durch Boten (1Mose 16:9),
  • Propheten (Jes 38:1; Hebr 1:1-2),
  • ernannte Jünger (1Petr 1:1) und
  • gewöhnliche Menschen (Joh 4:39).

Der Terminus Direktoffenbarung, darf nicht darüber hinweg täuschen, dass sich in der Heiligen Schrift der Gott Israels nie in seiner Gesamtheit zeigte. Jakob und Mose hatten die großzügigste Offenbarungserfahrung, da sich ihnen Gott in persona (lat. für ‚Maske‘; 1Mose 32:31 und 2Mose 33:23) näherte. Jedoch sollte die Formulierung „von Angesicht zu Angesicht“פָּנִ֣ים אֶל־פָּנִ֔ים nicht überstrapaziert werden, da der gesamtbiblische Kontext deutlich macht, das niemand Gott in seiner Gesamtheit wahrnehmen kann (z. B. Joh 1:18; 1Kor 2:11; 1Joh 4:12). Es scheint sich hierbei, um eine außergewöhnliche Form der Offenbarung gehandelt zu haben, die es Jakob und Mose ermöglichte die Grenze zwischen Heiligkeit und Profanität zu überschreiten. Ob es sich bei dieser Grenzüberschreitung um metaphysische oder physikalische Ereignisse handelte bleibt offen. Anders ausgedrückt, ob hier Menschen sich dem Stand Gottes näherten oder ob sich die göttliche Transzendenz dem Stand der Menschen annäherte ist nicht genauer beschrieben.

Eine andere Kategorisierung der Kanäle der Kom­munikation orientiert sich an der (Aus-) Richtung,

  • die Kommunikation auf horizontaler (Mensch-Mensch; Gemeinde) und vertikaler (Mensch-Gott, Gott-Mensch) Ebene,
  • der soziale Bezug der Gemeinde nach außen (soziologische Ausrichtung),
  • die religiös bedingte psychologisch-kognitive Ebene.

Diese Einteilung bietet sich an, um in den Bereichen Theologie und Missiologie zwischen pragmatischen Erwägungen (erste Ebene oben) und einem interdisziplinären theoretischen Modell (letztere Ebene) zu unterscheiden.

Alle Beispiele der göttlichen Offenbarung treten aufgrund ihrer mündlichen oder schriftlichen Tradierung (Fixation) ins Bewusstsein der Menschheit oder Weltgewissen (manchmal auch Weltbewusstsein). Im Rahmen der Traditionsgeschichte werden auch unerklärliche Ereignisse zu kommunikativen Erfahrungen, welche im weiteren einen festen Bestandteil der globalen Erfahrung im kommunikativen Bereich darstellen. Mit anderen Worten, obwohl manche Abläufe der Kommunikation aus der biblischen Offenbarung einzigartig sind, z. B. der brennende Dornbusch aus dem heraus eine Stimme spricht (2Mose 3:2), tritt dieses Ereignis durch seine Erscheinung in der Heiligen Schrift ins Bewusstsein des Menschen. Offenbarung beinhaltet einen konservierenden Bestandteil der sich der kritischen Auseinandersetzung in der menschlichen Prüfung auf Wahrheit und Relevanz stellt. Dies ist theologisch und missiologisch bedeutsam, da in apologetischen Abhandlungen der kommunikative Hintergrund des Gesprächspartners zu berücksichtigen ist, wie z. B. den islamischen kommunikativen Erfahrungsbereiches im Dialog mit Muslimen und umgekehrt. Der Vorgang des Offenbarens wird heute durch die Schriftoffenbarung des biblischen Zeugnisses verengt. Bevor wir darauf eingehen, gilt es die heilgeschichtlich bedeutsame Selbstoffenbarung des Gottes Israels (Hebräische Bibel) und der Beziehung zur Welt in Christus (Hebräische Bibel und Neues Testament) zu untersuchen.

Das Wissen über die göttlichen Kommunikationswege und den Inhalt der Offenbarungen ergibt sich aus der biblischen Offenbarung selbst. In diesem Sinne formt die Heilige Schrift sowohl das Kommunikationsmittel, als auch die Informationsquelle über die darin geoffenbarte Kommunikation. Dieser inhärente Zirkelschluss ergibt sich aus jeder religiösen Offenbarung, die sich auf eine sphärenüberschreitende Quelle beruft. Aus kommunikativer Sicht wird der Mensch dadurch zum passiven Empfänger, Zieladressaten und Objekt der Kommunikation der Offenbarung, aber aktiver Partner der Kommunikation im Gebet, der Bibellese und Verkündigung der Offenbarungsinhalte (s. u.).

Die Selbstoffenbarung

Um die Zeitenwende der westlichen Welt, offenbarte sich der Gott Israels, der sich selbst als אֶֽהְיֶ֖ה (2Mose 3:14) bezeichnet im inkarnierten Jesus von Nazareth. Dieser „Ich BIN“ führt sich zurück auf das Tetragrammaton (484a) יהוה (yhwh; TWOT2TWOT [1971] 1980 und 2010. Harris, Laird R., Archer, Gleason L. Jr. & Waltke, Bruce K. The Theological Wordbook of the Old Testament. Chicago: Moody Press of Chicago. Also on BibleWorks 8.0. [DVD].) wie es dem Propheten Mose geoffenbart wurde. Die in der Hebräischen Bibel auf eine Ein-Personenteilung (Einsheit in Vielfalt) hinweisenden Attribute sind:

  • „uns/ wir“ (1Mose 1:26 und 11:7; z. B. „lasst uns Menschen machen“);
  • der „Geist Gottes“ (1Mose 1:2; 1Sa 10:10; 12x; „ich will meinen Geist senden“ Jes. 44:3)
  • „der Engel des Herrn“ (1Mose 16:7; 2Mose 22:23; 164x).

Diese in der Hebräischen Bibel angedeutete Mehrfachausrichtung oder besser Dreiteilung der Person יהוה auf mehrere Aufgaben- oder Offenbarungsbereiche hinein, realisiert sich auch im Neuen Testament konkret in der Kondeszenz (Herablassung) und der Kenosis (Entäußerung) Gottes in Jesus von Nazareth.

Es zeichnet sich eine dreifache Ausrichtung für die Person Gottes im Neuen Testament ab. Die drei persona (s. o.) des NT sind hauptsächlich im Bild des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes angedeutet. Dabei wird das (jüdische) Bild der Kernfamilie und der damit verbundenen engsten zwischenmenschlichen Beziehung des Vaters zum Sohn aufgegriffen. Da Gott in der Antike mehrheitlich als männlich gedacht wurde, trat die in der Realität durchaus engere Beziehung der Mutter zum Kind zugunsten des Vaters zurück (Erziehungs- oder Familienbild). Andere Bilder der Relation werden im Verhältnis Richter, Begnadigter und Beistand (juristisches Bereich) oder Lehrer, Schüler und Meister (Bildungsbereich) oder Kommandant, Soldat und Oberbefehlshaber (militärischer Bereich) ausgedrückt. Innerhalb dieser relationalen Bilder der Beziehungen bleiben die Kommunikationswege immer gleich, da die autoritären Strukturen maßgeblich sind. So ist der Vater dem Sohn, der Richter dem Angeklagten, der Lehrmeister dem Jünger und der Kommandant dem Soldaten übergeordnet und weisungsbefugt.

Die biblische Offenbarung realisiert sich im Übergang von der Hebräischen Bibel zum Neuen Testament oder besser gesagt von der Beziehung zum Volk Israel hin zur globalen Kirche in der bis dato weltgeschichtlich einmaligen Erscheinung des angekündigten Messias. Im Einzelnen drückt sich dies aus durch:

Die substantielle physische Fleischwerdung (Inkarnation) des Jesus von Nazareth. Sie verweist auf ein Annäherungsangebot des bis dahin überwiegend unnahbaren transzendenten Schöpfers (Ausnahme die Propheten Mose, Eliah und König David).
Die Herablassung (Kondeszenz) der Göttlichkeit und der damit verbundene Sphärenübertritt. Dies verweist auf die Stoßrichtung vom metaphysischen in den physikalischen Raum des Menschen. Wohl aber ist die umgekehrte Richtung in der Auferstehung und Himmelfahrt zu erkennen. Einer bis dahin und auch heute wieder gedachten umgekehrten Richtung von Menschen, die aus eigener Anstrengung vom physikalischen in den metaphysischen Raum hinein gelangen könnten, wie z. B. im Hinduismus, wird in der Kondeszenz eine Absage erteilt.
Die physische Entleerung (Kenosis) des Jesus von Nazareth verweist auf die Notwendigkeit und Dringlichkeit des menschlichen Reagierens auf das Heilsangebot zu einer von Gott bestimmten Zeit (ἐκένωσεν ekénōsen Phil 2:7). Jesus bildet das Vorbild, da er sich Gott völlig unterordnete indem er seinen Willen entleerte um dem Vater ganz zur Verfügung zu stehen.
In Summe bedeuten diese Vorgänge, dass sich der Offenbarungsvorgang vom Offenbarer (יהוה, θεος, κυριος) zum Geoffenbarten ausrichtet. Der biblische Bericht erzählt davon, dass sich Gott dem Menschen offenbarte. Wie aber verhält es sich dabei mit den Kommu­nika­tions­wegen? Sind diese dem Menschen zugänglich, oder ist er völlig dem Offenbarungswillen der göttlichen Transzendenz ausgeliefert, wie dies z. B. in Träumen oder Visionen geschah? Wie kann der Mensch antwortend agieren oder reagieren? Diese Fragen aus der Kommunikation werden nun behandelt.

Heilige Schrift – Anthropos und Theos

Um die gestellte Frage zu beantworten, bedarf es eines kleinen Umweges zum Ursprung der Schriftoffenbarung. Schriftoffenbarung stellt ein Zusammenspiel zwischen göttlichem und menschlichem Wirken dar. Zwei Szenarien sollen das verdeutlichen:

Wir realisieren eine weitaus umfangreichere Gottesoffenbarung.

Nehmen wir an – und das ist durchaus realistisch – das die uns vorliegenden Schriftbeweise zur Heilsgeschichte nur einen Bruchteil dessen darstellen, was tatsächlich von diesem Gott über seine Person geoffenbart wurde und auch zur Niederschrift kam.
Hinzu kommt der umfangreiche Verlust mündlicher Traditionen über diesen Gott der Israeliten und dem Gesandten Jesus von Nazareth, wie es sich weltweit in der Literaturgeschichte auch über kurze Zeiträume hinweg beobachten lässt.

Es ist anzunehmen, dass die uns vorliegenden Schriften in sich Kürzungen – vielleicht auch schon zu Lebzeiten der Autoren – darstellen.
Einen Kontrast hierzu bilden,

  • die Inlibration des Koran, welche sich aus einer Uroffenbarung ableitet, die sich im vorliegenden Korantext widerspiegelt und deshalb, so die These, keinen menschlichen, sondern einzig göttlichen Informationsgehalt transportiert,
  • auch das Buch Mormon als Steinhauchung eignet sich solche Göttlichkeit zu,
  • denkbar wäre natürlich auch eine globale Direktoffenbarung an alle Menschen wie dies in der Meißelung der Gebote in Stein (5Mose 4:13 und 5:22) und der Schrift an die Wand für Belschazzar geschah (Dan 5:5).

Alle diese Ansätze (a-c unten) liegen jedoch bis jetzt außerhalb des menschlichen Zugriffsbereiches und sind spekulativ, da weder eine Verfügung über

  • eine göttliche Uroffenbarung (a unten; Produkt göttlicher Gedankenwelt),
  • den Offenbarer / Haucher (b unten; Vorgang der Offenbarung),
  • noch auf seine globale Wirkkraft (c unten; Gott bleibt unzugänglich) besteht.

Die menschlichen Autoren waren sich ihrer Verantwortung bewusst, und trotzdem mussten sie sich aus

  • persönlichen (z. B. Rücksicht auf ihr Umfeld, Gesundheit),
  • ökonomischen (z. B. Schriftmaterial, Finanzen, Ansehen in der Gesellschaft) oder
  • zeitbedingten (z. B. fehlende Vorstellungskraft für Zukunft, Erziehungssystem),

Gründen auf eine Auswahl begrenzen. Als Beispiel kann hier der uns vorliegende Schriftbeweis der Propheten der Hebräischen Bibel dienen. Es ist anzunehmen, dass die sogenannten „kleinen Propheten“ inhaltlich und von ihrer Bedeutung her durchaus im Umfang an Offenbarung mit den „großen Propheten“ mithalten hätten können. Nichtsdestotrotz haben die oder der Verfasser eines jeweiligen Buches eine Auswahl getroffen und so eine – wenn auch verantwortungsbewusste – Kürzung hingenommen. Die „großen Propheten“ hingegen wurden umfassender berücksichtigt. In dieser Auswahl oder Erscheinung eines Buches reflektiert sich auch die Persönlichkeit eines Propheten. Im Hinblick auf dieses Zusammenspiel muss der Mensch, als Individuum und als Corpus Christi (alle Gläubigen), als letztendlicher Filter für die heute vorliegende Textvorlage des Kanons der Hebräischen Bibel und des Neuen Testaments gelten. Die Frage der Herausbildung des Kanons und der Inspiration des biblischen Textes wird hierbei aus rein anthropozentrischer Sicht betrachtet, da die göttliche Wirkkraft dem Menschen nicht zugänglich ist. Trotzdem bleibt die Heilige Schrift ein sakrales Werk, da sie sich auf den Urheber der Offenbarung und damit dem Bereich des Heiligen zurückführt. Einer Profanisierung ist der Text nicht ausgeliefert, da der Inhalt in sich den Bereich des Nicht-Profanen oder Heiligen / Sakralen beschreibt.

Um die obige Frage nun zu beantworten, wie es sich mit den göttlich-menschlichen Kommunikationswegen verhält, erfüllt der Text zum einen in sich selbst alle Kriterien menschlicher Kommunikation und trägt zum anderen immanent den Stempel göttlicher Selbstoffenbarung.

Es ergibt sich aber eine neue Herausforderung, nämlich die der Bedeutung dieses Textes als göttlichen Ursprungs und seiner Transformation in eine schriftliche kommunikativ-informative Offenbarung.

Das Nadelöhr göttlicher Kommunikation

Bis dato konnte festgestellt werden, dass die Weitergabe kommunikativer Inhalte sich sowohl auf den transzendenten Urheber, der sich menschlicher Kommunikationswege bediente, wie auch auf den menschlichen Autor stützt. Mit der Manifestation des (biblischen) Kanons, welcher sich im Verlaufe der Reformation für die westliche Kirche endgültig konstituierte, jedoch bereits ab dem

Nadelöhr / Filter Heilige Schrift

4. Jh. relativ stabil zeigte, wird dem Menschen die volle Verantwortung zur Verwaltung der Offenbarung übertragen. Die Heilige Schrift, stellt die Summe aller Kanons als Kanon dar und wirkt seither für die weltweite Kirche wie ein Nadelöhr oder Filter. Das bedeutet, dass die Gemeinde und Kirche anhand dieses sichtbaren Kontrollwerkzeuges über die weiterreichende und unsichtbare  göttliche Offenbarung verfügt, zum einen als Hüterin der Schrift und zum anderen als Verantwortliche zur Indigenisierung derselben, in allen Volks- und Sprachgruppen dieser Welt. Letzteres natürlich nur da, wo Glaube auf fruchtbaren Boden fällt. Dem Nicht-Glaubenden ist es nur ein Buch. Mit der Heiligen Schrift werden Aussagen über oder von Gott gefiltert. Aus dem Schriftbeweis nicht ableitbare Erkenntnisse oder Inhalte fallen unter die bewusst gewollte Schriftzensur. Dabei verengt sich die wesentliche umfangreichere vor-kanonische Offenbarung im Verlaufe der Kirchengeschichte auf den für die jeweilige Kirche relevanten als Kanon akzeptierten Text. So sieht sich eine römisch katholische Kirche den Apokryphen und Pseudepigraphen verpflichtet, während andere Kirchen wie die Protestantische auch innerhalb der in der Regel allgemein akzeptierten 66 Büchern der Martin Luther Bibel graduell unterscheidet und den Büchern unterschiedliche Wertigkeiten beimisst (z.B. mindere Bedeutung des Hebräer- und Jakobusbriefes). Die römisch katholische Kirche und die orthodoxen Kirchen des Südens und des Osten folgen meist dem Text der Septuaginta und beinhalten zusätzlich zu den 39 Büchern des protestantischen Kanons der Hebräischen Bibel noch:

  • Geschichtsbücher: Esdras (3Esra), 2. Esdras (Esra), Esther (mit Zusätzen), Tobit, Judith, 1Makk, 2Makk, 3Makk.
  • Bücher der Weisheit: Weisheit, Sirach.
  • Große Propheten: Baruch, BrJer = Brief des Jeremia, Ez, Dan (mit Zusätzen)
  • Apokryphen oder Zusätze: Oratio Manasse, 3Esra, 4Esra, Psalm 151

Zusätzlich zu den 27 Büchern des protestantischen Kanons des Neuen Testaments haben diese Kirchen folgende kanonische Bücher:

1. und 2. Clemensbrief, die Didache, der Barnabasbrief, der Hirte des Hermas, das Hebräerevangelium, die Offenbarung des Petrus.
Diese kirchengeschichtliche Entwicklung allein weist bereits auf den wesentlichen Anteil und Beitrag des Menschen hin. Hinzu kommt die Frage der Bildung des Kanon, die sich

  • zum einen auf die Auswahl der Bücher (Anerkennungs- oder / und Ablehnungsprozess),
  • zum anderen die Auswahl der Texte aus dem Gesamtpool der vorhandenen Textmanuskripte (Textkritik) und
  • zuletzt auf die Endredaktion bzw. Festlegung des Kanon und seiner Anerkennung bezieht (Kirchengeschichte).

Die mit diesen Prozessen verbundenen ungeklärten Fragen, des bis heute offenen globalen gesamtkirchlichen Kanons, können hier nicht diskutiert werden, bilden aber hochbrisante Themen die den menschlichen Einfluss auf die Herausbildung und Gestaltung des Kanon noch zusätzlich untermauern.

Es ist an dieser Stelle darauf hin zu weisen, dass es sich um eine temporäre Verengung der Kommunikationswege handelt, welche spätestens bei einer weiteren persönlichen Direktoffenbarung des Christus auf alle erdenklichen kommunikativen Formen erweitert wird (z. B. Wiederkunft des Messias). Auch würde eine Zustandsveränderung, d. h. in einen substantiell physisch neuen Körper, wie es in der Auferstehung vorgesehen ist die Bedingungen verändern. Eine solche Zustandsänderung wäre z. B. in der sofortigen Gegenwart der lebenden und verstorbenen Gläubigen in die direkte Präsenz des biblisch offenbarten Gottes zu sehen , wie dies als Präzedenzfall der sogenannten Entrückung angedacht wird. Dies wird durch den Todesfall eingeleitet und zeigt sich im tausendjährigen Reich bei der Wiederkunft Christi. In der direkten Gegenwart Gottes findet nach der göttlichen Offenbarung auch direkte Kommunikation statt (z. B. Offbg. 7:9-11), die neuen Bedingungen unterliegt und nicht der Schriftoffenbarung nachgeordnet ist.

Zusammengefasst bedeutet dies, dass die Erdenzeit des Jesus von Nazareth (30-36 Jahre) die allumfassende kommunikative Darstellung Gottes beinhaltete, er sich jedoch aufgrund der durch die zeit- und heilsgeschichtlichen Verengung im biblischen Kanon auf eine Auswahl an Information für die Nachwelt beschränkt. Als Beistand und Überbrücker der Lücke fungiert der Geist Gottes, der sich jedoch wieder dem Nadelöhr der schriftlichen Offenbarung unterwirft, d. h. der Gläubige hat an diesem Schriftbeweis zu ermessen, was göttlichen Ursprungs ist.

Aus kommunikativer Sicht hat sich die Heilige Schrift im Rahmen der Kirchengeschichte und spezifisch für die Kirche zu einem Nadelöhr entwickelt, welches als Filterelement kommunikativer Vorgänge nicht nur

  • selbst ein Kommunikationsmittel darstellt (übersetzungsspezifische Funktion), sondern auch
  • Kommunikationsprozesse steuert und kontrolliert (innerkirchliche Funktion) und
  • kommunikative Vorgänge voran bringt (menschlich-göttliche Kommunikation).

Den Begriff der Verengung darf man nicht so verstehen, als wolle die Offenbarung den Menschen begrenzen, sondern durch diese Konzentration auf eine schriftliche Offenbarung ist der Weg für andere Offenbarungswege möglich (z. B. Vision, Schöpfung, Traum, Prophetie etc.), die sich an dieser fixierten Form messen lassen. Der Heilige Geist treibt die Kirche als Corpus Christi dazu an die Prüflatte an diese drei kommunikativen Funktionen (1.-3.) anzusetzen.

Der Bibeltext ist in sich ein geschlossenes Offenbarungswerk welches zentripetal auf seinen geistlich-informellen Kern hinweist und dazu einlädt sich mit diesem auseinanderzusetzen. Diese einladende Wirkung geht von der Faszination über die Person und Wirkung des Jesus von Nazareth aus. Zeitgleich wirkt die biblische Offenbarung zentrifugal als welthistorisches Dokument. Es berichtet über die Kulturen der Antike und den religiösen Gedanken der Erwählung als kirchen- und menschheitsgeschichtlicher Nachweis. Im Rahmen dieser informell-heilsgeschichtlichen Funktion beinhaltet die Heilige Schrift ein implizites Mandat zur Kommunikation und Übersetzung. Ein solches bezieht sich auf alle Sprachen und Kulturen dieser Welt um kontextualisierte Kirchenstrukturen zu ermöglichen. In Anlehnung an die Enkulturation einer Person in ihrer muttersprachlichen Kulturgruppe, stellt die Heimischwerdung der Botschaft (Indigenisierung) über die Realisierung des Reiches Gottes in die jeweilige Kultur- und Sprachgruppe eine parallele Entwicklung dar.

Durch die Verengung des göttlichen Angebotes an Informationen und der Kommunikation anhand des Prüfsteins des biblischen Kanons wird die Heilige Schrift zum bibliozentrischen Mittelpunkt kirchlichen Lebens. Sie stellt die ultimative Norm dar, an welcher sich ideologische Entwicklungen, das kirchliche Lebens, die Ausrichtung des Diakonats und die Auslegung in der Theologie messen lassen müssen (s.o.).

Die Vermittlung geistlicher Wahrheiten und Erkenntnisse beruht auf den Disziplinen der Theologie, der Hermeneutik, der Homiletik, der Exegese und der Hilfsdisziplinen, Soziologie, Linguistik, Philosophie, Psychologie und der Wissenschaften zur Kommunikation und Übersetzung. Das bindende Glied dieser Fachrichtungen stellt die göttliche Offenbarung dar, welche die interdisziplinäre Kommunikation und Forschungstätigkeit vorantreibt. Ihre mitteilende Funktion, informativ und appelativ, wird zum einen aus ihr selbst heraus (Eigenwirkung der Offenbarung) und zum anderen über die Kirche transportiert, als deren Werkzeug der Proklamation (Verkündigung und Auslegung).

Missiologische Überlegungen

Bis hierhin konnte festgestellt werden, dass ein trinitares Modell der Kommunikation auf der Bedeutung der biblischen Offenbarung sowohl als Träger der Kommunikation und als auch als deren Vermittler beruht. Dabei verengt sich die göttliche Kommunikation im Rahmen der Selbstoffenbarung auf den Kanon und dessen filternder Funktion. Der Sphärenwechsel im Ereignis der Inkarnation, der Kondeszenz und der Kenosis durch Jesus von Nazareth schattet die missiologische Ausrichtung des Reiches Gottes voraus. Dies spiegelt sich in der Missio Dei in der Missio Christi und der Missio Spiritus wider. Die Missio Dei beschreibt den weiteren Rahmen der Selbstsendung Gottes, sowie den weltweiten Sendungsauftrag der Kirche im Rahmen der Christlichen Entwicklungshilfe und ihrer theoretischen Grundlagen aus der Missiologie (s. u.). Die Missio Christi beschreibt und treibt das methodologische Konzept des Reiches Gottes voran. Die Missio Spiritus beschreibt den theologischen Rahmen, in welchem sich der Gläubige bewegt und die er in Diakonat und Christlicher Entwicklungshilfe in die Praxis umsetzt. Dieses dynamische Bild der dreifachen Sendung stellt eine Relation dar und kann nicht gegeneinander ausgespielt oder aufgewogen werden. Das bedeutet, dass alle drei Sendungsbereiche ineinander fließen und sich gegenseitig ergänzen und niemals ausschließen.

Der theologisch-missiologische Rahmen, die Missio Dei, ist Teil und Inhalt des methodologischen Vorantreibens der Sendung, dargestellt im Konzept der Missio Christi. In gleicher Weise ergänzen beide die praktische Umsetzung dieser Rahmen und Methoden in der christlichen Entwicklungshilfe, das ist die Missio Spiritus. Entsprechend der Verflechtungen und des ineinander gewoben seins der Trinität kann dieses Mysterium nicht aufgelöst werden. Dies gilt im Übrigen auch für die folgende kommunikative trinitarische Interpretation wie sie eine nach außen gekehrte Darstellung versinnbildlicht.

Das Modell der dreifachen Sendung findet seine kommunikative Realisierung in der 1. Communicatio Dei, 2. der Communicatio Christi und 3. der Revelatione Spiritus.

Die Communicatio Dei reflektiert dabei den missio­lo­gischen und theologischen Rahmen innerhalb dessen sich die Mitteilung der Transzendenz und seiner Manifestierung bewegt. Hierzu gehört das Gesamtpaket des schriftlichen, mündlichen und im Hören offenbarten Spektrums des göttlichen Gegenübers.
Die Communicatio Christi beschreibt das in der Fleischwerdung (Inkarnation), Herablassung Gottes (Kondeszenz) und in der Entleerung des Jesus von Nazareth (Kenosis) geoffenbarte Wesen und die eigen-Initiative Methodik der Transzendenz sich der menschlichen Kommunikationswege zu bedienen (vertikal-horizontale Achse). Dies ist einzigartig in der Menschheitsgeschichte, da sich ansonsten Religionen der menschlichen Kommunikationswege nur bedienen, um sich der Gottheit(en) zu nahen (horizontal-vertikale Achse).
Die Revelatione Spiritus beschreibt die Umsetzung kommunikativer Mittel, um das Individuum, die Gruppe oder ganze Ethnien mit dem Reich Gottes Gedanken zu konfrontieren. Da sich dies auf alle nur erdenklichen Kommunikationswege erstreckt (Träume, Prophetien, Visionen, Selbstoffenbarungen, Anreden, etc.), verengt und begrenzt sich die Revelatione Spiritus auf den Kanon der Heiligen Schrift (s. obige Abbildung).
Dieses Argument der Nadelöhr-Funktion soll hier noch einmal näher und auf seine kommunikative Bedeutung hin betrachtet werden.

Mit der Verengung der göttlichen Offenbarung auf die Heilige Schrift wurde die Verantwortung zur Verwaltung der Kirche und ihrer Instrumentarien auf den Menschen übertragen. Hierzu gehören der Umgang und die Verbreitung des geoffenbarten Wortes, sowie die persönliche Umsetzung der ethischen und theologischen Prämissen. Aus der vorher einseitigen Ansprache des Menschen durch die Transzendenz ergibt sich seither eine doppelte Verantwortung:

Zum einen die Aufrechterhaltung der vertikalen kommunikativen Achse mittels Gebet, des Gehorsam und der Aufmerksamkeit hinsichtlich der göttlicher Offenbarung (christofugal).
Zum anderen die horizontale kommunikative Achse innerhalb der Kirche und zu außerkirchlichen Kreisen im Hinblick auf die Geschwister- und Nächstenliebe im Rahmen des Diakonats und der Christlichen Entwicklungshilfe (christopetal).
Die Communicatio Dei umfasst aus diesem Modell heraus nicht nur die missio interna, sondern auch die missio externa. Inwiefern sich das Modell oder das Verständnis der Missio Dei dadurch verschiebt ist nicht Gegenstand dieser Untersuchung, jedoch wäre es nicht stimmig die Missio Dei als übergeordnete Einheit zu betrachten, da sie einen transparent-durchlässigen Rahmen bildet, der dynamisch in die dreifache Sendung eingewoben ist.

Erlebte Kommunikation

Das hier vorgestellte Modell der Kommunikation in Missiologie und Theologie wirkt ebenso in die Bereiche Kirchengeschichte, die Wissenschaft zur Bibelübersetzung, den Bibelwissenschaften (Exegese, Hermeneutik) und der Homiletik hinein. Darüber hinaus werden im Rahmen der Wissenschaft zur Bibelübersetzung die Ethnologie, die Linguistik, die Soziologie, die Philosophie und die Psychologie konsultiert.

Alle diese Disziplinen adressieren die göttliche Kommunikation und führen dazu, dass es durch die Bibel zu einem Verstehen und Verständnis über Gott kommt, welches im Empfänger „erlebte Kom­muni­kation“ begründet. Der Angesprochene empfindet in diesem Prozess echtes Erleben und kommunikative Anrede. Dies wird in der Hermeneutik und der persönlichen Auseinandersetzung mit der göttlichen Offenbarung deutlich. „Erlebte Kommunikation“ geht über die physischen Kanäle der Kom­mu­ni­ka­tion hinaus. Sie tritt dabei, ebenso wie Gebet, in den psychologisch-kognitiven Raum der Kommunikation ein. Gebet, Bibel­lese, das direkte Reden Gottes zum Menschen (Vision, Traum) und indirekt im Gebet (Eindrücke, Ahnungen, Empfindungen) geben dem Menschen Antworten auf Fragen des Lebens. In diesem Sinne schließt sich ein kom­­mu­ni­kativer Prozess, welcher zwar idealerweise vom Menschen ausgeht, jedoch vom Offenbarungswillen der Transzendenz abhängig ist. Dieser Offenbarungswillen verengt sich auf die innerbiblische Offenbarung, d.h. der Heiligen Schrift als Filter. Der Mensch ist damit zum einen zwar offen für das Reden Gottes durch den Heiligen Geist, gleichzeitig ist er aber auch auf Erkenntnisse im Rahmen seiner Bibelkenntnis begrenzt, da ihm diese die Maßregel und den Filter vorgibt. So werden z. B. Prophetien, Visionen oder Träume als göttliche Kanäle genutzt, jedoch durch die schriftliche Offenbarung reduziert. Das biblische Zeugnis selbst eröffnet die Möglichkeit zur persönlichen Erbauung und auch anderer Personen durch direkte Offenbarung, wenn diese prüfend am Inhalt der Heiligen Schrift gemessen wird (1Kor 14; wiederum ist die Schrift der Maßstab).

Der Mensch kann eigenverantwortlich den Kreislauf ansteuern (Gebet, Aufnahmebereitschaft), wie auch auf die Filterfunktion der Schriftoffenbarung zurückgreifen. In diesem Sinn ist er dem göttlichen Kommunikationspartner ein ebenbürtiges Gegenüber (Imago Dei) und hält im Rahmen der Schöpfung eine Sonderstellung inne.

An diesem Punkt muss darauf hingewiesen werden, dass es aufgrund der biblischen Darstellung auch Auslegungen gibt, die dem Menschen eine Fremdsteuerung zuweisen. Hier wird argumentiert dass allein der Heilige Geist das Wollen und Vollbringen einer kommunikativen Annäherung an Gott motiviert, lenkt und vollführt. Der Wille des Menschen liegt dann darin begründet sich mit dieser Fremdleitung zu arrangieren und sich ihr unter zu ordnen. An dieser Stelle soll diese Auslegung, die die Frage der Prädestination aufwirft, nur erwähnt und zur weiteren Interpretation offen gelassen werden.

Kirchengeschichtlicher Rückblick – Kommunikationsgedanke

Aus kirchengeschichtlicher Perspektive ist es die die Wissenschaft der Bibelübersetzung, welche den Erfahrungsbereich der Kirche in Form der Übersetzungstraditionen transportiert. Der gesamtkirchliche Kanon, als Summe verschiedenster Kanon-Traditionen manifestiert sich in den muttersprachlichen Bibelübersetzungen. Hinzu kommt, im Verlauf der Geschichte der Bibelübersetzung spiegelt sich der jeweilige Zustand der lokalen Kirche und der globalen Kirche wider. Im Hinblick auf diese Funktion ist es nicht sinnvoll von einer „Höherentwicklung“ oder einem „geistlichen Wachstum“ der Kirche zu sprechen (vertikale Achse), sondern es macht vielmehr Sinn vom zunehmenden Erfahrungshorizont oder Kommunikationshorizont der Kirche zu sprechen (horizontale Achse). Dies gilt im Übrigen auch für das Individuum im Rahmen der Kirche, welches sich nicht erkenntnismäßig höher entwickelt, sondern in seiner geistlich-spirituellen Erfahrung zunimmt. Um dies zu konkretisieren, lohnt es sich in der Geschichte zu stöbern:

Die vor-kanonische Kirche war auf die mündliche Überlieferung und das Apostolat sowie seiner lehrhaften Sukzession (Weitergabe der Lehre) angewiesen. Die Erfahrungen mit Marcion, der Gnosis, des Arianismus und anderer Einflüsse floss in die weitere Entwicklung der Kirche ein und spiegelt sich in den Dogmen und dem Credo (Glaubensbekenntnis) dieser Zeit wider (3. – 4. Jh. n. Chr.).
Die ersten muttersprachlichen Bibelübersetzungen in semitische Sprachen und Dialekte, sowie ins Armenische, Gotische und Lateinische reflektieren den damaligen stark von Autoritäten abhängigen Stand der Kirche. So wird der Klerus in diesen Übersetzungen betont. Aus diesem Grund haben die orthodoxen Kirchen, die römisch-katholische Kirche und einzelne nahöstliche Kirchen auch eine starke Tendenz zur Liturgie und Hierarchie.
Mit der Reformation kommt das Laienpriestertum ins Bewusstsein der Kirche. Die Ausdrücke „Heil“, „Rettung“ und „Gnade“ bestimmen die Kirche für die nächsten Jahrhunderte. Interessanterweise kann sich die bis dahin dem Klerus unterordnende Kirche auf diesen kommunikativen Wandel einstellen, was ich mit dynamischer Kontextualisierung bezeichnen würde.
Diese Liste lässt sich ohne weiteres anhand der Kirchen- und Theologiegeschichte ausbauen und fortsetzen. Wichtig ist aber, dass die kommunikative Grundlage – der Filter, das ist die Heilige Schrift – während der ganzen Zeit obwohl die Form, Sprache und kulturelle Bezüge sich änderten niemals an Bedeutung oder Wert, das ist ihr inhärenter Überzeugungsaspekt, verlor. Dieses Phänomen wird durch den trinitarischen Dreiklang der Communicatio Dei, der Communicatio Christi und der Revelatione Spiritus begründet. Den Mitgliedern der Kirche wird dabei als Teil deren Auftrag als konservative Hüterin und gleichzeitige progressive Verbreiterin der Botschaft, ein großes Maß an Verantwortung übertragen, die kreativ und zum Nutzen des Reiches Gottes eingesetzt werden soll.

Zusammenfassung

Die komplexen kommunikativen Zusammenhänge zwischen dem Wesen Gottes als „Sendender“ und „Gesandter“ spiegeln die trinitaren Person-Eigenschaften der geoffenbarten Transzendenz wider. Die Heilige Schrift als das manifestierte Dokument über die göttliche Person und ihr Wirken in Kirchen- und Menschheitsgeschichte verengt und reduziert dabei die Kanäle der Kommunikation im Ereignis der Niederschrift und Festsetzung des Kanons. Diese Reduktion findet ihre Ursache in der Fleischwerdung (Inkarnation), Herablassung (Kondeszenz) und Entleerung (Kenosis) der Transzendenz in der Person des Jesus von Nazareth, welcher sich dem Willen Gottes hin gab. Beschreibungen über ihn und die Auswirkung seiner heilgeschichtlichen relevanten Aktionen – namentlich sein Tod, Auferstehung und Himmelfahrt – sind festgehalten im Schriftzeugnis. Mit der Konkretisierung kirchenrelevanter Schriften im biblischen Kanon überträgt sich die Verantwortung der Übersetzung, Verbreitung und Umsetzung der christlichen Botschaft völlig auf den Menschen. Die vorher mündlich tradierte und umfassendere Offenbarung reduziert sich auf das autoritative schriftliche Format. In dieser Funktion fungiert die Heilige Schrift als Nadelöhr und kommunikativer Filter:

  • vorhergehender Offenbarung (Kanon der Hebräischen Bibel),
  • nachfolgender Offenbarung (z. B. Visionen, Träume, Prophetie), sie
  • ist Informationsquelle zu theologisch und missiologisch relevante Fragen, und
  • kirchengeschichtlich relevanter Entwicklung (z. B. Dogma, Credo, Glaubensausrichtung).

Als Quelle heiliger und sakraler Inhalte, die über die menschliche Sphäre hinausgehen, deutet sie einen Sphärenübertritt an, der sich zum einen christozentrisch und zum anderen christofugal erweist. Erster zieht den Menschen zur Offenbarung hin, um ihn in die Nähe Gottes zu bringen und auch dort zu halten (z. B. Faszination der Kirche). Letzter treibt ihn von dieser Mitte weg, hinaus zu seinen Mitmenschen, um ihnen die Sphäre des Christus nahe zu bringen.

Der in dem dynamisch miteinander verwobenen Konzept der Missio Dei, Missio Christi und Missio Spiritus enthaltenen kommunikativen Realität entspricht der Dreiklang der Communicatio Dei, Communicatio Christi und die Revelatione Spiritus. Diesem trinitarischen Gleichklang entspricht die Communicatio Dei als ein theologischer und missiologischer Rahmen innerhalb dessen sich die Transzendenz dem Menschen offenbart. Die Communicatio Christi wird durch die Manifestation des Christus in der Fleischwerdung (Inkarnation), Herablassung (Kondeszenz) und in der Entleerung (Kenosis) geoffenbart. Dabei bedient sie sich der menschlichen Kommunikationswege. Um das Individuum, die Gruppe oder ganze Ethnien mit dem Reich Gottes Gedanken zu konfrontieren verengt und begrenzt sich die Revelatione Spiritus auf den Kanon der Heiligen Schrift als Prüfstein und Maßregel der Kirche.

Die Kirchengeschichte, die Geschichte der Bibelübersetzung und der Christlichen Entwicklungshilfe reflektieren die vertikale Erweiterung des Erfahrungsbereiches des globalen Corpus Christi. Diese Erweiterung basiert auf der Grundlage der Übertragung der Verantwortung bei der Festsetzung einer schriftlichen Offenbarung. Dem gläubigen Menschen ist die weltweite Verantwortung und Möglichkeit gegeben, Menschen aus allen Kulturen und Sprachen einen Zugang zum Wesen und zur trinitaren Personhaftigkeit des sich in der Heiligen Schrift selbstoffenbarenden Gottes יהוה, θεος, κυριος (yhwh, theos, kyrios) zu ermöglichen. Die Wissenschaft der Bibelübersetzung ist maßgeblich an diesem Dreiklang der Communicatio Dei, der Communicatio Christi und der Revelatione Spiritus beteiligt. Sie tut dies insbesondere, indem sie Methoden und Modelle der Kommunikation und Übersetzung in der Ausbildung zur Verfügung stellt. Diese ermöglichen es dem (Bibel-) Übersetzer sich aktiv für ein Modell oder einen Modellmix für sein Projekt zu entscheiden. In diesem Sinne wird dem Empfänger ein kontextualisiertes Informationsangebot geliefert, welches ihm einen kultur- und sprachbezogenen Zugang zur Heiligen Schrift ermöglicht.

Türkische Bibelübersetzungen

Eberhard Werner

 

Abstrakt

Dieser Überblick fasst die Geschichte der Bibelübersetzungen ins Türkische, eine altaische Sprache zusammen. Die einzigartige Geschichte der Übersetzungsversuche in diese Sprache reicht bis in das Osmanische Reich zurück und bewegt sich bis in die Türkische Republik, die im Jahre 2023 ihr 100-jähriges Bestehen feiert.

 

Türkisch ist eine altaisch-türkische Sprache, für die die frühesten beglaubigten Aufzeichnungen aus dem Jahre 552 n.Chr. stammen. Diese Funde beziehen sich auf die Kök Türkler („Himmels-Türken“) beziehen. Die türkischen Sprachen, früher als Türkisch-Tatarisch bekannt, sind mit insgesamt 150 Millionen Sprechern die jüngste Sprachfamilie im Nahen und Mittleren Osten. Die türkische Sprache wird von etwa 70 Millionen Menschen gesprochen. Die Sprache der Seldschuken, wurde mit arabischen Buchstaben geschrieben und hatte sich im 11. Jh. etabliert. Ausgebreitet wurde sie durch die militärischen Interventionen ihres Reiches. Nach der Ära der Seldschuken fegten während der „Mongoleninvasionen“ vom 12. bis 14. Jh. weitere Turkvölker über Anatolien hinweg (Busse 1988, 86-87). Während der Herrschaft der Osmanischen (1299-1923) durchdrangen persische, arabische, griechische und armenische Lehnwörter die türkische Sprache (Ostler 2006, 101). Nach der Gründung der Türkischen Republik im Jahre 1923 und aufgrund der nach Wesen gerichteten Politik von Mustafa Kemal Atatürk entwickelte ein Team von internationalen Linguisten ein lateinisches Alphabet mit 12 Sonderzeichen für Türkisch. Es wurde eine staatliches und einflussreiches Sprachinstitution namens Türk Dil Kurumu („Türkisches Sprachinstitut“) gegründet. Ziel dieser Institution ist es bis heute, das Türkische ständig zu erneuern und von allen Lehnwörtern und fremden grammatikalischen Bestandteilen zu reinigen (Myers-Scotton 2006, 214).

Die Übersetzung der Bibel ins Türkische begann im 16. Jh. mit den Psalmen von Le’ali (Ahmed ibn Musafa, gest. 1563), gefolgt im 17. Jh. von Yahya bin ‚Ishak, der auch Haki genannt wurde. Seine Übersetzung ins osmanische Türkische mit arabischen Schriftzeichen wurde 1661 fertiggestellt, aber nie veröffentlicht. Der Botschafter von Holland, Levin Warner, beauftragte Albertus (Wojciech) Bobowski, einen ehemaligen polnischen Sklaven der tatarischen Osmanen, der als Ali Bey bekannt war, mit einer weiteren Übersetzung der Bibel (1662-1666). Die Bibel wurde 1664 fertiggestellt, und das Manuskript im Jahre 1666 nach Holland gebracht. Die Übersetzungen von Haki und Ali Bey blieben unveröffentlicht in der Universitätsbibliothek Leiden bis ins Jahr 1814, als Baron von Dietz begann, das Manuskript von Ali Bey zu überarbeiten. Dieses Werk wurde von Prof. Jean Daniel Kieffer fertiggestellt und 1819 von der British and Foreign Bible Society (BFBS) in Paris veröffentlicht; 5.000 Exemplare von Ali Beys NT wurden gedruckt. Darauf folgte 1827 die gesamte Bibel. Zacharias, der Athonit, und Seraphim von Pisidien, ebenfalls im 18. Jh. tätig, übersetzten Katechismen, die Psalmen und andere religiöse Texte in den türkischen Dialekt der Karamanlidika und veröffentlichten sie in griechischen Schriftzeichen. Sie hatten zum Ziel, den türkischsprachigen Christen Kleinasiens die Lehre der orthodoxen Kirche und die religiösen Pflichten eines orthodoxen Christen zu vermitteln. Weitere Überarbeitungen von Ali Beys Übersetzung wurden 1853 von Turabi Efendi und 1857 von Sir James William Redhouse vorgenommen, der für sein türkisches und englisches Lexikon (1890) berühmt ist. Das NT von Redhouse (1857) wurde von der BFBS herausgegeben, aber laut Findley (1979, 583) kam es wegen seines idiomatischen Stils nicht weiter verbreitet in den Gebrauch.

Kurz danach, im Jahr 1866, übersetzte William G. Schauffler vom American Board of Commissioners for Foreign Missions (ABFCM) ein NT, das einige für ein Meisterwerk des eleganten osmanischen Türkisch halten, sowie Teile der Hebräischen Bibel (Richter 2006, 233). In den Jahren 1873-1878 wurde Ali Beys Werk von einem Ausschuss revidiert und erhielt die Zustimmung der Regierung. Es wurde Kitab-ı Mukaddes („Heiliges Buch“) genannt. Eine Wiedergabe und Harmonisierung dieses Standardtextes für die christlichen Kirchen des Osmanischen Reiches in griechischen, arabischen und armenischen Schriftzeichen wurde 1901 als drei unabhängige Übersetzungen fertiggestellt und wird als vereinheitlichter osmanisch-griechisch-armenisch-türkischer Text bezeichnet (Riggs 1940, 245).

Ab 1961 führten evangelikale Bewegungen zu neuen Bibelübersetzungen ins Türkische. Diese neuen Übersetzungen wurden hauptsächlich von einer Mischung aus konservativen und dynamischen äquivalenten Übersetzungsprinzipien geleitet. Sie benutzten z. B. Tanrı und nicht Allah als Gottesnamen, um sich von der Kitab-ı Mukaddes und der islamischen Tradition zu unterscheiden. Teile des NT, die dynamische Äquivalenz-Übersetzungsprinzipien verwenden, wurden 1978 unter dem Titel Wunder Jesu und Lehren Jesu veröffentlicht. Zu den modernen Übersetzungen des NT gehören Müjde (1987); İncil (1989/2008; Kutsal İncil (2003) und die leicht lesbare Version, Halk Dilinde İncil (2012). Zu den kürzlich veröffentlichten Bibeln gehören Kutsal Kitap Yeni Çeviri (Heiliges Buch – Neuübersetzung, Bible Society in der Türkei 2001; mit Deuterokanonischen Schriften 2003) und Ekümenik Kutsal Kitap (Ökumenisches Heiliges Buch, Haktan Yayıncılık 2007). Zusätzliche Lektüre: Gundert 1977; Privratsky 2012.

Bibliographie

Busse, Heribert 1988. Das arabisch-islamische Weltreich und seine Nachfolgestaaten, in Steinbach, Udo & Robert, Rüdiger (Hgg.): Der Nahe und Mittlere Osten: Politik, Gesellschaft, Wirtschaft, Geschichte, Kultur, 81-96. Opladen: Leske + Budrich.

Findley, Carter V. 1979. Sir James W. Redhouse (1811-1892): The Making of a Perfect Orientalist? Journal of the American Oriental Society, Vol. 99/4, 573-600. Winona Lake: American Oriental Society. Und Online im Internet: URL: http://www.jstor.org/stable/pdfplus/601447?tokenId=­9FZjy­TSxA3­eIChf6MVPy [PDF-Datei] [Stand 2008-11-04].

Gundert, Wilhelm 1977. Bibelübersetzungen V: Übersetzungen ins Türkische, in Krause, Gerhard & Müller, Gerhard (Hgg.): Theologische Realenzyklopädie (TRE), 299-310. Berlin: Walter de Gruyter. Und Online im Internet: URL: http://books.google.com/books?id=iEEsRpX_MaUC&pg=RA1-PA2­99­&lpg=RA1-PA299&dq=Turkish+Bibles+Ali+Bey&source=web&ots=7Zyl7hzg_3&sig­=I1aC­D­gG­3dDz­PYdIEX_uJhPH02wk&hl=de&sa=X&oi=book_result&resnum=2&ct=result [Stand 2020-11-04).

Myers-Scotton, Carol 2006. Multiple Voices: An Introduction to Bilingualism. Oxford: Blackwell.

Ostler, Nicholas [2005] 2006. Empires of the Word: A Language History of the World. New York: Harper.

Privratsky, Bruce G. 2012. A History of Turkish Bible Translations Annotated chronology with historical notes and suggestions for further research. Online. URL: http://historyofturkishbible.­files.word­press.­­com/2012/05/turkish-bible-history-_2012_05_n.pdf [PDF-File] [Stand 2020-11-10].

Richter, Julius [1930] 2006. Mission und Evangelisation im Orient. Reprint der 2. Aufl. Nürnberg: VTR.

Bibelübersetzung im Orient – Neue Überlegungen

Eberhard Werner

 

Inhalt

Bibelübersetzung im Orient – Neue Überlegungen. 1

Abstract 1

Vorüberlegungen. 1

Geschichtlicher Rückblick. 1

Türkisch – Beispiel einer sprachlich-religiösen Zielgruppe. 2

Die Osmanen, die Türkei und Europa – Fruchtbarer Halbmond. 2

Deutschland und die Türkische Republik. 3

Christliche Initiativen im 19. und 20. Jahrhundert 4

Bibelübersetzung und Christliche Entwicklungshilfe – Fruchtbare Ergänzung. 5

Türkische Bibelübersetzungen – Geschichtlicher Rück- und Ausblick. 5

Übersicht über (moderne) türkische Bibelübersetzungen. 6

Türkische Bibeln. 6

Kontextualisierung als missiologisches Konzept – ein Ausblick. 7

Kommunikationsprobleme von Bibelübersetzung im islamischen Raum.. 7

Kommunikative Aufbrüche in der Türkei 8

Lösungsvorschläge – Aufbau Islam-kontextualisierter Bibelübersetzungen. 8

Kritische Betrachtung, des am Islam-kontextualisierten Ansatzes. 9

Neue theologisch-missiologische Ansätze – Reflexionen in der Bibelübersetzung. 10

 

Abstract

Christliche Initiativen sind eng mit Bibelübersetzung verbunden. Sie gehen dieser voraus oder folgen ihr nach. Ziel der Bibelübersetzung sind Mutter- und zielsprachliche kontextualisierte Übersetzungen, die sich in der entstehenden Kirche indigenisieren. Diese Entwicklungen dürfen niemals ohne ihren (kirchen-) geschichtlichen Hintergrund betrachtet werden, da ansonsten Kontextualisierung als Methode und nicht als Entwicklung verstanden wird. Insbesondere sind eigentheologische Ansätze mit solchen Prozessen verbunden, welche die westliche Theologie herausfordern (hier z. B. der crescentiale Ansatz). Der historische Hintergrund eines Staates im Nahen Osten, zwischen Orient und Okzident, im Hinblick auf seine politischen, kulturellen und christlichen Entwicklungen im Rahmen der nationalsprachlichen Bibelübersetzung steht hier im Mittelpunkt.

Vorüberlegungen

Die weltweite Kirche und Gemeinde (Corpus Christi) ist beauftragt als Hüterin der Heiligen Schrift sowohl deren Inhalt konservierend zu bewahren, als auch deren Verbreitung dynamisch und progressiv in die Welt hinaus kultur- und sprachangepasst zu übertragen. Während die philologisch-exegetische Pflege des Grundtextes und seiner Übersetzungen dem ersten Auftrag entspricht, bilden sprachlich-zielgruppenorientierte Ansätze der Bibelübersetzung eine andere Form die dem zweiten Auftrag entspricht. Der Balanceakt besteht in der Frage ob man das Zielpublikum, das sind die Adressaten an den biblischen Grundtext heranführt, oder ob man den Grundtext in angepasster Form an die Empfänger annähert, damit er in ihnen „erlebte“ oder „gelungene Kommunikation“ verwirklicht. Niemand nimmt der weltweiten Kirche diese Verantwortung ab, sondern sie obliegt ihr und den ihr zugehörigen Individuen. Es zeigt sich in der Kirchengeschichte und der Geschichte der Bibelübersetzung, dass ein Miteinander philologisch-verbaler und kommunikativer Bibelübersetzungen das Ziel der Christlichen Entwicklungshilfe darstellt. Es wäre ein fataler Fehler sich nicht den gesamten Kontext der einer Sprach- oder Kulturgruppe zugänglichen biblischen Schriftoffenbarungen, sowie dessen kirchengeschichtlich-politischen Hintergrund anzusehen. Solches umso mehr bevor theologisch-missiologische Aufbrüche abgelehnt werden, welche geeignet sind die westliche Theologie herauszufordern. Im vorliegenden Fall wird die politische und geschichtliche Beziehung des Christentums und des Islam im Nahen Osten betrachtet.

Geschichtlicher Rückblick

In diesem Jahrhundert blickt Deutschland bzw. das vormalige Deutsche Kaiserreich zurück auf eine knapp 300-jährige Beziehung mit dem heutigen Kernland des damaligen Osmanischen Reiches. Es bildet den Überrest des über fünf Jahrhunderte herrschenden nahöstlichen und europäischen Imperiums (14. – 20. Jh.). Knapp 2,1 Mio. türkische Nachbarn in Deutschland (Schwerpunkt Berlin) und eine Bevölkerung von ca. 70 Mio. im Land selbst rechtfertigen einen Blick zurück auf die christlichen Entwicklungen in diesem Imperium, als Teil der Missiologie- und Kirchengeschichte Asiens, sowie der Geschichte der Bibelübersetzung. Aus einem europäischen Blickwinkel ist auch eine Bestandsaufnahme über translatorische Neuansätze der gegenwärtigen Situation in diesem Kernland christlicher Ursprünge von Interesse. Im Hinblick auf die geplante EU Erweiterung muss sich auch die europäische Kirche mit der Situation vermehrt befassen.1Wie so oft unterstützt die Wissenschaft der Bibelübersetzung die christlichen Aktivitäten, da sie den bleibenden Eindruck der schriftlichen Offenbarung zugänglich macht. Die Muttersprache repräsentiert dabei den Zugang ins Herz eines Volkes.

In diesem Land, Schnittpunkt zwischen Okzident und Orient, leben derzeit um die 43 Volksgruppen, wobei ca. acht von ihnen ausschließlich oder hauptsächlich im Land angesiedelt sind. Einige von ihnen haben noch keinen Zugang zum Wort Gottes. Darunter die Kurmanji sprechenden Kurden, die zwar ein Neues aber noch kein Altes Testament haben, das Volk der Zaza, die Tscherkessen, die Kirkasier und die Laazen. Ebenso gibt es einige derzeit noch nach ihrem sprachlichen Umfeld nicht recherchierte Völker, deren Sprecheranzahl, Zweisprachkeit, geographische Zerstreuung u.a. untersucht werden müssen (z.B. Tscherkessen, Kirkasier, Romanes, Gebärdensprachen, West-Armenier, türkische Yörük-Nomaden, etc.).

In diesem Artikel steht die Geschichte der deutsch-osmanisch/türkischen Beziehungen und der osmanisch/türkischen Bibelübersetzungen im Vordergrund, weshalb zuerst einmal die Sprache Türkisch vorgestellt werden soll. Diese Information scheint umso wichtiger, weil sie essentiell mit dem Zerfall der Ostkirche verknüpft ist und die derzeitige politische Situation veranschaulicht.

Türkisch – Beispiel einer sprachlich-religiösen Zielgruppe

Türkisch gehört zu den altaischen Turksprachen. Deren Ursprünge lassen sich auf die sogenannten „Kök Türkler“ (dt. Himmelstürken) bis ins Jahr 552 n. Chr. zurückverfolgen. Turksprachen umfassen heutzutage ca. 150 Mio. Sprecher, davon benutzen ca. 70 Mio. das Türkei-Türkisch. Sie bilden die jüngste Sprachfamilie im Nahen Osten.

Beginnend mit dem Imperium der Seldschuken des 11. Jahrhunderts wurde das Türkisch damals mit arabischen Buchstaben geschrieben. Dieses entwickelte sich zum schriftlichen Standard. In Folge der „Mongolenstürmen“ des 12. -15. Jahrhunderts drangen auch andere turksprachige Völker in den Raum des Nahen Ostens und Südosteuropas ein. Seit Beginn der türkischen Dynastie Osman, die sich zum Osmanischen Reich etablierte (1460-1923 n. Chr.) nahm das Türkische viele Lehnworte aus dem Arabischen, Persischen und Griechischen auf. Nach der Gründung der Türkischen Republik im Jahre 1923 folgte im Sinne der Politik des Staatsgründers Mustafa Kemal Atatürk – und bis heute einzigartig in der Geschichte eines Staates – eine resolute Sprachbereinigung. Internationale Linguisten erarbeiteten in Ablösung des arabischen ein lateinisches phonetisches Alphabet, inklusive einiger Sonderzeichen, das den Sprachregeln des Türkischen folgte (Laut 1996 und 2000).2Desweiteren wurde eine spezielle Sprachinstitution (Türk Dil Kurumu) gegründet, die bis heute das Türkische von allen Lehnwörtern oder ausländischen grammatischen Bestandteilen reinigen und durch turkisierende Lösungen erneuern soll. Neuerdings stehen aus religiösen Gründen „Arabismen“ wieder höher im Kurs, was eine Neuorientierung der Bibelübersetzung mit sich bringt (s. u.). Laut, Jens Peter 1996. Vielfalt türkischer Religionen. Spirita: Zeitschrift für Religions­wissen­schaft 10/1, 24-36. Marburg: Diagonal. Laut, Jens Peter 2000. Zur Sicht des Islam in der Türkischen Republik bis zum Tode Atatürks, in Wolfgang Schluchter (Hrsg.): Kolloquien des Max Weber Kollegs VI-XIV (1999/2000), 59-75. Erfurt: Max Weber-Kolleg.

Die Osmanen, die Türkei und Europa – Fruchtbarer Halbmond

Während des Mittelalters, vor allem bis zum 14. Jh. wurde der Nahe Osten als „Morgenland und Orient“ romantisiert und stellte die Basis zahlreicher Legenden dar. Als das Osmanische Reich ab dem 15. Jh. aufgrund seiner militärischen Überlegenheit stark expandierte, änderte sich dieses Bild. Zahlreiche Konflikte mit den spätmittelalterlichen europäischen Mächten führten zu einem negativen Bild.

Die offizielle Kirche hat aufgrund ihrer ablehnenden Haltung zum Islam im Mittelalter das Omanische Reich geächtet, da sich in dessen Herrschaftsbereich die Heiligen Stätten in Israel und ab 1453 das Zentrum der Ostkirche – Konstantinopel – befanden. Eine Annäherung des bis dahin unnahbaren osmanischen Sultanats an Europa beginnt mit dem 19. Jh. Das Osmanische Reich wurde im Zeitalter des Kolonialismus und ab dem 19. Jh. als Wirtschaftsraum für Europa geöffnet (1838).

Innenpolitische Querelen und kolonialistische Begierden Frankreichs, Italiens und Großbritanniens beschleunigten um die Jahrhundertwende des 19. zum 20. Jh. den Zerfall des Osmanischen Reiches. Besonders die christlichen Minderheiten im Kernland, insbesondere in Ostanatolien, bekamen nach einer ruhigen Zeit (Mitte bis achtziger Jahre des 19. Jh.) die Aggression gegen westliche Einmischung ab (ab 1895). Diese Konstellation führte zu einer panislamischen und pantürkischen politischen Ausrichtung. Im Konfliktbereich des Aufeinandertreffens von Islam und Christentum unterlag letzeres. Die zweitausendjährige christliche Präsenz in der Türkei reduzierte sich von ca. 2,1 Millionen vor den Pogromen (10% der Gesamtbevölkerung) auf wenige Überbleibsel (armenisch-gregorianische, griechisch-orthodoxe, syrische Kirche). Man geht von 1.2 – 1,6 Millionen vertriebenen oder getöteten traditionellen Christen aus. Heutzutage leben ca. 100.000 Christen in der Türkei (0,2 % der Gesamtbevölkerung). Alle islamischen Völker im Kernland des Osmanischen Reiches nahmen an diesen anti-christlichen Aktionen teil.

Aufgrund der antikommunistischen Truman Doktrin kam es 1952 zum Anschluss der Türkei in die NATO. Erste Beitrittsverhandlungen der damaligen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) als Vorgängerorganisation der EU öffneten Europa gegenüber dem Bosporus.3In den Jahren der Staatsgründung bis in die sechziger Jahre begegnete man dem neuen Staatsgebilde gegenüber skeptisch und abwartend.

In 1999 werden die EU-Beitrittsverhandlungen begonnen und nach einem mehrheitlich angenommenen Verfassungsreferendum der türkischen Bevölkerung im September 2010 steht einer langfristigen Aufnahme als Vollmitglied nur wenig im Wege (Zürcher 2004)4Zürcher, Erik Jan [1993] 2004. Turkey: A Modern History. Rev. ed. London: I. B. Taurus..

Deutschland und die Türkische Republik

Die Höhepunkte der deutsch-osmanisch/türkischen Beziehungen beschränken sich zunächst auf den militärischen Rahmen. Bereits um 1731 treten türkische Soldaten dem preußischen Heer unter Friedrich Wilhelm I. aufgrund einer herzoglichen Schenkung bei. Ihnen wird ein eigenes Quartier, eine Moschee und später ein Friedhof (Berlin) gewidmet. Die Truppe wächst auf teilweise bis zu 1.500 Soldaten an. Aus dieser Zeit stammt auch der Ausdruck „mach keinen Heck meck“, der sich von der Bitte türkischer Gefangener nach Brot (türk. ekmek) ableitet. Preußische militärische Ausbildung steht im Osmanischen Reich hoch im Kurs. Das preußische-militärische Ausbildungssystem wird vor allem durch Graf Helmuth von Moltke im 19. Jh. eingeführt und etabliert, wovon die zahlreichen Militärakademien zeugen, aus denen auch der Staatsgründer Mustafa Kemal (später Atatürk) hervorging.

Mit Beginn des ersten Weltkriegs bildet sich eine partnerschaftliche antirussische Front zwischen Sultan und Kaiser. Als beide Kriegspartner verlieren, verlaufen die Beziehungen im Sand und es entwickeln sich vorerst keine neuen Kontakte. Atatürk hält sich politisch eher zu Frankreich und Italien. Während des Zweiten Weltkriegs bauen deutsche Professoren, die vor dem Nationalsozialistischen Regime geflohen sind, die Universitätsstrukturen in der Türkei mit auf. Diese regen Kontakte enden langsam nachdem ausnahmslos alle Professoren in der Nachkriegszeit in den deutschen Universitätsapparat zurückkehren. Der europäische Wirtschaftsboom nach dem Zweiten Weltkrieg, ab dem Jahre 1960, bewirkt eine wirtschaftliche und politische Erneuerung der Beziehungen. Gastarbeiter aus dem Osten werden von Emissären der deutschen Wirtschaft angeworben. Seither bestimmen Immigration, Integration, Nachzug, Asyl und der geplante EU-Beitritt die Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei (Steinbach 1988 und 1996).5Steinbach, Udo 1988. Ideengeschichte im Zeichen von Kolonialismus, Unabhängigkeits­bewegung und Modernisierung, in Steinbach, Udo & Robert, Rüdiger (Hgg.): Der Nahe und Mittlere Osten: Politik, Gesellschaft, Wirtschaft, Geschichte, Kultur, 135-184. Opladen: Leske + Budrich. Steinbach, Udo 1996. Die Türkei im 20. Jahrhundert – schwieriger Partner Europas. Bergisch Gladbach: Lübbe.

Christliche Initiativen im 19. und 20. Jahrhundert

Dem Westen und weithin aus dem Gedächtnis geraten ist die Tatsache, dass das Osmanische Kernland im gesamten 19. Jahrhundert im Fokus westlicher meist amerikanischer und englischer Organisationen christlicher Entwicklungshilfe stand. Anfängliches Ziel war die Verbreitung der christlichen Botschaft in diesem geographischen Gebiet urchristlicher Erweckung (Apg. und viele der neutestamentlichen Briefe). Schnell war man sich der Benachteiligung und des jämmerlichen Zustandes der christlichen Volksgruppen (milets) im islamischen Kontext bewusst. So richtete sich das Augenmerk ausländischer evangelikaler, protestantischer und katholischer Unterstützung auf die armenische, die griechisch orthodoxe, die syrisch-orthodoxe (aramäische), die nestorianische und die russisch orthodoxe Kirche. Die aufgezählte Reihenfolge repräsentiert gleichzeitig deren zahlenmäßige Präsenz. Die armenische Kirche als größte und älteste Nationalkirche bekam dabei besondere Aufmerksamkeit, zumal sie am meisten unter den Verfolgungen litt. Die aramäische Kirche repräsentierte aufgrund der Tatsache dass Jesus von Nazareth auch einen aramäischen Dialekt sprach eine symbolträchtige Stellung.

Die Initiativen christlicher Entwicklungshilfe hatten als Vision, die dort etablierten und ansässigen kirchliche Kreise im Nahen Osten zu stärken, damit diese sich den sie umgebenden islamischen Völkern mit dem Evangelium nahen sollten. Diese Phase ging als das „Große Experiment“ (The Great Experiment) in die Geschichte der globalen Kirche ein und begann um 1810 und endete spätestens mit dem Ersten Weltkrieg. Neben Kinderhäusern, Witwenversorgung, Schul- und Bildungswesen, Krankenhäusern, Sanitäreinrichtungen und Irrigationssystemen wurde auch die agrarkulturelle Steigerung der Produktion implementiert. Bis heute zeugen die großen Universitäten in İstanbul (bis 1930 noch Konstantinopel) und anderen Städten von diesen Entschlossenheiten. Im Osten sind überall Ruinen und Überbleibsel der mehr als 100jährigen Aktivitäten während des „Großen Experiments“ zu sehen. Zeitweise gab es sogar eine offizielle und staatlich geschützte protestantische Kirche. Erst mit den Wirren der Vorkriegsjahre und Kriegsjahre des Ersten Weltkrieges brachen diese Initiativen zusammen. Bedingt durch die Vertreibung und Vernichtung christlicher Völker in den Pogromen (1896, 1905, 1914/1915) im Osten wurde unmittelbare und drastische Hilfe erforderlich. Dies reduzierte die Orientierung der christlichen Organisationen auf das Retten von wenigen Überlebenden. Spätestens mit der Gründung der Republik der Türkei nach den unruhigen Jahren des Umbruches (1906-1922), ausgelöst durch die Jungtürken und Jungosmanen war es den christlichen Organisationen nicht mehr möglich im Land zu arbeiten. Zwangsturkisierung und Zwangsislamisierung blieben die einzigen Chancen zum Bleiben und Überleben. Die ca. 100.000 Betroffenen, die dies taten sind völlig in den islamischen Völkern aufgegangen (Kieser 2000).6Kieser, Hans-Lukas 2000. Der verpasste Frieden: Mission, Ethnie und Staat in den Ostprovinzen der Türkei 1839-1938. Zürich: Chronos. (Türkische Version: Kieser, Hans-Lukas [2005] 2010. Iskalanmış barış: Doğu vilayetleri’nde misyonerlik, etnik kimlik ve devlet 1839-1938. 3 Baskı.İstanbul: İletisim.).

Die Deutsche Orient Mission (DOM) unter der Leitung von Johannes Lepsius (1858-1926) hatte als Ziel die Ausbreitung christlicher Inhalte unter Muslimen. Gegründet im Jahre 1896 kam es jedoch nie zu einer Umsetzung dieses Zieles, da die Pogrome und Verfolgungen gegen armenische Christen (1895-1896) all ihre Aufmerksamkeit auf sich zogen. Lepsius setzte sich von Beginn an für die Aufdeckung und eine Information des Westens über die Gräueltaten ein. Mit Pastor Ernst Lohmann gründete er den „Deutschen Hülfsbund für Armenien“ (heute: Christlicher Hilfsbund im Orient, Bad Homburg).

Die deutschen Initiativen christlicher Entwicklungshilfe entwickelten sich niemals in Richtung Gemeindegründung, weshalb die Übersetzung biblischer Inhalte nicht auf der Tagesordnung stand. Die grundsätzliche Haltung bestand darin die bestehenden Bibelübersetzungen in den jeweiligen Sprachen der Kirchen – Türkisch, Armenisch, Aramäisch, Griechisch – als kommunikative Hilfsmittel der christlichen Botschaft einzusetzen. Selbst Revisionen waren nicht geplant und wurden auch nicht aktiv von deutscher Seite unterstützt. Eine Haltung im Übrigen die sich bis in die achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts durchzog (Ye’or 2009)7Ye’or, Bat [1996] 2009. The Decline of Eastern Christianity under Islam: From Jihad to Dhimmitude. Seventh-Twentieth Century. Seventh printing. Madison: Fairleigh Dickinson University Press. (Transl. by Kochan, Miriam and Littman, David)..

Bibelübersetzung und Christliche Entwicklungshilfe – Fruchtbare Ergänzung

Die Bibelübersetzung im nahöstlichen Raum hat ihren Ursprung in zwei Bewegungen. Zum Einen haben sich muttersprachliche Kirchen aus den Volksgruppen des Nahen und Mittleren Ostens heraus gebildet, die schon recht schnell eigene Bibeln oder Bibelteile in ihre Sprache übersetzt haben (z. B. syrische Peschitta, armenische, gotische Bibel, etc.). Zum Anderen haben sich arabische Christen auch ab dem 6. Jh. n. Chr. mit eigenen Bibelübersetzungen und theologischen Werken zum islamischen Raum abgegrenzt. Diese Bibelübersetzungen haben im Omanischen Reich Pate gestanden für die Osmanisch-Türkischen Übersetzungen (Lauche 2007 und Griffith 2010)8Lauche, Gerald 2007. Die Geschichte der arabischen Bibelübersetzung, in Müller, Klaus W. (Hg.): Mission im Islam, 129-139. Nürnberg: VTR. Griffith, Sidney H. 2010. The Church in the Shadow of the Mosque: Christians and Muslims in the World of Islam. Oxford: Princeton University Press..

Ein wesentlicher und strategischer Ansatz christlicher Entwicklungshilfe bestand in der Übersetzung der Bibel in die osmanisch-türkischen Dialekte und die Sprachen der christlichen Minderheiten. Bereits um 1570 n Chr. ist eine Bibelübersetzung ins Türkische durch Primus Truber erwähnt, die jedoch entweder niemals veröffentlicht wurde oder aber in einen kroatischen Dialekt und nicht ins Türkische erfolgte (Privratsky 2010:1). Einige Entwicklungshelfer gingen auch so weit, die nicht christlichen Volksgruppen wie die Zaza, die Kurmanji-Kurden, die Laazen (Laasen), und auch turkstämmige Völker mit übersetztem Material zu versorgen. Es kam jedoch nicht zu übersetzten Vollbibeln. Bekehrungen und Übertritte, allerdings in alle Richtungen, waren von 1850 – 1890 keine Seltenheit. Auch ganze Volksgruppen oder Stämme konnten diesen Schritt tun (z. B. wenige alevitische Zazastämme im Dersim). Umso schwerwiegenden war die aktive und meist auch passive Re-Islamisierung während und nach dem Ersten Weltkrieg, die sich meist aus überlebensstrategischen Gründen ergab. Die nur schwach beginnende volksgruppenorientierte Gründungsbewegung von Kleingruppen, Gemeinden und Kongregationen, die ansonsten zu indigenen Übersetzungsansätzen christlicher Literatur führt, wurde im Keim erstickt. Praktisch haben wir heute keine Überbleibsel dieser Zeit, außer Ruinen und mündlichen Traditionen die von grundsätzlich positiver Resonanz sind und auch in dieser Art und Weise über die christlichen Initiativen zeugen.

Türkische Bibelübersetzungen – Geschichtlicher Rück- und Ausblick

Bibelübersetzung ins Türkische begann im 17. Jahrhundert mit Yahya bin Ishak, auch Haki genannt (1659). Seine Übersetzung ins Osmanisch-Türkisch mit arabischen Buchstaben wurde nie öffentlich herausgegeben. Sie diente jedoch als Grundlage für die Intervention des holländischen Botschafters Levin Warner bei Sultan Mehmet IV. Er forderte den Sultan auf einen polnischen Überläufer namens Wojciech Bobowski oder Albert Bobowsky auch Ali Bey genannt, als Hauptübersetzer mit der Übersetzung der Bibel zu betrauen (1662-1666). Haki‘s und Ali Bey‘s Übersetzungen blieben unveröffentlicht und wurden an der Bibliothek von Leiden in den Niederlanden aufbewahrt. Im Jahr 1814 begann Baron von Dietz das letztgenannte Manuskript zu überarbeiten. Im Jahre 1819 beendete Kieffer Ali Bey‘s Neues Testament, es wurde 5.000-mal kopiert und von der kompletten Bibel im Jahre 1827 abgelöst. Trotz der benutzten arabischen Orthographie wurde der Text Vorbild für Revisionen der christlichen Kirchen im Osmanischen Kernland.

Weitere Revisionen erschienen 1853 von Turabi Effendi und im Jahr 1857 von Redhouse. Letzterer wurde berühmt durch sein bis heute benutztes Türkisch-Englisch und Englisch-Türkisch Wörterbuch (1890). Das Neue Testament von Redhouse fand keine größere Verbreitung wegen seines freien (idiomatisch-dynamischen) Ansatzes der Übersetzung. Zehn Jahre später übersetzte und produzierte Schauffler von 1867 bis 1873 als Mitglied des American Board of Christian and Foreign Missions (ABCFM) ein Neues und Teile des Alten Testaments (zu Revision vs. Neuübersetzung s. Haacker 2006)9Haacker, Klaus 2006. Bibeltreue und Bibelübersetzung, in Neef, Heinz-Dieter (Hg.): Theologie und Gemeinde. Beiträge zu Bibel, Gottesdienst, Predigt, und Seelsorge, 36-47. Stuttgart: Calwer..

Von 1873-1878 wurde die Arbeit von Ali Bey durch ein Komitee überarbeitet und es wurde zum Standardlehrbuch christlicher Kirchenliturgie aufgrund seiner staatlichen Freigabe (genannt Kitabi Mukaddes). Übersetzungen, Adaptionen und Harmonisierungen in modernes Griechisch, Arabisch-Türkisch und Armenisch-Türkisch wurden 1901 fertig.

Die Wurzeln der Türkischen Bibelgesellschaft (TBS) reichen bis ins Gründungsjahr 1820. Ihre Ursprünge weisen auf die Anfangsjahre der British and Foreign Bible Society [Britische und Ausländische Bibelgesellschaft] (BFBS; 1806). Der Sitz der TBS ist seit 1966 in İstanbul von wo aus die Übersetzungsarbeit und Verteilung von Bibeln organisiert wird.

Seit 1961 haben türkische evangelisch-evangelikale Bewegungen begonnen neue Bibelübersetzungen und verschiedene exegetische Werkzeuge auf Türkisch zu übersetzen. Diese neuen Übersetzungen, obwohl mehrheitlich von konservativen Übersetzungsprinzipien geleitet, benutzen z. B. als Gottesbezeichnung das alte Turkwort für Himmelsgottheit „Tanri“ und nicht das arabische Lehnwort „Allah“. Dies tun sie im Kontrast zum liturgischen Kirchentext der Kitabi Mukaddes und der islamischen Tradition. Den neuen Übersetzungsprinzipien (Koller 1978 und 2001)10Koller, Werner 1978. Kritik der Theorie der Übersetzungskritik. IRAL, Vol. XVI/2, 89-108. Heidelberg: Julius Groos. Koller, Werner [1983] 2001. Einführung in die Übersetzungswissenschaft. 6. durchgesehene und aktualisierte Auflage. Wiebeisheim: Quelle und Meyer. der dynamischen Äquivalenz folgend, wie z. B. die deutsche Gute Nachricht Bibel, wurden Teile des Neuen Testaments in 1978 unter dem Titel Wunder und Lehren von Jesus herausgegeben.

Übersicht über (moderne) türkische Bibelübersetzungen

NT: 1988 ( Müjde); 1989/2008 ( Incil); 2003 ( Kutsal Incil).

Bibel: 1941 ( Kitabi Mukaddes); 2001 ( Kutsal Kitab Yeni Çeviri); 2007 ( Ekümenik Kutsal Kitap).

In Arbeit: Revision von Ali Bey‘s Neuem Testament und desweiteren eine kontextualisierte Version für Leser mit islamischen Hintergrund, İncili-i Şerif’in Yüce Anlamı 2011 (Matthäus begonnen im Jahr 2008).

Eine nahezu abschließende Liste findet sich unter http://www.translation-trust.org/­html/­history.html [Stand 2012-01-10].11o. V. History of Bible Translation in Turkey. Online: URL: http://www.translation-trust.org/html/history.html. [Stand 2012-01-10].

 

Türkische Bibeln

Ekümenik Kutsal Kitap 2007. Online: http://www.hakikat.net/index.php. [Stand 2012-01-05].

İncili-i Şerif’in Yüce Anlamı 2011. Havari Matta’nın Kaleminden. Orijinal Metin ve Kelime Kelime Türkçe Çevirisi ile birlikte. İstanbul: Sabeel Media. [Dt.: Das Neue Testament in alter Bedeutung. Die Worte des Matthäus.].

Kitabı Mukaddes [1941] 1995. İstanbul: Kitabı Mukaddes Şirketi.

Kutsal Kitap 2001. İstanbul: The Bible Society in Turkey.

Kutsal Kitap Yeni Çeviri / En Büyük Boy Ciltli 2002. İstanbul: Kitapyurdu. [Dt.: Neue Übersetzung des Heiligen Buches / Großformat 2002.].

Müjde 1988. İncil „Müjde“ İncil`in Çağdaş Türkçe Çevirisi. İstanbul: Kitabı Mukaddes Şirketi Yayınları. [Dt.: Müjde. Neue Moderne Übersetzung des Neuen Testaments.]12Privratsky, Bruce 2010. A History of Turkish Bible Translations. Online im Internet: URL: http://www.­scribd.­com/doc/51331567/A-History-of-Turkish-BIble-Translations-Priv-ratsky-March-2011-v-F. [PDF-Datei] [Stand 2012-01-10]..

Kontextualisierung als missiologisches Konzept – ein Ausblick

Die oben genannten Bibelübersetzungen reflektieren den kommunikativen und übersetzungstechnischen Stand der Gegenwart. Neben dem dynamisch-äquivalenten Übersetzungsprinzip, haben sich kulturelle, massenkommunikative, Rahmenmodell- und Skopos-orientierte (Vermeer 1989)13Vermeer, Hans J. 1989. Skopos and Commission in Translational Action, in Chesterman, Andrew (ed.): Readings in Translation Theory, 173-187. Helsinki: Finn Lectura., funktionale (Nord 2001)14Nord, Christiane [1997] 2001. Translating as a Purposeful Activity: Functionalist Approaches Ex­plain­ed. Reprint. Manchester: St. Jerome. und relevanztheoretische Methoden (Gutt 2000)15Gutt, Ernst-August [1991] 2000. Translation and Relevance: Cognition and Context. 2nd ed. Manchester: St. Jerome. bei der Übersetzung im allgemeinen und in der Bibelübersetzung im Spezifischen heraus kristallisiert. Diese Bibelübersetzungen dienen der Verkündigung und dem christlichen Leben der bestehenden kirchlichen und gemeindlichen Strukturen als Lebensadern und geistlicher Mittelpunkt. Es ist enorm welche translatorische Bibel-Vielfalt, die doch recht kleine christliche türkische Kirche und Gemeinde ins Leben rief. Nichtsdestotrotz wurde der kommunikative Durchbruch in die islamische Bevölkerung der Türkei hinein bis jetzt nicht erreicht.

Kommunikationsprobleme von Bibelübersetzung im islamischen Raum

Eine generelle Debatte von westlichen und ehemals islamischen Jesus-Gläubigen hat ihren Ursprung in der Wahrnehmung, dass in islamischen Ländern die gängigen Bibelübersetzungen (z. B. die unten genannten türkischen Übersetzungen) nur ungern von islamischen Gelehrten und Gläubigen benutzt oder zitiert werden. Desweiteren stellt man fest, dass nur christliche Kreise und nur wenige Teile der islamischen Bevölkerung diese als Heilige Texte bezeichnen und wahrnehmen. Bei der Untersuchung dieses Phänomen erwiesen sich drei Punkte als kommunikative Hindernisse:

Identifikationsproblem; der Sprachgebrauch in diesen Übersetzungen wird als christliche Umgangssprache identifiziert, deren Begrifflichkeiten sich nicht mit islamischen Konzepten deckt.
Autorisierungsproblem; die Zulassung der Bibeltexte wurde zwar von staatlicher, nicht aber von islamisch-theologischer Seite autorisiert.
Falsifikationsproblem; der Vorwurf des Falsifizierens der hebräischen und griechischen Grundtexte überträgt sich auf die türkische Bibelübersetzung.
Hinzu kommt die enge Verbindung der offiziellen Türkischen Bibelgesellschaft und anderer nahöstlichen Bibelorganisationen mit christlich-westlichen (United Bible Societies) und christlich-östlichen Organisationen (syrisch-orthodoxe und Armenisch Apostolische Kirche). Die Nichtanerkennung der türkischen Bibelübersetzungen als Heilige Texte ist aus zwei Gründen erstaunlich:

Der Westen geht mit der islamischen Offenbarung anders um und betrachtet selbst nicht-autorisierte Übersetzungen des Qur’an als Heilige Texte (z. B. deutsche Ahmadiyya Qur’an Übersetzung).
Arabische Bibelübersetzungen des 4. – 8. Jh. n. Chr. / 1. Jh. BH – 2. Jh. AH wurden von islamischen Gelehrten als Heilige Texte betrachtet und spielten im Osmanischen Reich eine Bedeutung, jedoch seit dem 15. Jh. ist dies nicht mehr so, obwohl die arabische Bibelübersetzungstradition unverändert weiter ging (Lauche und Griffith 2010).
Kommunikative Aufbrüche in der Türkei

Die neueren Ansätze einiger türkischer Bibelübersetzungen mit dem Ziel die oben genannten kommunikativen Hindernisse zu lösen, sind Zeichen eines dynamischen christlichen Aufbruchs in der Türkei. Dabei werden sowohl neue Übersetzungsmethoden angewandt, die in der Wissenschaft zur Übersetzung entwickelt wurden, als auch verschiedene Überbrückungsprinzipien, die den religiösen Graben überbrücken sollen, den die kommunikativen Probleme mit sich bringen. Die unterschiedlichen Übersetzungen sollen alle Schichten und Kreise der türkischen Gesellschaft ansprechen. In erster Linie soll das Identifikationsproblem gelöst werden. Die türkische Bevölkerung soll sich insgesamt kommunikativ im Bibeltext wiederfinden. In Testversuchen mit Einzeltexten (2008-2010) zeigte sich, dass sich meist aus islamischem Hintergrund stammende christliche als auch islamische Kreise in der kommunikativen Absicht solcher Texte angesprochen fühlten. Sie bewirken des Weiteren, dass sich auch sprachlich-kulturelle nicht-türkische (Volksgruppen) und Mikrokulturen (Zielgruppen) vermehrt um eigensprachliche Bibelübersetzungen bemühen.

Nicht verschwiegen werden darf, dass es auch vehementen Widerstand aus christlichen Kreisen gegen diese Art Bibelübersetzungen gibt. Dieser konsolidiert sich aus der jungen evangelikalen Bewegung, wie auch aus einigen etablierten Kirchen. Die dabei eingebrachten Hauptargumente beziehen sich auf den Vorwurf: 1. der billigen Anbiederung an den Islam, 2. Verwässerung / Verfälschung der biblischen Inhalte, 3. bewusste oder unbewusste Spaltungsversuche. Obwohl diese Argumente sehr ernst zu nehmen sind muss sich erweisen ob die globale Kirche hier nicht ihre Funktion als Hüterin der Schrift überzieht oder ob sich nach einer Gewöhnungszeit nicht doch eine eigene Theologie anbahnt. Beide Momente sind in der Kirchen- und Bibelübersetzungsgeschichte belegt (Marcionverwerfung vs. Lutherakzeptanz).

Lösungsvorschläge – Aufbau Islam-kontextualisierter Bibelübersetzungen

Sogenannte Jesus- oder Eingeweihtenbewegungen (Jesus- oder Insider Movements) im islamischen Raum beginnen damit Bibeltexte zu übersetzen. Ihr Ziel ist es die für Muslime provokanten und westlich-dogmatisch vorbelasteten theologischen Begrifflichkeiten neu zu definieren und zu benennen. Wichtig dabei ist, dass es sich um bestehende Bewegungen handelt, die aus sich heraus das Interesse zeigen die bestehenden kommunikativen Lücken zwischen sich und ihrer andersdenkenden Umwelt zu überbrücken. Dabei spielen vor allem Gläubige eine Rolle die ihren islamischen Hintergrund als ihr kulturell-sprachliches Fundament sehen und sich deshalb nicht von ihren Traditionen, ihrem Kulturgut und ihrem Sprachgebrauch trennen wollen, da es ihnen Identität gibt. Sie erschrecken vor dem kultur-imperialistischen Anspruch des westlichen Christentums welches sich als alleiniger Wächter der göttlichen Wahrheit betrachtet. Das Schicksal vieler Jesus-Gläubiger mit islamischen Hintergrund aus ihrer Kultur- und Sprachgruppe ausgestoßen zu werden und im Westen untertauchen zu müssen wollen sie nicht als einzige Möglichkeit eines Vertrauens auf Jesus akzeptieren.

Für die oben genannte Problematiken gibt es verschiedene Lösungsansätze. Es sind vor allem a.) islamisch-theologische, b.) formal-übersetzungsrelevante und /oder c.) sozial-kulturelle Anpassungs- oder Annäherungsaxiome die angegangen werden. Zur erstgenannten Kategorie islamisch-theologischer Anpassung (a.) gehören, Themen wie

die Trinität, die in diesen Bewegungen aus dem Gesichtswinkel des islamischen „Allah“—Begriffes und damit aus einer Ein-Person-Lehre heraus betrachtet wird, dabei wird die drei-Einsheit von der Einsheit Gottes aus gedacht,
die Sohnschaft von Jesus, welche ein Relationsbegriff darstellt und ein sehr enges – vom Bild der Kernfamilie abgeleitetes Bild darstellt. Dieses kann aber auch vom Begriff der Bruderschaft (umma) oder dem Rechtswesen Richter-Verteidiger in bestimmten kulturellen Kontexten überwogen werden, oder auch
die einseitige Auslegung der paulinischen Lehre als anti-islamische Propaganda, wenn z. B. die Ablehnung des jüdischen Glaubens durch Paulus einfach auf den Islam, als ebenbürtige Irrlehre, begründet wird (z. B. Apg. 15:1-6; Gal 2:14).
Völlig zurecht wird darauf hin gewiesen, das gerade das Konzil der Apostel und die paulinischen Briefe eine Annäherung an das Sprach- und Kulturgut der Völker, die mit der Botschaft vom Heil erreicht werden sollen, aufzeigt (Röm 2:28-29; 1Kor 9:20; Gal 3:28; Kol 3:11). Diese Themen werden aus formal-übersetzungsrelevanten Gründen (b.) unter neuen und eigenen kultur- und sprachbezogenen theologischen Gesichtspunkten übersetzt. Dabei wird die Form Heiliger Schriften im islamischen Kontext und unter dem Gesichtspunkt anderer kulturhistorischer Faktoren (z. B. Qur’an, Offenbarungstexte, religiöse Texte etc.) sehr ernst genommen und gewahrt. So wird teilweise der Text des hebräischen, aramäischen und griechischen Grundtextes der Bibel entweder 1. im Original oder 2. in Fußnoten als Übersetzung mit geliefert. Im Haupttext jedoch werden Begriffe für Jesus verwendet die ihn als „Advokaten“ oder „Stellvertreter Gottes“ bezeichnen. Die Gleichnisse werden hiervon nicht berührt, da sie sowieso auf einer abstrakten Ebene die Beziehungsrelationen zwischen den göttlichen Personen oder Namen darstellt. Dieses Vorgehen ermöglicht es dem durch sein islamisches Umfeld vorbelasteten Leser sich gedanklich neu mit dem „eigentlichen“ Text zu beschäftigen. Die Form der schriftlichen Offenbarung stellt eine Annäherung an die islamischen Texte dar, wobei auch auf inhaltliche Bezüge im Referenz- und Fußnotenbereich eingegangen wird. Die im Qur’an belegten Hinweise auf die Hebräische Bibel und das Neue Testament (z. B. Mose Sure 2:87, 92, 136; Jona Sure 10:98; Sure 37:139-148; Jesus Sure 2:87, 253 u.v.a.) werden aufgegriffen und als Belegstellen in den Referenzapparat aufgenommen. Den dritten und sozial-kulturellen Aspekt (c.) solcher Kontextualisierung bestimmt die Wahrnehmung der islamischen Welt als umma. Die Zugehörigkeit im Islam definiert sich über die Einhaltung der fünf Pflichten und einem „gottgefälligen“ Leben. Um nun bei einer Konversion im weiterhin zum Korpus gehören zu können, werden die traditionellen Anforderungen dieses religiösen Lebens auf die Inhalte des Neuen Denkens übertragen. Die Moschee bleibt weiterhin das Zentrum des geistlichen Austausches (auch im Bibeltext), der Mullah oder Hodscha bleibt religiöse Autorität, und die Qur’anschulen bilden das Fundament theologischer Gedanken. Wie in Indonesien sichtbar findet so die Auseinandersetzung über die Neuinterpretation der judeo-christlichen und der islamischen Offenbarung an den Ausbildungszentren und zwischen den Gelehrten statt.

Kritische Betrachtung, des am Islam-kontextualisierten Ansatzes

Die Vor- und Nachteile eines solchen Vorgehens werden zurzeit heftig diskutiert. Den aus christlichen Kreisen stammenden Vorwürfen der Schriftverfälschung, Anbiederung oder Verführung (s.o.) stehen die Argumente der kommunikativen Öffnung des Bibeltextes, dem Bedürfnis der Zielgruppe nach einem unbefangenen und kommunizierenden Text im Hinblick auf die Übernahme prowestlicher, kolonialistischer Dogmatik im Bibeltext entgegen. Die Sorge der Kritiker bezieht sich darauf, dass der biblische Grundtext nicht mehr erkennbar sei. Durch die Überlagerung neuer theologischer Konzepte, der Eingliederung nachbiblischer qur’anischer Referenzen und Inhalte und der Betonung sozialer islamischer Vorstellungen wird der geschichtlich-grammatische Offenbarungsgehalt der judeo-urchristlichen im besten Fall entstellt und im Schlimmsten ins Gegenteil verdreht. Letzteres bewirkt, dass der Verfälschungsvorwurf gerade durch diese Anpassung verschärft wird und jegliches Vertrauen in die Offenbarung verloren geht. Mit anderen Worten, das wogegen diese Bewegung angetreten ist, nämlich Vertrauen in die jüdisch-christliche Offenbarung zurück zu gewinnen, wird zum Bumerang und kehrt mit verheerendem Effekt zurück.

Die Kritikpunkte konnten anhand einiger Beispiele entschärft werden, wie sie z. B. in EMQ 47/1 (2011: de Jong; Daniels, Gene & Allen, Don und andere)16Daniels, Gene & Allen, Don 2011. Fruitful Practices: Studying How God Is Working in the Muslim World. EMQ 47/4, 412-418. Auch Online: URL: http://www.emisdirect.com/­emq/issue-317/2602 [Stand 2012-01-08]. auftauchen und die zeigen, dass diese Bibelübersetzungen durch Nicht-Christen tatsächlich als Offenbarungstexte verstanden werden. Nichtsdestotrotz bleibt die Angst vor einem synkretistischen Ansatz bestehen. Die globale Kirche sah sich in der Vergangenheit solchen Entwicklungen mehrfach ausgesetzt (z. B. Marcion etc.) und fand durchaus Wege um mit diesen umzugehen. Da die weltweite „Bewegung der Bibelübersetzung“ eine progressiv-dynamische Annäherung an die Kulturen und Sprachen der Ethnien darstellt, formt sich in diesem neuen Ansatz eine weitere kommunikative Komponente kulturrelevanter Rahmenmodelle heraus.

Neue theologisch-missiologische Ansätze – Reflexionen in der Bibelübersetzung

Eine nahöstliche Theologie und Missiologie bricht sich hier Bahn, die sich zum einen vom Kolonialismus abwendet und streng postkolonialistisch argumentiert. Sie fußt auf den Erfahrungen einer jahrhundertealten kirchlichen Tradition der Ostkirche und der jungen protestantischen Kirche und Gemeinde mit muslimischem Hintergrund. Dieser interessante Mix setzt neue Schwerpunkte und steht teilweise im Kontrast zu westlichen Lehren, die in der aktiven theologischen Auseinandersetzung nicht akzeptiert werden können. Dabei tritt immer wieder das Argument klerikaler Überfrachtung – trotz reformatorischer Neuausrichtung – in den Vordergrund. In diesem Kontext wird ebenso die westliche teutonische Missiologie und Theologie in ihrer Einseitigkeit auf dogmatisch-systematische Lehre hin kritisiert. Der Persönlichkeitsbezug und die praktische Anwendung der Botschaft des Jesus von Nazareth stehen bei dem Neuansatz im Mittelpunkt.

In Anlehnung an die verschiedenen Wissenschaftsstile und in Abgrenzung zur teutonisch-gallischen (westlich), nipponischen (asiatisch), afrikanisch-schwarzen oder indianisch-befreiungsliberalen (südamerikanisch) könnte man diesen missiologischen Ansatz als crescentiale Missiologie und Theologie bezeichnen. Der Begriff crescential bezieht sich dabei auf den Fruchtbaren Halbmond (Fertile Crescent) und die sich in seinem Raum und Einfluss entwickelten Kulturen und Religionen, sowie deren spezifischen Eigenheiten.

Die Unterschiede der Ansätze lassen sich in Generelle und Spezifische einteilen. Im Gegensatz zu den beiden erstgenannten Theologien und missiologischen Ansätzen (teutonisch-gallisch) haben die letztgenannten keine historische Belastung oder aktiven Bezug,

zu den beiden Weltkriegen undihre Auswirkungen auf die Folgen des Holocaust (z. B. Bundestheologie, Heilsgeschichte, Theologie Israels),
die Bündnisstrategie der Alliierten (atlantische Bünde, z. B. EU, NATO etc.), oder
den asiatisch-pazifischen Entwicklungen (z. B. Atombombenabwürfe, Americo-japanischer Bund, Korea- und Vietnamkonflikt, etc.),
den Entwicklungen der ökumenisch-globalen Aktivitäten in der Kirchengeschichte vor 1960 (z. B. Konferenzen zur christlichen Entwicklungshilfe, Lausanner Konferenzen), oder
den ökonomischen Bestrebungen des Kapitalismus, Sozialismus oder Kommunismus vor Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts, die sich auf die westliche Industrialisierung bezogen.
Die christliche Theologie im Nahen Osten und der Maghreb Staaten hatte bis zur Loslösung vom Kolonialismus, Ende der fünfziger Jahre des letzten Jahrhunderts, kaum eigenes Entwicklungspotential. Das wachsende Selbstbewusstsein der evangelisch-evangelikalen Bewegung in Südamerika, Asien und Afrika wirkt sich auch auf den Nahen und Mittleren Osten aus. Obwohl politisch eher eine mit Nationalismus vermischte Islamisierung zu beobachten ist, brechen sich im Untergrund neue Formen des christlichen Lebens Bahn. Die in erster Linie postkoloniale Ausrichtung dieser Theologie steht sehr im Kontrast zur westlichen. Die traditionellen Kirchen der Region, die Armenisch Apostolische, die Syrisch Orthodoxen, die Assyrischen Kirchen, die Östlichen Katholischen Kirchen, einige kleinere sowie die koptische Kirche sind gegenwärtig in ihren Formen erstarrt, jedoch erleben sie auch unter der jungen Generation breite Anerkennung (s. Zustandsbericht der nationalen Bibelgesellschaften).

 

Wie gezeigt wurde muss der historische Kontext mit beachtet werden, wenn neue Entwicklungen in der Christlichen Entwicklungshilfe begutachtet werden. Das Vorhandensein und die Auswertung bestehender Bibelübersetzungen geben Hinweise darauf, ob neue Ansätze nötig und möglich sind. Erst wenn solche Erfahrungen vorliegen, wird das Bedürfnis nach Auswegen deutlich. Es wäre auch zu prüfen ob die deutschen Bibelübersetzungen hier nicht dem gleichen Dilemma unterliegen, da sie die 1,8 Mio. türkischen Mitbürger kaum ansprechen. Man darf gespannt sein welche neuen Aspekte die theologische Entwicklung im Spannungsfeld Kolonialismus-Postkolonialismus, Ost-West, traditionelle Kirche-evangelikale Gemeinde, heilsgeschichtlich-orthodoxe und inklusiv-exklusive Ausprägung zur weltweiten Kirche beiträgt.

 

 

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