Rezension: Krauß, Anne 2014. Barrierefreie Theologie: Das Werk Ulrich Bachs vorgestellt und weitergedacht

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Anne Krauß ist evangelisch-lutherische Pfarrerin und Krankenhausseelsorgerin in Bayern. Sie spricht aus eigener Lebenserfahrung bedingt durch eine Beeinträchtigung des Hörsinnes, wenn sie das Wirken von Ulrich Bach (1931–2009) reflektiert, einem durch Polio auf Assistenz angewiesenen evangelischen Theologen. Bachs Theologie nach Hadamar (Neukirchen, 2006), in Anlehnung an eine Theologie nach Ausschwitz (dem jüdischen Holocaust), bildet den Grundstein seines hermeneutischen, befreiungsideologischen Ansatzes. Die Studie von Krauß erscheint in der Reihe Behinderung-Theologie-Kirche, die von Johannes Eurich (Diakoniewissenschaftliches Institut Heidelberg) und Andreas Lob-Hüdepohl (Katholische Hochschule für Sozialwesen Berlin) herausgegeben wird.

Im Eingangskapitel umschreibt Krauß das Themengebiet Disability Studies, wie es sich vor allem im deutschsprachigen Raum entwickelte und gegenwärtig darstellt. Die Themenkomplexe Krankheit, Gesundheit, Schmerz, Leid und die Frage der sozialen Identität innerhalb dieser Grundzustände menschlichen Daseins umreißen die Bandbreite der Überlegungen. Von der Theodizee-Frage weg, blickt sie auf die rechtlichen Rahmenbedingungen, die eine inklusive Theologie bewegen. Dabei bilden die Definitionen der Weltgesundheitsorganisation (disability, illness, disease) und die UN-Konvention über die Rechte von Behinderten (2006, ratifiziert von Deutschland in 2009) die Grundlage ihres Verständnisses. Bach selbst hat dazu unermüdlich seit 1973 bis zuletzt in 2006 (s. o.) publiziert. Anfänglich lag sein Schwerpunkt auf dem diakonischen Teil der Disability Studies, bedingt durch seine Arbeit in der Evangelischen Stiftung und der Diakonieanstalt Martineum. Später mischt er sich in die kontrovers geführte Debatte um den sogenannten „Abtreibungsparagraphen“ (§218 StGB Schwangerschaftsabbruch) ein. In seiner Zeit wird auch der Präferenz-Utilitarismus des australischen Ethik-Philosophen Singer intensiv besprochen (s. Practical Etics 1979). Bach wendet sich vehement gegen eine rational-utilitaristische Sicht, wie er auch den seiner Meinung nach ungerechtfertigten Abbruch einer Schwangerschaft bei Verdacht einer Behinderung ablehnt, da es die Isolation und Aussonderung von Menschen mit körperlichen oder mentalen Beeinträchtigungen voran treibt.

Im zweiten Kapitel wird die hermeneutische Grundlage einer Theologie nach Hadamar besprochen. Dies geschieht in Anlehnung an die Vernichtung behinderter Menschen im Dritten Reich. Insbesondere die systematisch geplante „rassenreinigende“ Aktion T4, geplant in der Tiergartenstrasse 4 in Berlin, und ausgeführt in Hadamar (Hessen) Grafeneck (Baden-Württemberg), Hartstein (Linz; Österreich), Bernburg (Sachsen Anhalt), Sonnenstein (Pirma), Brandenburg (Saale). Bach legt aus hermeneutischer Sicht eine Theologie des Kreuzes als göttlicher Ausdruck der „Schwachheit“ und Identifikation mit den Schwachen und den als anders Empfundenen zugrunde (S. 63-97). Sein kontextueller Ansatz lehnt sich an den befreiungstheologischen Idealismus jener postmodernen Tage (1970-2000) an und ruft zur Neuorientierung der Kirche im Umgang mit Menschen mit körperlichen und mentalen Einschränkungen auf. Schöpfungsbedingt steht bei ihm ausnahmslos jeder Mensch Gott nahe. Das Böse demonstriert sich nicht am behinderten oder kranken Menschen, sondern in der Ablehnung Gottes. Eine Profilierung durch Krankheit oder Behinderung („Gott will diese Menschen testen“) widerspricht dem Seins-Zustand eines Betroffenen („Ich bin wie ich bin“). Bach geht hierbei radikal weit, indem er eine „Euthanasie-Mentalität“ oder einen „theologischen Sozial-Rassismus“ unterstellt, wenn auf die theologisch bedeutsame Unterscheidung zwischen gesunden und kranken Menschen hingewiesen oder daran festgehalten wird. Seiner Meinung nach ist dies die Ursache unsäglicher, schädlicher Auswirkungen. Euthanasie, Behinderten-Feindlichkeit (ableism), eine hierarchisierende Imago-Dei Lehre und ein Tun-Ergehen Zusammenhang führen Menschen mit körperlichen oder mentalen Beeinträchtigungen ins Abseits (Exklusion statt Inklusion), wenn nicht gar ins Aus (Euthanasie).

Im dritten Kapitel bespricht Krauß Bachs Sicht von Heil und Heilung. Dabei widerspricht Bach der Ansicht eines Heilungsauftrags an die Kirche. Für ihn besteht nur ein Predigtauftrag. „Eine Kirche die einen Heilungsauftrag behauptet, den sie nicht hat, gefährdet den Predigtauftrag, den sie hat“ (S. 126). Krauß verwendet einen erheblichen Teil darauf, Bach an diesem Punkt zu widersprechen. Ihrer Meinung nach ist die Sehnsucht nach Heilung und einer „heilen“ Welt Grundlage der Theologie (S. 134-137). „Ohne Heilung kein Heil“, wobei es keine Verfügbarkeit des Heils gibt und sozusagen im Trüben gefischt wird, wenn Heilung beansprucht wird (S. 131). Dies sind die Grenzen der Theologie und Medizin. Die Vorstellungen von Heil, die auf die Prämissen Gesundheit, Leistungsfähigkeit, Vollkommenheit und Perfektion (kritisch dazu Henning Luther S. 144) aufbauen, sind nach Krauß’ Interpretationen von Bach genauso abzulehnen, wie eine Leidensmystik (Hiobsgestalt bei Schleiermacher; S. 140) oder ein Martyrium im Schatten des Kreuzes (Barth; S. 141), wie es in den Theologien Schleiermachers und Barths als Nacht- und Schattenseite der Schöpfung aufgeführt wird.

Im vierten Kapitel arbeitet Krauß noch einmal Bachs Ansatz auf. Dabei reflektiert sie dessen Ansatz nach einer „barrierefreien Theologie“ (s. Titel). Im Gegensatz zu den oben genannten Idealvorstellungen menschlichen Daseins sollten Daseins-Einschränkung und Angewiesen-Sein hervorgehoben werden. Beide Kategorien spiegeln die eigentliche Normalität und Interdependenz von Menschen wider. Barrierefreie Theologie in diesem Sinne geht historisch-gedanklich den modernen Inklusionsgedanken voran. Krauß geht des Weiteren im Hinblick auf Wunder- und Heilungsgeschichten auf die römisch-katholische Theologin Dorothee Wilhelm (biblische Geschichten sprächen nur von Normalisierung und Anpassung; S. 175), Ulrike Metternich (Dynamis- und nicht Wundergeschichten; S. 176), Andreas Lob-Hüdepohl (s. o. Wundererzählungen sind Beziehungsgeschichten; S. 180), die amerikanische Theologin Kathy Black (Theology of Interdependence; S. 181) ein. Sie führt als Beispiele barrierefreier Theologie die Ansätze von Andrea Bieler/Hans-Martin Gutmann (Theorie der Überflüssigen; S. 200), Henning Luther (s. o. diakonische Seelsorge als kirchliches Paradigma; S. 202), Ulf Liedke (Inklusive Anthropologie; S. 204) und Nancy Eiesland (the disabled God; S. 206) auf.

Mit einer Theologie des Imperfekten schließt Krauß ab und lässt so die Tür offen für weitere Ansätze, um den Phänomenen der Aussonderung, Diskriminierung und Othering von Menschen mit körperlichen und mentalen Einschränkungen zu begegnen. Die kritische Forschung am Wirken Ulrich Bachs ist eine Quelle des Ringens, vor allem in den Landeskirchen, um Teilhabe, Integration und Inklusion von Menschen mit Behinderungen. Gleichzeitig ist der angeregte und andauernde Diskurs eine Herausforderung an die Akteure aufeinander zu zugehen und miteinander die Vielfalt des Leibes Christi zu repräsentieren.

 

Disability Studies ; Behinderung und Bibel ; Behinderung und Kirche ; Hebräische Bibel ; Behinderungstheologie ; Hermeneutik ; Hadamar ; Theodizee

Rezension: Danys, Miroslav 2016. Diakonie im Herzen Europas: Ursprünge, Entwicklungen und aktuelle Herausforderungen in West & Ost, neu betrachtet aus Anlass des Reformationsjubiläums

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Miroslav Danys (Pfarrer; Osteuropabeauftragter der Lippischen Landeskirche) wird als missiologischer Brückenbauer zwischen Ost und West beschrieben (Zitat auf der Umschlagseite). Er ist ein Kenner des Kommunismus und Beobachter der Entwicklungen nach der politischen Wende der neunziger Jahre. Danys sieht die Zukunft der Diakonie in einem gut vernetzten Europa. Nur mit der Hilfe der Kirche ist eine solche, alle Menschen achtende, soziale Einrichtung aufrecht zu erhalten.

Seine Heimat ist das Teschener Land mit der gleichnamigen Stadt (Cieszyn), welche er in Mitteleuropa verortet. Dieses liegt im heutigen Polen an der Grenze zu Tschechien. Der Schwerpunkt der Forschung liegt auf der kirchlich-gemeindlichen Diakonie, sowohl vor, während als nach dem politischen Umschwung. Dabei hat er vornehmlich die DDR, den ihm bekannten Teil Polens und Tschechien im Blick. Der politische Wille und der Zeitgeist stehen dabei in enger Beziehung zu den Entfaltungsmöglichkeiten kirchlich-gemeindlicher Diakonie.

Danys beginnt mit einem Rückblick. Er schaut auf die Person Lorenzo Vallas (15. Jh.), der nach Ansicht Danys die reformatorische Sozialarbeit im ausgehenden Mittelalter begründete. Vorbereitet wurde dessen Werk durch die Ultramontaner, zu denen auch Jünger des Petrus Valdes, dem Begründer der Waldenser gehörten. Ab dem 11.-12. Jhdt. führte die mittelalterliche Epoche der „Früh-Industrialisierung“, zur Unterschicht der Lohn-Arbeiter. Deren Spezialisierung führte zwar zu einer höheren Produktivität im Rahmen des aufkommenden Frühkapitalismus zwang diese Bevölkerungsschicht aber auch oftmals in die Armut und damit in die soziale Abhängigkeit. Dem steuerte die kirchlich-gemeindliche Diakonie entgegen. Initiiert von Privatpersonen oder kirchlichen Institutionen bildet das Vorbild des Martyriums Jesu die praktische und theologische Grundlage des Sozialen Dienstes am Nächsten (S. 8).

Danys Blick richtet sich nun auf das Gebiet des heutigen Polen. Es wurde ab dem 17. Jhdt. ein Siedlungsgebiet deutscher Migranten aus dem Westen und jüdischer Pogromflüchtigen aus dem Osten (Russland). Die Deutsch-Migranten brachten protestantisches Denken, die Bibel und ihre liturgischen Hilfsmittel mit. Am Beispiel des Edmund Holtz beschreibt er den Aufbau der evangelisch-lutherischen Diakonissen-Mutterhaus-Bewegung, welche sich aus einem Heim für Personen mit Epilepsie entwickelte und von Holtz in Lódź etabliert wurde (S. 14). Auch im estnisch-lettischen Baltikum konnte die lutherische Kirche ähnliche diakonische Strukturen entwickeln.

Exemplarisch stellt er den nächsten geschichtlichen Strang diakonischer Arbeit in Polen am evangelischen Seuchenhaus, heute Krankenhaus, in Warschau dar. Gegründet 1736 auf einem Friedhof für Dissidenten, wurde es zur Pflegeeinrichtung protestantischer Kranker oder Verletzter. Nach dem ersten Weltkrieg öffnete es die Tore für alle Hilfesuchenden und wurde weithin bekannt (S. 17-19). Im zweiten Weltkrieg grenzte es an das Warschauer Ghetto und diente einigen wenigen jüdischen Ghettoflüchtigen als Anlaufstelle. Es wurde 1944 völlig zerstört (S. 21).

Im Kommunismus wurde jedwede öffentliche Diakonie im Keim erstickt, da sich der Staat als die alle(s) versorgende Einheit verstand. Kirchlich-gemeindliche Diakonie verlagerte sich auf innerkirchliche Dienstleistung an Bedürftigen. Doch waren die Spielräume in den unterschiedlichen staatlichen Gebilden verschieden, wie die Beispiele, DDR, ČSR, Slowakei, Polen, Ungarn und das Baltikum lehren.

In Tschechien gelangte die kleine achtköpfige Diakonissenarbeit zu Beginn des 19. Jhdt. zu Ruhm, da ihre voll ausgebildeten Pfleger im Ersten Weltkrieg vielen verwundeten Kriegsopfern als einer der wenigen Institutionen helfen konnten (S. 63-64).

Nach Danys stieß die kommunistische Partei in der ČSR auf besonders offene Ohren, was die kirchliche Diakonie lahmlegte. Privatbesitz wurde fast völlig verboten, die Diakonie und die Kirchen wurden verstaatlicht und damit vom ideologischen Feind betrieben und bezahlt (S. 66). Eine Studie von Vlastimil Jaša aus dem Jahr 1956 beschreibt die damit einhergehenden ungelösten staatlichen Probleme in der Kinder- und Jugendpflege, der Prostitution, dem Kampf gegen den Alkoholismus, dem Problem der Scheidungen, der Schwangerschaftsabbrüche, der Kinderlosigkeit und Ein-Kind-Ehen und des Suizid bzw. Freitod. Themen, die in der kommunistischen Öffentlichkeit verschwiegen wurden. Diese Missstände aufgreifend wurde nach der Wende die Diakonie ganz in die Hände der Evangelischen Kirche der Böhmischen Brüder (EKBB) übergeben (S. 74). Der Diakonissenstand hatte sich aufgelöst. Die Arbeit richtet sich nun auf Altenheime, den Dienst an Menschen mit körperlichen oder mentalen Einschränkungen und therapeutischen Hilfen (S. 75). Die kirchlich-gemeindliche Diakonie wurde nun als Wirtschaftsunternehmen im sozialen Bereich verstanden. Um die ethischen Aspekte der Fürsorge und der Dienst- und Opferbereitschaft wieder hervorzuheben wurde die Diakonie 1999 unter eine diesbezüglich fordernde Satzung gestellt.

Im Teschener Land (Polen) hingegen hat der Pietismus zu einer Staatshörigkeit und gleichzeitigem Dissidententum geführt (S. 85). Kulisz gründete dort im Jahre 1907 eine Anstalt mit Namen „Bethesda“ (S. 89). Die kirchlich-gemeindliche Diakonie wurde zum Ausdruck des geistlichen Lebens in der ganzen Region.

In der DDR, Polen und Ungarn war die Diakonie eng mit kirchlichen Strukturen verknüpft, welche wiederum auf westliche Kontakte und Zahlungen blicken konnten. Augenscheinlich waren diese Beziehungen Grundlage besserer medizinisch-pflegerischer Versorgung, als in anderen Staaten. Gerade die DDR profitierte von diesen Strukturen besonders, indem ausländisches Kapital zur Versorgung eingesetzt wurde.

Nach der Wende wurde die finanzielle Notlage der sozialistischen Länder besonders für Personen mit körperlichen oder mentalen Einschränkungen kritisch. Die kirchlichen und gemeindlichen Strukturen in den besprochenen Ländern konnten diese Notlage, auch mit westlicher personeller und finanzieller Hilfe aufgreifen und eigene diakonische Strukturen entwickeln.

Danys gibt einen exzellenten Rück- und Überblick über die Entwicklung der Diakonie in Mitteleuropa. Gerade im Hinblick auf die missiologische Seite des Gemeindebaus, der Disability Studies und dem kirchlich-gemeindlichen Umgang mit den „Anderen“ (otherness) in Zeiten des Umbruchs bieten seine Ausführungen hilfreiche Einsichten.

 

Diakonie ; Disability Studies ; Behinderung ; behinderte Menschen ; kirchliche soziale Dienste ; Polen ; Tschechoslowakei

Rezension: Joshua Lingel, Jeff Morton, Bill Nikides (eds.), 2011, Chrislam: How Missionaries Are Promoting an Islamized Gospel

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Dieses Werk ist als Antwort auf eine in kirchlichen und missionarischen Kreisen in den USA  intensiv geführte Diskussion über Ansätze der Kontextualisierung im islamischen Raum zu sehen. Dabei geht es unter anderem um Bibelübersetzungen, die sich in ihrem Sprachgebrauch auf die islamische Welt einstellen und die meist von sogenannten Insider Movements (IM), aber von teilweise westlichen Organisationen linguistisch, technisch und finanziell betreut und unterstützt werden.

Die theologische Fakultät in Biola hat sich in der Diskussion besonders hervor getan, da sie federführend für einige Kirchenbünde (Freikirchen), allgemeine Stellungnahmen zu diesem Thema vorbereitet hat. Die hier vorliegenden Aufsätze bilden eine sehr detaillierte und couragierte Sammlung und Zusammenfassung der Forschung aus dem letzten Jahrzehnt. Die Sammlung besticht durch ihren Umfang, die Heranziehung einer ungeheuren Menge an Meinungen und Veröffentlichungen zum Thema und der Darstellung beider Seiten. Befürworter und Kritiker, aus letzterem Kreis stammt das Werk, kommen zur Sprache und finden Gehör. Leider, so ein Wermutstropfen dieser Arbeit, werden die Befürworter immer aus kritischer Sicht beschrieben. Es kommen neben den kritischen Herausgebern auch Georges Houssney, John Span, Roger Dixon, David Talley, Emir Caner, David Abernathy, Adam Simnowitz, Abdul Qurban, Edward Ayub, Elijah Abraham, Bassam Madany, Sasan Tavassolie und alte Quellen (Zwemer, Cook) zu Wort.

Die Herausgeber gehen völlig zu Recht davon aus, dass sich die „Problematik“ der Kontextualisierung von Bibelübersetzungen im islamischen Raum nur in enger Verbindung zu den „Insider Movement“ Entwicklungen beantworten lässt. Sie entwickeln deshalb folgerichtig und zum Vorteil des Lesers ihre kritische Argumentation auf der Basis zahlreicher Perspektiven von Insidern und Outsidern. Es sind vor allem die Insiderdarstellungen, die die Debatte bereichern.

Die Herausgeber gliedern die Problematik in die drei Themengebiete Missiologie, Theologie und Übersetzungswissenschaft. Dabei bilden, aus theologisch-missiologischer Sicht die Kapitel

zur Hermeneutik (Kapitel 2),
zur Missiologie (Kapitel 3) und
den Insiderperspektiven (Kapitel 5)
einen reichen Fundus an kritischen Argumenten zu ethischen, hermeneutischen, soziologischen und psychologischen Fragen dieser Art der Kontextualisierung. Für den Bereich kontextualisierter Bibelübersetzungen und für Bibelübersetzer geben die Kapitel 2 und 4 einen guten Überblick über die theologisch-missiologischen Vorbehalte. Hierzu gehören vor allem die Anbiederung an den Islam, die Aufgabe der Trinitätslehre, der Verrat an Christen aus islamischem Hintergrund welche gerade die Familienbezeichnungen in der Trinitätsbeschreibung zur Abgrenzung gegenüber dem Islam benutzen und viele Argumente mehr.

Die gesamte Darstellung basiert auf zwei Argumenten. Zum Einen wird die Insider-Bewegung und das von Travis entwickelte Spektrum der Kontextualisierung im Islam (C1-C6-Spektrum) kritisiert und damit die Option einer „dualistischen Präsenz“ als „muslimischer“ Christ abgelehnt. Dieser bliebe mit gutem Gewissen dem islamischen Hintergrund auf soziologischer Ebene verhaftet. Zum Zweiten werden Ansätze zu einer sprachlich-kulturellen Kontextualisierung im islamischen Raum in den Bereich des Synkretismus gerückt. Eine anschauliche Anekdote in der Einleitung (S. 8-10) beschreibt die Spannung dieser Problematik. Ein westlicher Christ „Jim“ und ein einheimischer Christ aus islamischem Hintergrund „Tahwil“ führen einen Dialog in dem klar wird, dass Tahwil von Jim betreut wird, dieser aber so vieles vom Islam aufgreift, dass Tahwil nicht mehr weiß, ob er nun eigentlich Christ oder Moslem ist.

Dieses Buch ist ein Fundus zur Diskussion. Kritikern liefert es eine Zusammenfassung und eine Kategorisierung der vielerlei Themengebiete zu diesem Gegenstand. Befürwortern gibt es einen Einblick über mögliche Schwachstellen der Bewegung, sowie eine umfangreiche Übersicht über die Hauptargumente aus kritischer Sicht. Für mit der Diskussion nicht vertraute Leser überwiegt in diesem Buch die Kritik so stark, dass es nicht möglich ist nur mit Hilfe des Buches einen objektiven Eindruck zur Thematik zu bekommen.

 

Insider Movements ; Bibelübersetzung ; Missionsbewegung ; Jahrhundert der Bibelübersetzung ; globale Kirche ; glokale Kirche ; kirchliche Entwicklungshilfe ; kirchliche Arbeiter

Rezension: Carswell, Jonathan & Wright, Joanna 2008. Susanne Geske: Ich will keine Rache – Das Drama von Malatya

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Christenverfolgung ist ein kommendes Thema in der Öffentlichkeit. Nicht wenige Institutionen propagieren es inzwischen mit ganz unterschiedlichen Mitteln (bekannteste: Open Doors). Auch die Politik entdeckt es mehr und mehr, und zwar als Argument für oder gegen bestimmte entscheidungsbedürftige Themen (z. B. Flüchtlings- und Staatsbürgerschaft[en]-Debatte). Es dürfte nicht zu viel gesagt sein, dass das in diesem Buch beschriebene „Drama“, welches im Jahre 2007 und auch noch im politischen Partnerland Türkei, einem der Ursprungsländer des Christentums, wohl ein initialer Zündpunkt für diese Entwicklung war. Offensichtlich ist das Interesse groß, an der sich entwickelnden evangelikalen Kirche in der Türkei. Die mit ihr einhergehende Forschung inspiriert die internationale Politik den auf dieser Kirche lastenden politischen Druck öffentlich wahrzunehmen. Die deutsche und europäische Politik hat das Signal aufgegriffen wie ständige Themenrunden und die zeitweise Zurückstellung des türkischen Antrags auf EU-Vollmitgliedschaft zeigen.

Carswell und Wright interviewten die Witwe, des aus Deutschland stammenden Opfers dieses religiös-politischen Attentats. Drei Männer fielen den 5 Tätern zum Opfer. In einem ca. dreistündigen Todeskampf wurden die zwei türkischstämmigen und dem in der Türkei lebenden Ehepartner der Interviewten langsam und qualvoll hingerichtet (ausführlich S. 96-103). Diese deutlichen Worte muss man für diesen penibel geplanten Auftragsmord von 5 türkischen Staatsbürgern im Osten der Türkei (Malatya) benutzen.

Dieses Buch will den Kontext, in dem sich das Drama abspielte aufzeigen und erzählt ausgiebig von dem langen Weg der fünfköpfigen deutschen Familie, zuerst in die Türkei und dann in den dortigen Osten. Es ist ein sehr persönlich erzählter kurzweiliger Lebens- und Erfahrungsbericht. Angesichts der vielzähligen türkischstämmigen Gastarbeiter, Flüchtlinge und Nachzügler, tritt hier ein Wechsel der Perspektive in den Vordergrund, der es dem deutschen und türkischen Leser leicht macht kulturübergreifend voneinander zu lernen. Das gerade das christliche Anliegen im Vordergrund steht, wird natürlich nicht jedermann / jederfrau gefallen, würzt aber das Spannungsfeld, in welchem sich beide Kulturen auf jeweils fremden Boden bewegen. Gegenseitige Erwartungshaltungen werden offenbar und treten in den Begegnungen und zuletzt im Konflikt zwischen den religiösen Interessen zutage.

Auf den ersten fünfzig Seiten beschreibt die Witwe, den Weg und den Preis den kirchliche Mitarbeiter, die im Ausland arbeiten wollen zahlen. Wer sich im Rahmen der kirchlichen Entwicklungshilfe, in einem fremden Land profilieren möchte, wird diese Erfahrungen kennen und die Offenheit der Erzählung schätzen. Dazu gehören erstens die Frage nach dem geographischen und lokalen Ort, an dem man seine Erfahrungen weiter geben möchte, zweitens die nach der finanziellen Versorgung und Absicherung in fremden Landen, und zuletzt die Organisation oder Institutionen, die sich öffentlich hinter das Projekt stellen.

Im darauf folgenden Abschnitt wird, auf den nächsten dreißig Seiten (S. 53-83), der Weg in der Türkei, bis hin zum Attentat beschrieben. Neben dem Erlernen der Sprache(n) und Kultur(en) bietet dieser Teil Einblick in die Erfahrungen beim Eintauchen in fremde Kulturkreise.

Den nächsten Block (S. 84-115) nimmt das Attentat und die zehn Tage bis zur Beerdigung in der Türkei ein. Beeindruckend ist die Kompromisslosigkeit, mit der in diesem Bericht zum Land der Wahl gehalten wird. Dies wird auch auf den letzten zwanzig Seiten (S. 115-136) deutlich, auf denen sich die Witwe und die Kinder ohne Vorbehalte auf Vergebung durch eine höhere Macht berufen. Der Verlust des Vaters und Ehemannes wird nicht beschönigt, jedoch auch nicht als Märtyrerleistung hervor gehoben. Solches tun die Außenstehenden, die unter anderem auch für dieses Buch stehen, welches innerhalb eines Jahres, noch völlig unter dem Eindruck des Attentats entstand.

Dieses Buch ist ein gutes und hilfreiches Zeugnis über das christliche Zeugentum in der Welt. Es bietet tiefe Einblicke in die Herausforderungen kirchlicher Entwicklungshilfe in der Fremde. Allerdings, und das ist kritisch anzumerken, nimmt es das Postulat einer Leidenstheologie auf genau diesem kirchlichen Arbeitsfeld vorweg. Diese Annahme ist allerdings nicht einseitig aus dem neutestamentlichen Beleg zu entnehmen, wird jedoch im Moment in der westlichen Welt gerne gehört. Dazu tragen zunehmende religiöse Konflikte und die weltweiten Anspannungen nicht unerheblich bei. Es ist dem christlichen Denken und Handeln jedoch abträglich „Nächsten- und Feindesliebe“ einzig aus einer Haltung des Leidens und der Unterdrückung zu leben, vielmehr treibt der Blick nach vorne und nach oben die Nachfolge an. Märtyrertum wird dann als kirchengeschichtlicher Vorgang, durch nachfolgende Generationen, zur Stärkung in Krisenlagen und zur Festigung der globalen Kirche, im gegenseitigen Einstehen durch Gebet und politische Interventionen festgehalten.

 

Christliche Entwicklungshilfe ; Verfolgung ; Märtyrer, Martyrium ; Islam ; Türkei, Deutschland ; Glaube ; Missionswissenschaft ; Theologie des Leidens

Rezension: Conner, Benjamin T. 2018. Disabling Mission, Enabling Witness: Exploring Missiology Through the Lens of Disability Studies

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Benjamin T. Conner (PhD, Princeton Theological Seminary) ist Professor der Praktischen Theologie am Western Theological Seminary in Holland, Michigan. Dort leitet er auch die Graduierten-Ausbildung im Fachbereich Disability Studies und praktischer Dienst. Sein kritisches Plädoyer besteht in der Beobachtung, dass die Kirche sich des Potentiales nicht bedient, welches in Menschen mit körperlichen oder mentalen Einschränkungen steckt. Die Kirche kommt dabei ihrem Auftrag der Sammlung aller sozialen Gruppen in Spiegelung der menschlichen Vielfalt (diversity) nicht nach. Disableismus (USA Ableismus), die Ablehnung behinderter Personen, und Paternalismus hindern die Gläubigen, sich diesem Personenkreis zu öffnen.

Conner beschreibt einleitend seine Beobachtungen innerhalb der Kirche, wenn es um Menschen geht, die dem kirchlichen Alltagsleben nicht wie erwartet folgen. Seine etischen ethnographischen Beschreibungen bilden die Ausgangslage eines Nicht-Behinderten, der sich in Disability Missiology positioniert, einem gänzlich neuen Fachgebiet. Die für Conner maßgeblichen missiologischen Fragestellungen sind erstens, welche Konzepte oder Praktiken sind geeignet sich Disability Studies so anzunähern, dass Menschen mit körperlichen oder mentalen Herausforderungen zur Sprache kommen? Zweitens interessieren ihn die Fragestellungen dieser Personen rund um die Missiologie (S. 11).

Anhand mehrerer Beispiele geht Conner der Frage nach, was denn „Disability“ sei und wie davon zu sprechen sei. Obschon rund 15-20% der Weltbevölkerung unter die WHO-Definition von Behinderung fallen, ist die Lebenserfahrung rund um „Behinderung“ ein Thema in der Mitte der Gesellschaft, da jeder schon temporär körperlich oder mental eingeschränkt war oder altershalber sein wird. Dem sozialen Disability-Modell (UK) folgend wird „Behinderung“ von den Nicht-Behinderten konstruiert. Dies geschieht, um sich gegenüber denen abzugrenzen, die vermeintlich „anders“ in ihrer körperlichen oder mentalen Lebensverwirklichung sind (S. 20-21). Es handelt sich dabei um eine heterogene Gruppe, die nicht auf einzelne Kriterien begrenzt werden kann. Zudem variieren und verändern sich diese Konstrukte global und lokal je nach Ethnie und deren kulturell-linguistischer Weltanschauungen. Conner wagt den Sprung in die transkulturelle Wahrnehmung von „Behinderung“, allerdings nur sehr begrenzt und nur für native Indians und eine nordafrikanische Ethnie (S. 22-24).

Danach bleibt Conner im nordamerikanischen Kontext und gibt einen Überblick über die besondere Problematik der Erwerbslosigkeit von behinderten Personen, deren Missbrauch und Gewaltanwendung gegen sie in Familie, Heimen oder Arbeitsstätten (S. 28-30). Auch sind sie im dortigen Kontext besonders von Armut, Obdachlosigkeit, Isolation, Kriminalisierung oder Inhaftierung bedroht oder betroffen.

Missiologie als einer praxisorientierten Disziplin, sollte der Diversität menschlicher Gesellschaften gerecht werden (S. 36). Selbstkritisch haben im letzten Jahrhundert nordamerikanische missiologische Kreise im sogenannten Hocking Report (1932) festgestellt, dass deren Sendung meist mit kolonialistischer Ausbreitung einherging. Dem stellt Conner nun ein Konzept entgegen, dass sich zum einen auf die Missio Dei, also Gottes Initiative an der Sendung, zweitens der Einheimischwerdung durch Kontextualisierung und drittens dem christlichen Zeugnis, als Proklamation der sozialen Pluriformität christlicher Präsenz stützt (S. 39). Besonders hervorzuheben ist seine Betonung der Bekehrung (conversion), als zentralem Prozess der Einheimischwerdung im Rahmen der Kontextualisierung (Andrew Walls; S. 42). Des Weiteren repräsentiert Missiologie die Disziplin des christlichen Zeugnisses. Christliches Zeugnis beinhaltet dabei die Proklamation nach außen und die Kommunion nach innen (S. 50-54). Zu Letzterem bemüht Conner James Edward Lesslie Newbigin (1979), der mit seinem Artikel Not Whole without the Handicapped auf den Disableismus der Kirche aufgrund physikalischer und geistlicher Ausgrenzung von behinderten Personen hingewiesen hat.

Im dritten Teil kommt Conner auf die Situation der Gehörlosen zu sprechen. Die missiologische Ausrichtung seiner Beobachtungen offenbart die paternalistische Haltung von kirchlichen Mitarbeitern, wenn es darum geht Menschen mit auralen Einschränkungen zu begegnen. Die Gehörlosen-Community ist dabei besonders interessant, da es in ihren Reihen Gruppen gibt, die sich als nicht-behindert werten. Sie argumentieren damit, dass die Gehörlosensprache eine vollumfängliche Kommunikationsgrundlage bildet, die jedem offen steht. Das bedeutet, dass es für diese Community keine Einschränkung gibt. Ihrer Deutung nach dient das Konstrukt „taub, stumm, gehörlos“ offensichtlich dazu, diese Gruppe zu stigmatisieren, obwohl kein objektives Kriterium der „Andersartigkeit“ vorliegt. Conner informiert die Leser über deren rassistische Diskriminierung, wie sie z. B. Alexander Graham Bell (*1847–†1922), der Erfinder des Telefons, an den Tag legte (S. 73). Er forderte die vollständige Ausrottung dieser gehörlosen defektiven menschlichen Rasse. In ähnlicher Weise spiegelt sich in der Evangelisierung von gehörlosen oder höreingeschränkten Personen, wie sie von Thomas Hopkins Gallaudet (*1787–†1851) betrieben wird, eine paternalistische Überheblichkeit. Für ihn waren sie „Heiden“ zu denen er gesandt war. Conner fragt zurecht, warum eine „körperliche Andersartigkeit“ mit Heidentum gleichgesetzt wird? In der Konsequenz gründete Gallaudet ein pädagogisches Heim, welches deren Krankheit des Geistes und deren Beschränktheit des Intellekts durchbrechen sollte, um zu religiöser Erkenntnis zu gelangen (S. 79). Conner betont, das Gallaudet die gleichen Argumente später an indigene Hawaiianer anlegt. Nichtsdestotrotz unterstützt Gallaudet aufgrund seiner pädagogischen Prämissen die Gebärdensprache, diskriminiert jedoch diejenigen, die im Zungenlesen oder im Erlernen der Schriftsprache nicht zur Perfektion kommen (S. 83-85).

Conner wagt den kritischen Vergleich mit der Indigenisierung des Christentums in Afrika. Dort trug die Bibelübersetzung wesentlich dazu bei, dass eigene christliche theologische Ausdrucksweisen sich entwickelten, nachdem einheimische Exegeten sich vom westlichen Einfluss lösten und eigene Zugänge zum Evangelium fanden. Auch die Gehörlosen-Community löst sich von den Worten und interpretiert mittels der Gebärdensprache, die in den Ereignissen beschriebenen implizierten zwischenmenschlichen Begebenheiten. Deren warmherzige Auslegung bereichere die Kirche, so Conner (S. 97-98).

Im letzten Teil beschreibt Conner seinen hermeneutischen Ansatz des iconic witnesss, dem ikonenhaften Zeugnis (S. 103). Er hat dabei mentale Einschränkungen (intellectual disabilities) im Sinn. Deren Stigmatisierung entgegnet er einen Perspektivenwechsel vom Rationalismus zum Relationalismus menschlichen Seins. Das Ikonenhafte unseres Mensch-Seins gründet sich dieser Interpretation nach auf die gegenseitige Begegnung und repräsentiert ein Sakrament der Schöpfung, welches Gott in allen Menschen zur Geltung bringt (S. 139).

Conner liefert eine anthropologisch-theologische Studie, die Raum für weitere Forschung bietet. Inwiefern das von ihm vorgestellte hermeneutische Konzept des „iconic witness“ dabei neu oder hilfreich ist, wird sich zeigen müssen.

 

Missiologie ; Interkulturelle Theologie ; Gehörlosigkeit ; Taubstumm ; iconic witness ; Hermeneutik der Symbole ; ikonenhaftes Zeugnis

Rezension: Schipper, Jeremy 2011, Disability & Isaiah’s Suffering Servant

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Dieses Werk wird in theologischen Kreisen zunehmend wahrgenommen. Die exegetische Grundaussage, dass es sich bei der Beschreibung des Leidens des Gottesknechts um eine tatsächliche und nicht um eine imaginäre oder zu übertragende Behinderung einer Person handelt, hat auch missiologische Auswirkungen. Insbesondere die diakonisch-ethische Ausrichtung der Kirche auf Menschen mit Einschränkungen wird dadurch hinterfragt.

Jeremy Schipper ist Professor zum Fachgebiet der Hebräischen Bibel (Altes Testament) an der Temple Universität in Pennsylvania. Er beschäftigt sich schon seit 2006 mit Disability Studies in Bezug auf die Hebräische Bibel. Dabei hinterfragt er die gängige Auslegungspraxis, die Beschreibungen von Behinderung oder Behinderten vornehmlich allegorisch zu deuten. Er sieht im innerbiblischen sowie im religions- und sprachwissenschaftlichen Vergleich mit anderen antiken Schriften keinen Grund so an die Hebräische Bibel heran zu gehen. Dabei ist er vorsichtig und gesteht diesen Zugang als mögliche Option zu, will ihn aber nicht als einzige oder bevorzugte Möglichkeit stehen lassen (Abschlusskapitel conclusion, S. 110-112). Schipper weist nach, dass, dieser Zugang besonders in den Auslegungen zum Gottesknecht aus Jesaja 53 zutage tritt.

Er folgt in der Jesaja-Interpretation der allgemeinen Tradition, die Jesaja 53 in zwei Teile gliedert: Eine göttliche Rede oder ein Orakel als Einleitung und Schlussfolgerung (52:13-15 und 53:11b-12) und als Hauptteil ein Psalm über den Knecht (53:1-11a). Der Theorie, nachdem der Psalm ein nachträglicher Einschub zwischen zwei göttlichen Reden wäre, und somit ursprünglich keine Beschreibung einer Behinderung vorlag, erteilt er aufgrund der unterschiedlichen textkritischen Befunde eine Absage. Ebenso betont er die Vielfalt an Beschreibungen von Behinderung und Behinderten in der Hebräischen Bibel, insbesondere in Jesaja (disability imagery).

Disability Studies offenbaren drei Modelle der Wahrnehmung von Behinderung. Das medizinische, das soziale Modell aus Großbritannien und das kulturelle Modell aus den USA (S. 14-20). Ersteres wird inzwischen als unzureichend deklariert. Schipper wählt einen praxisbezogenen Zugang zur Behinderung. Altersbedingte Erscheinungen, die durch langsame Verfallserscheinungen entstehen, zählen für ihn nicht dazu, jedoch explizit erwähnte Unfruchtbarkeit (Mann, Frau, Eunuchen), Mobilitäts-, Seh-, Hör- und mentale Einschränkungen. Antike Texte beschreiben zwar die damalige Wahrnehmung von Behinderung, sie geben jedoch keine hinreichenden Definitionen derselben.

Schipper führt die innerbiblischen geistlichen Übertragungen (Metaphern) an, die mit Vokabular aus dem Bereich der Behinderung spielen, woran auch Jesaja nicht spart (z. B. Jes 42:19; 56:10). Jesaja 53 geht jedoch darüber hinaus, da die reale körperliche und mentale Einschränkung einer Person beschrieben wird.

Ein weiterer Interpretationsstrang definiert den Gottesknecht als „leidend“ aber nicht behindert (S. 32; s. unten). Demgegenüber weist die Erfahrung sozialer Isolation (Jes 53:3) auf eine „echte“ Ablehnung durch Andersartigkeit bzw. Behinderung hin. Implikationen einer religiösen Stellvertretung, wie aus dem hetitischen und assyrischen Bereich für mentale Behinderte, die anstelle des kranken Königs eingesetzt wurden, sind nicht ausreichend belegt, um sie auf Jes 53 anzuwenden. Schipper bespricht Theorien über eine Hautkrankheit wie sie Duhn vorschlägt (S. 40-42) sowie Auslegungen, die Behinderung als Deutungsoption ausschließen, namentlich eines Gottesknechts der verletzt (S. 42-45; so z. B. Whybray), getötet (S. 45-49), sich erholend (S. 49-55) oder gefangen sei (S. 55-57).

Kapitel 3 widmet sich der textkritischen Analyse von Jesaja 53. Im Verlauf der Antike zeigt sich, laut Schipper, eine Verschiebung der Sicht von einem behinderten Gottesknecht hin zu einem nichtbehinderten. Vor allem Targume (antike aramäische interpretierende Übersetzungen) lösen sich vom Bild eines behinderten Gottesknechtes und sprechen mehr von einer „gesalbten“ (mšhy) denn einer „entstellten“ Person (mišhat; Jes 52:14; S. 69-71). Im Gegensatz hierzu benutzt Hieronymus in der Vulgata und in Kommentaren Vokabular aus dem Bereich der Behinderung (S. 71).

Der neutestamentliche Beweis erstreckt sich auf Zitate von Jesaja 53 im Neuen Testament. Jesus‘ Heilungen und Wunder bilden dabei den Bezug. Neben Matt 8:17 ist auch Joh 12:28 zu nennen, wobei in beiden Fällen die Behinderung keine Rolle spielt, sondern die Ablehnung Jesu trotz seiner Heilungen. Auch andere Stellen, die sich auf Jesaja 53 beziehen, weisen nicht auf Behinderung sondern auf Ablehnung und Leiden. So z. B. in Lk 22:37, Mk 15:28 – Jesus als Unschuldiger; in Apg 8:32-33 und 1Pt 2:22 – ein Märtyrer oder in Röm 10:16 und 15:21 – Reaktionen auf den Gottesknecht. Diese neutestamentliche Tendenz dürfte die langanhaltende Abkehr vom Verständnis des behinderten hin zum leidenden Gottesknecht unterstützen.

In Kapitel 4 untersucht Schipper die unzähligen Deutungen des Gottesknechts als Leidender, der real-existierte oder auch kollektiv zu deuten wäre. Mindestens fünfzehn historische Personen finden sich in der Auslegung (S. 84). Der Gottesknecht wird schon früh auf Jesus gedeutet, dann wiederum als Messias (z. B. Justin, 2. Jh.; S. 89-91), als König (S. 91-93) oder als Prophet (S. 93-99). Kollektive Deutungen weisen auf Israel, wie z. B. von Origenes im 3. Jh. vertreten (S. 99-100), oder auf das leidende Zion (S. 104-106). Um die überwiegende Tendenz hin zur Nichtbehinderung zu verdeutlichen listet Schipper auch Hinweise auf Behinderung im Hinblick auf den Messias oder den Gottesknecht auf (S. 85-89; darunter Lepra, Eunuchen-Status).

Es ist Schippers Verdienst in Kürze aufgezeigt zu haben, wie ein biblischer Text, hier Jesaja 53, eine ursprüngliche Nuance verlieren kann und in der Folge allerlei Deutungsrichtungen nimmt. Im Hinblick auf Behinderung ist dies besonders tragisch, da die „glokale“ Kirche einer inhärenten paternalistischen Tendenz der Bevormundung oder des Ausschlusses aktiv gegensteuern muss, um ihrer „inklusionierenden“ Wirkung, Kirche für Alle von Allen zu sein, gerecht zu werden.

 

Jesaja ; Hebräische Bibel ; Disability Studies ; Leiden ; Theodizee ; Heilung ; Missiologie ; Theologie

Rezension: Rispler-Chaim, Vardit 2007. Disability in Islamic Law

werner [at] forschungsstiftung.net

 

Vardit Rispler-Chaim ist Professorin für Arabistik (Sprache und Literatur) an der Universität von Haifa. Ihr Forschungsgebiet umfasst die rechtlichen Bestimmungen der islamischen Gesetzgebung sowie deren ethische Auswirkung. Ihre Publikationen beziehen sich auf praktische Rechtsgebiete wie Menschenrechte (1992), medizinische Ethik (1993), Frauenrechte (1995), genetische Forschung (1998), Abtreibung (1999) und Menschen mit körperlichen oder mentalen Einschränkungen (2007). Als Ertrag für die Missiologie erweitert ihre Forschung den Blick auf andere Religionen im Hinblick auf die dortige soziale Stellung und den ethischen Vorstellungen zu diesem letztgenannten Personenkreis.

Auf 96 Seiten beschreibt sie die islamische Rechtsprechung im Hinblick auf körperlich oder mental eingeschränkte Personen. Sie unterteilt in die Ausübung der religiösen Pflichten durch Menschen mit physischen oder psychischen Einschränkungen (S. 19-40), die Stellung derselben in Bezug auf den Dschihad (S. 41-46), die moralisch-ethische Stellungnahme zur Ehe im Hinblick auf behinderte Personen (S. 47-68), die rechtliche Wahrnehmung von intersexuellen Menschen (Hermaphroditen; khunta; S. 69-74) und zuletzt die willentliche oder unbewusste Verletzung/ Verstümmelung durch Menschen (S. 75-92). Ein ausführlicher Appendix enthält alle wichtigen Fatwas (verbindliche Rechtsauskunft) zu den genannten Bereichen (S. 97-134). Ein Index zu Behinderungen, zur verwendeten islamisch-arabischen Terminologie und zu den im Buch genannten Persönlichkeiten (S. 163-171) runden die Forschung ab.

In ihrer Einleitung geht Rispler-Chaim auf die Wahrnehmung von Menschen mit Einschränkungen im öffentlichen Raum und deren soziale Stellung im Hinblick auf die Menschenrechte ein. Sie bezieht die im religiösen Arabisch verwendeten islamischen Begrifflichkeiten auf gegenwärtig bekannte körperliche oder mentale Einschränkungen (S. 3-5; z. B. marid pl. marda „Kranker“ vs. marad „Krankheit“). Ihre ethisch-medizinische Debatte beruht auf dem weit verbreiteten medizinischen Modell in Disability Studies, sie ist sich aber des sozialen und kulturellen Modelles bewusst (S. 16-17). Ihre Forschung umfasst auch AIDS und intersexuelle Menschen (s.u.; S. 10, 17), zwei Bereiche zu denen es eine Menge Fatwas gibt. Homosexualität und AIDS gilt im Islam als Folge ethisch-moralischer Verwerfung.

Weltreligionen ähneln sich in ihrer gesellschaftlichen Struktur. Es gibt die Insider und Outsider, die frommen Laien und die religiös Verantwortlichen (Mönche, Klerikale etc.). Daneben generieren Menschen mit Einschränkungen in religiösen Menschen die Frage nach dem (Un-)Sinn des Lebens. Gott, Götter oder göttliche Kräfte müssen in Einklang mit der Abweichung vom Normalen gebracht werden (wie auch für Krankheiten und Katastrophen). Im Islam wird kausal die Ursache aller Abweichung in Allah begründet, gleichzeitig ist es am Gläubigen die Schuld nicht bei Allah, sondern bei sich selbst zu suchen (S. 8-9). Vernunft (kafa’a, ‚aql) spielt die Grundvoraussetzung, um den religiösen Ansprüchen der Religionsgemeinschaften nachzukommen (S. 20). Mangelnde Vernunft schließt aus der religiösen Verantwortung aus oder begrenzt diese (z. B. Führungsverantwortung; S. 25).

Rituelle Reinheit (tahara) bildet das Fundament der fünf islamischen religiösen Pflichten/Säulen: das Bekenntnis (wird nicht besprochen), fünfmaliges Gebet (30:17; S. 23-27), Fasten (S. 27-33), Pilgerfahrt (S. 34-37), Almosensteuer (S. 37-38).

Rituelle Waschungen zum Gebet basieren u.a. auf dem Qur‘anwort „In ihr [der Moschee. EW.] sind Leute, die sich gerne reinigen, und Allah liebt die sich Reinigenden“ (9:108; S. 19). Behinderte Personen können dem oft nicht nachkommen. Die islamische Rechtsprechung sieht deshalb Ausnahmen vor. Rispler-Chaim betont, dass jede islamische Rechtsschule hierzu ihre eigene Auslegung hat. Die Verletzung des rituellen Reinheitsgebotes betrifft vor allem die Verunreinigung durch Körperflüssigkeiten (Urin, Speichel, Blut, Menstruation, Sperma). Natürliche oder auch künstliche Ausgänge sind rein zu halten und während der Gebete, z. B. durch Tampon, Binde, medizinische Verschlüsse zu verschließen. Generell ausgenommen sind Menschen mit psychischen Beeinträchtigung, Epileptiker und Bewusstlose (S. 20). Die Hanafiten setzen erstgenannte mit Kindern gleich und gebieten ihnen die Waschungen. Findet ein Mensch mit Einschränkungen (z. B. Mobilitätseinschränkung) Hilfe für die Waschung darf er diese in Anspruch nehmen. Alternativ zu Wasser ist Sand möglich (spezieller Lehm, Dreck; S. 21, Fatwa 1996 von Mufti ‚Atiyya Saqr; 4:43; 5:6 und 2:267). Auch für die Gebetsbewegungen knien, stehen, liegen (rak’as) gibt es Ausnahmen und Empfehlungen, wie sich z. B. an die Wand oder Gegenstände anzulehnen. Das Pflichtgebet mit seinen Bewegungen wird per Fatwa als Rehabilitationsmaßnahme empfohlen (S. 27). Sheikh Muhammad Sayyid Tantawi (2000) ordnet die Übersetzung des Freitagsgebetes für Gehörlose durch Zeichensprache an, was heftige Gegenreaktionen auslöste, da dies alle Gläubigen ablenke (S. 2).

Eine Rolle als Imam ist für Personen mit körperlichen oder mentalen Einschränkungen nur begrenzt möglich (S. 25). Denkbar, jedoch nicht bevorzugt, sind Imame mit Einschränkungen für denjenigen Personenkreis dem sie angehören (Blindheit, Taubheit, Inkontinenz, Kastration).

Das Fasten wird Menschen mit Lähmungen generell nicht empfohlen, um das Herz zu schonen. Menschen mit Hautbeeinträchtigungen dagegen wird es als Rehabilitationsmaßnahme nahe gelegt (S. 33).

Die Pilgerreise ist nur für Menschen empfohlen, die keine Mobilitäts- und keine psychische Beeinträchtigung haben (z. B. 2:196). Wer die Pilgerreise mit Hilfsmitteln vollzieht, dabei krank wird oder nach der Reise seine Beeinträchtigung überwindet, für den ist sie nicht gültig und zu wiederholen (Mufti ‚Atiyya Saqr und ‚Abd al-Qadir in 1993).

Menschen mit physischen oder psychischen Beeinträchtigungen sind teilweise von der Almosensteuer ausgenommen. Sie werden dabei mit ebenfalls freigestellten Kindern verglichen (S. 38). Als Empfänger kommen vor allem mental Eingeschränkte unter dem Aspekt der Armut und Hilfsbedürftigkeit in den Genuss der Steuer (9:60).

Vom Dschihad sind laut Auslegung „die Blinden, Kranken und Krüppel“ (24:61) ausgenommen sowie psychisch Kranke (S. 42-43). Die Rechtsvorschriften sehen für Nicht-Muslime unter islamischer Herrschaft Ausnahmereglungen für behinderte Menschen vor, da sie unter „die Schwachen“ fallen und als ungefährlich gelten.

Rispler-Chaim bespricht Ehevoraussetzungen für Menschen mit körperlichen oder mentalen Einschränkungen, Unfruchtbarkeit und genetische Beeinträchtigungen (S. 59-61). Dabei wird in islamisch-soteriologischer Hinsicht Schönheit, Reichtum und Geburtsfähigkeit besonders belohnt (Gesundheit bleibt unerwähnt; S. 49-52), was Menschen mit Einschränkungen oft generell ausschließen. Da Adoption im Islam verboten ist, so Rispler-Chaim, sind medizinische Methoden zur Feststellung der Unfruchtbarkeit oder genetischer Defekte im Islam besonders gefragt (S. 60).

Sehr ausführlich geht Rispler-Chaim auf intersexuelle Menschen ein (S. 69-74). Geschlechtsumwandlungsoperationen werden von vielen Fatwas genehmigt, wenn der „Nutzen“ von Sachverständigen geprüft wurde (S. 73-74). Offen bleibt dabei was einen „ganzen“ Mann oder Frau auszeichnet.

Rispler-Chaims Forschung gibt tiefe Einblicke in ethisch-moralische Aspekte des Islam, die besonders durch den Umgang mit Menschen mit physischen oder psychischen Einschränkungen als soziale Indikatoren zutage treten.

Rezension: Yong, Amos 2011. The Bible, Disability, and the Church

werner [at] forschunginstitut.net

 

In der Missiologie, anders als im theologischen Bereich, sind die Disability Studies noch nicht angekommen. Die Disability Studies haben auf hermeneutischem und anthropologischem Gebiet Einfluss auf missiologische Themen (Gemeindebau, Bibelübersetzung, Evangelisation). Amos liefert als systematischer Theologe eine Inklusions-orientierte Ekklesiologie.

Er schreibt aus der Perspektive eines Theologen, dessen 10 Jahre jüngerer Bruder Mark mit Down Syndrom lebt (S. 1-5). Der Vater ist Pastor einer kleinen, lebendigen Gemeinde in Nordkalifornien (S. 2). Amos beschreibt kurz seine Beobachtungen zum Umgang der Eltern, der Gemeindemitglieder, fremden Menschen und auch Freunden mit seinem jüngeren Bruder. Ausführlich hat er das bereits in seiner lesenswerten ersten Publikation Theology and Down Syndrome: Reimagining Disability in Late Modernity (2007. Waco: Baylor University Press; Hinweis S. 5) getan. Die körperlichen Komplikationen von „Down-Syndrom“ kommen ebenso zur Sprache (S. 2-3), wie auch die gegenseitigen psychologisch-physischen Abhängigkeiten zwischen den Bezugspersonen (Pflegenden) und Mark (S. 3-4). Er  konzentriert sich in diesem Werk auf missiologisch interessante ekklesiologische und soziologische Fragen zu den Disability Studies.

Der Autor nimmt den Leser mit auf die Suche nach dem „theologischen Sinn“ von Disability / Behinderung (S. 5). Er ist sich dabei der kritischen, theologischen Insider-Stimmen bewusst, die in der biblischen Offenbarung eine Diskriminierung von Behinderten finden (S. 6; „Verweigerer“). Mit diesen ernstzunehmenden Stimmen setzt er sich kritisch auseinander. Amos möchte jedoch dieser Perspektive, die erlösende Hoffnung über die Erfahrung „Behinderung“ entgegen stellen (S. 6-7).

„Behinderung“ ist für Amos abgegrenzt zur „Krankheit“ und dem „Nicht-Behindert­sein“ (S. 9-10). Obwohl es offensichtlich keine klaren Grenzen gibt, kennen die Angesprochenen selbst eine klare Trennlinie. Wer behindert ist, merkt das sofort in der Ab- und Ausgrenzung von „Normalen“, definiert im eigenen „Anders-Sein“. Dieses, von außen angetragene, „Anders-Sein“ mündet auch in vielgestaltige Behindertenfeindlichkeit (ableism). Was aber wenn die christliche Gemeinschaft selbst solche Tendenzen nährt, wenn die Bibel selbst „behindertenfeindliche“ Schlüsse schürt oder solche aus ihr gezogen werden? Amos verlangt dem christlichen Leser hier einen ungeheuren Mut zur Selbstkritik ab (S. 11-12).

Drei Prämissen wirft Amos ins Feld, um trotz allgemein bestehender Vor-Urteile ergebnisorientiert zu argumentieren (S. 13): 1) Menschen mit Einschränkungen sind im Ebenbild Gottes gemacht (imago dei). Solches gilt insbesondere durch den Filter der Schwachheit in der Person Christi (imago Christi). 2) Menschen mit Einschränkungen sind in erster Linie „Menschen“ und erst in zweiter Hinsicht Menschen „mit Einschränkungen“. Ihnen alleine – nicht den „Normalen“ – steht es zu als Akteure über ihre Einschränkungen zu verfügen. 3) Physisch-psychische Einschränkungen sind noch präsentieren sie „das Böse“ (Sünde, satanische Einflüsse), oder zu eliminierende Schönheitsfehler.

Amos‘ Gradwanderung beginnt mit theologischen Betrachtungen zur Hebräischen Bibel. Deren kultischen (Reinheits-) Gesetze (z. B. Lev 21:17-23) spiegeln Gottes Vorstellungen zur Heiligkeit wieder. Priester mit Einschränkungen, werden erwähnt, jedoch von der Kultmitte, dem Opferdienst, ausgeschlossen (Zutritt ins Allerheiligstes). Ihnen sind bestimmte Dienste verboten, nicht aber die Teilhabe, wie z. B. das Essen der Opfer. Von den Verboten betroffen sind interessanterweise Menschen mit ästhetischen äußeren Einschränkungen (nicht Hör- oder sensorische Einschränkungen; S. 20). Deut 28:15-68 bietet einen breiten Aufriss über den kultischen und sozialen Ausschluss aufgrund von Behinderungen und Krankheiten. Amos reflektiert die gängigen jüdisch-christliche Kommentierungen (S. 23-29). Er setzt diese in den Kontext anderer alttestamentlicher Bezüge. So z. B. Jakobs Begegnung mit Gott, die zu einer Geh-Behinderung führt (Hüfte; S. 30-32), Mephiboschets (Sauls Enkel; S. 32-34) Lähmung und ausführlich Hiobs „Verunstaltungen“ (monstrosity; S. 35-40). Amos versucht den Umgang der Hebräischen Bibel mit Behinderung, unter dem Aspekt der „Klage“, in Anlehnung an die Psalmen, zusammen zu fassen (S. 40-47). Klage beinhaltet dabei die gemeinsame, suchende Seins-Anfrage an Gott, durch Menschen mit und ohne Einschränkung (Was willst Du, oh Gott, sagen?).

Im Hinblick auf das Neue Testament bedient sich Amos, bezüglich einer Klärung der Sinn-Frage, vor allem der Evangelien. Der blinde Mann (Joh 9; S. 50-57) oder dämonische Besessenheit (S. 61), immer geht die Vergebung von Sünden den Krankenheilungen voraus (S. 60-63). Sünde als solche und Behinderung / Krankheit, sowie Besessenheit, werden im biblischen Kontext in unmittelbare Nähe zueinander gesetzt. Amos benutzt die strikte Trennung von Heilung und Vergebung, wie sie Jesus lehrte, als Ansatzpunkt um diese drei Gebiete zu trennen. Er misstraut den herkömmlichen Interpretationen in gängigen Kommentaren, die keine klare Trennung treffen (S. 62-63).

Pfingsten wird für ihn der absolute Wendepunkt (ab S. 73). Heilung geht von der Berührung Gottes aus. Ab Pfingsten werden alle „Glaubenden“ von Gott, ohne jegliche Einschränkung, unmittelbar berührt (multisensory epistemology and holistic spirituality S. 78). Neben diesem Hineingenommen-Sein, von Menschen mit Einschränkungen, in den göttlichen Bund, geht Amos progressiv zu den paulinischen Texten über. Dort entwickelt er eine Inklusions-orientierte „Theologie der Schwäche“ (S. 88). Er leitet sie von der mutmaßlichen Schwäche oder Einschränkung des Apostels Paulus‘ ab. Hierauf baut er seine inklusive Theologie, die auf der Schwachheit der Kirche als Abbild der Schwachheit Christi fußt (Kapitel 4). Die Kirche selbst, wie ein inklusives Klassenzimmer, welches Menschen mit Einschränkungen genauso wie Hochbegabte und „Normale“ versammelt, repräsentiert eine ganzheitliche Körperschaft. „Miteinander“ profitiert man „voneinander“ und bildet dabei ein gesamtheitliches kirchliches Sozialwesen ab.

Im letzten Kapitel umschreibt Amos eine Inklusions-orientierte Ethik für die Kirche. Sie basiert auf a) dem „in allem mitfühlenden“ Hohepriester Jesus (Hebr 5), b) der für alle offenen Gastfreundschaft der Kirche zum Bankett (z. B. Lk 14:15-24), und c) der Herrschaft Gottes über alle und alles (Mt 25:31-46; S. 130-136).

Amos arbeitet ausgeglichen und abwägend auf einen Inklusions-orientierten theologischen Entwurf hin. Dieser betont den Sinn und Wert von Menschen mit Einschränkungen. Für die Missiologie, vor allem der Diakonie und Evangelisation, ergibt sich damit eine Möglichkeit zur aktiven bereichernden Teilhabe aller am Leib Christi. Kritisch ist seine positivistische Sicht biblischer Narrative und Perikopen zu werten, die den antiken, paternalistischen Ansatz im Umgang mit Menschen mit Einschränkungen (un-)bewusst übersieht. Es ist jedoch sein Verdienst, extreme Positionen zu kappen und einen Ausgleich zwischen Hilfsbedürftigen, ihrem Eigenwert und den Fürsorgebereiten zu treffen.

Kirchlicher Entwicklungsdienst in Zeiten politischer Umbrüche – Der »Orient« um die Jahrhundertwende (19./20. Jh.)

Ein historisch-postkolonialer Blick aus den Disability Studies auf soziale und wissenschaftliche Errungenschaften

 

Eberhard Werner

 

Abstrakt

In diesem Aufsatz wird der historische Diskurs um die christlich-islamische Annäherung im Orient um den Jahrhundertwechsel zum 20. Jh. hinsichtlich der Aufgabenstellungen für christliche Entwicklungshilfeorganisationen betrachtet. Die auftretenden Machtkonflikte stehen stellvertretend für den christlich-islamischen Diskurs dieser Zeit. Die sogenannten »Kontaktzonen« dieser Begegnungen fanden zu unterschiedlichen Epochen und in unterschiedlichen Lebensbereichen statt, weshalb die historische Analyse der »Kontaktzonen« bedeutsam ist. Untersucht wird die Entwicklung und Einflussnahme christlicher Entwicklungshilfeorganisationen und ihrer Akteure auf die damaligen politischen und religiösen Entfaltungen. Dabei werden folgende Schwerpunkte und Entwicklungen eingegrenzt und betrachtet: *Druckerzeugnisse und Bibelübersetzungen, *Bildungs- und Forschungsschwerpunkte, insbesondere von wissenschaftlichen Gesellschaften der Orientalistik, *die Bedeutung transnationaler zentraler Anlaufstellen, sogenannter Stationen, Schulen, Hospitäler, und zuletzt *der Diskurs um marginalisierte Bevölkerungsschichten und der Unterhalt von Waisenhäusern, Heimen und Anstalten. Im Rahmen der Disability Studies ist der integrative und inklusive Teilhabegedanken der Akteure von besonderem Interesse. Die Christoffel Blindenmission (CBM) mit ihrem pädagogisch-diakonischen Ansatz, gegründet 1907/1908 als Christliche Mission im Orient, bildet ein Beispiel der Betrachtungen. Der hier angewandte ethnographische Zugang weist über diachron-postkoloniale Diskurse auf diese als »Orient« bekannte Region. Sie umfasst Ostanatolien, West Iran, Nordirak und Nordsyrien.

1. Islamisch-christliche Diskurse im Orient – Historische Beobachtungen

Dieser Beitrag ist aus christlich-westlicher Perspektive verfasst. Im Rahmen eines intersubjektiven Zugangs ergänzen eigene Erfahrungen, Beobachtungen und Recherchen aus dem Forschungs­gebiet die historischen Fakten.

Im 19. Jh. gewinnt der »Orient« erneut an Zauber für die europäischen und amerikanischen Mächte. Dieser Welle ging eine ähnliche Faszination im 11–12. Jh. voraus. Sie wurde vor allem durch die politisch-religiösen kirchlich inszenierten militärischen Kampagnen (»Kreuzzüge«) sowie einigen Richtung Asien pilgernden Abenteurer angeregt (z. B. dem italienischen Marco Polo *1254–†1324). Aus dieser Zeit ist uns die Begegnung des Heiligen Franziskus (*1182–†1226) mit dem ägyptischen Sultan Al-Kamil Muhammad al-Malik (*1177–†1238) im Jahre 1219 überliefert. Deren Gespräche stehen für den Beginn des interreligiösen Dialogs zwischen Christentum und Islam. Entgegen dieses positiven Ereignisses muss diese Epoche auch als erste Welle kolonialistischer Bestrebungen des Westens im Orient betrachtet werden. Ihnen gingen islamisch-kolonialistische Bestrebungen im 8. Jh. voraus, die über Nordafrika bis nach Westeuropa reichten. Die »reconquista«, dt. Wiederbefreiung, der iberischen Halbinsel beendete die 780jährige islamische Herrschaft über Spanien und Portugal. Sie begann im Jahre 711 und endete 1492. Nach dem Fall Konstantinopels und der Byzantiner im Jahre 1453 durch den osmanischen Imperator Sultan Mehmed II. dem Eroberer (*1432–†1481), wendete sich der begehrliche Blick der west­lichen Mächte auf die Weltentdeckung bzw. -eroberung. Der Italiener Christoph Columbus (Genua; ~*1451–†1506) wurde das bekannteste Gesicht dieser Zeit.

Vor allem die anti-osmanische Stimmung der Reformation, ausgelöst durch die osmanischen Belagerungen Wiens in den Jahren 1529 durch Sultan Süleyman I. den Prächtigen (~*1494–†1566) und 1683 durch Großwesir Kara Mustafa Pascha (~*1634–†1683), die als »Türkenkriege« in die Geschichte eingingen, stellte den Tiefpunkt europäisch-osmanischer Beziehungen dar. Mit König Friedrich I. (*1657–†1713) kamen als osmanisches Ehrengeschenk zwanzig türkische Lanzer in das Heer der »Langen Kerle«. Zur Wohlbekundung wurden ihnen in Berlin eine islamische Gebetsstätte, ein Friedhof und eine islamische Gemeindegründung im Jahre 1739 erlaubt. Mit diesem Schritt, dem diplomatische Beziehungen vorausgingen, schlug man die politische Brücke nach Konstantinopel.

Im 19. Jh. begannen der American Board of Commissioners for Foreign Missions (ABCFM)1Gegründet im Jahre 1810 in Massachusetts als Folge des Second Awakening. Diese Institution ging ab 1957 auf in der United Church of Christ. und die British and Foreign Bible Society (BFBS)2Gegründet im Jahre 1804 in London durch William Wilberforce von den Clapham Heiligen oder Clapham Abspaltung (Spottname). Heute ansässig in Swinton/ UK. ihren Blick und die Arbeit auf den Orient zu konzentrieren. In dieser Zeit fällt auch das allgemeine Interesse christlich-diakonischer Organisationen an China (Hildesheimer Blindenmission) und dem Fernen Osten3Die Hildesheimer Blindenmission hat diesen Fokus und muss im Zusammenhang zu Hudson Taylors (*1832–†1905) China Inland Mission (heute Überseeische Missions­gemein­schaft) gesehen werden. Ausführlich Ortmann, Bernhard 2017. Die Hildesheimer Blindenmission in Hongkong: Blinde und sehbehinderte Kinder in Werk und Wahrnehmung einer Frauenmission, ca. 1890-1997. Stuttgart: Franz Steiner. (Christliche Mission im Orient, heute Christoffel Blindemission), fernerhin der christliche Dienst durch ledige Frauen sowie die medi­zi­nische Ausrichtung und die Herausbildung christlicher Entwicklungs­hilfeorganisationen. Dieser Artikel blickt auf Ostanatolien, den West–Iran, Nord­irak, Libanon und Nordsyrien. Damals hatten politische und ökonomische Kräfte sowie amerikanische christliche Entwicklungskräfte den Orient als opera­tiv-diakonisches Wirkungsfeld entdeckt.4Uta Zeuge-Buberl nennt das Jahr 1819 als Beginn der Tätigkeit des ABCFM im östlichen Teil des Osmanischen Reiches. 80 christliche Arbeiter mit ihren Familien ließen sich auf längere Zeit dort nieder (2017:13-14). Damals öffneten sich die Osmanischen Autoritäten den Westmächten, wobei in erster Linie Frankreich unter Napoleon Bonaparte mit den Osmanischen Herrschern kooperierte, Deutschland trat als militärische Schutzmacht und Amerika als neue Nation insbesondere für Erfindungsgeist und Neuentwicklungen in Erscheinung. Er trat in der westlichen Literatur, der Wissenschaft und der Politik als strategisches Forschungs- und Hand­lungsobjekt in den Vordergrund.5Karl Mays erfundene Reiseerzählungen spiegeln diese Zeit wider. Er verherrlicht entsprechend dieser Epoche den Orient im Durchs wilde Kurdistan [1881 endgültig 1892]. Interessanterweise bricht er unter der Last der Realitäten des Orients bei seinen späteren Reisen im Jahre 1899-1902 seelisch zusammen.Wie noch gezeigt wird, haben die akademische westliche Orientalistik, die Ägyptologie, die Iranistik und auch die Islam- und Religionswissenschaften ihren Ursprung in dieser geschichtlichen Periode.

Die Basler Mission wurde im Jahre 1829 von Robert Pinkerton gefragt, ob sie nicht eine Arbeit im Orient unter »Kurden«6Die Begriffe »Kurde«, »Kurdistan« oder »kurdisch« bezeichnen ein politisches, ethnisches und religiöses Konglomerat von Völkern und Sprachgruppen. Sie sammeln sich um das Taurus- und Zagros-Gebirge, den westiranischen Hochebenen, dem nordsyrischen Wüstengebiet und dem Nordirak. Eine Theorie besagt, dass die Bezeichnung vom Knirschgeräusch »kurr, kurr, kurr« beim Durchlaufen des Schnees stamme. Entscheidend ist, dass weder die Völkergemeinschaft noch die »Kurden« selbst bis heute ein Staatsgebilde ihr Eigen nennen oder ihnen, außer im Nordirak (Sorani-Gebiet), autonomes Herrschen möglich wäre. beginnen wolle. Er selbst war ein in Russland tätiges Mitglied der British and Foreign Bible Society (gegr. 1804). Die Mitarbeiter Christian Gottlieb Hoernle (*1804-unbek.; Ludwigsburg/ Süddeutschland) und F. E. Schneider kamen 1834 in Tabriz an. Später stießen Christian Friedrick Hass [*1801] und Asahel Grant zu ihnen. Sie gehörten dem ABCFM an. Dieser war 1810 gegründet worden und seit 1870 eine kongregationalistische Körperschaft, die sich ab 1957 in die United Church of Christ integrierte. Von Anfang an war der ABCFM eng liiert mit dem Presbyterian Board of Foreign Mission (gegr. 1837), heute Presbyterian Mission Agency. Hoernle gab nach zweimaliger Reise durch das Gebiet »Kurdistan« das Projekt aufgrund linguistischer, rassenideologischer7Die ideologische Rassenlehre hatte im 19. und 20. Jh. ihren Höhepunkt. Aufgrund des Nationalsozialismus und dem damit einhergehenden Missbrauch geriet sie ins wissenschaftliche Aus. Erst aufgrund der wissenschaftlichen Möglichkeiten der 1980er Jahre des letzten Jahrhunderts, insbesondere die DNA und die Gene zu analysieren, findet die genetisch-bedingte Rassen- und Abstammungslehre im wissenschaftlichen Raum, vor allem in der Kulturanthropologie und der Archäologie sowie der Forensik wieder neu Gehör (D’Andrade 1995:1-2 biological anthropology). und logistischer Herausforderungen auf. Er nannte folgende seiner Meinung nach unlösbaren Herausforderungen:

  • die Völker-, Sprachen- und Dialektvielfalt Ostanatoliens (Armenisch, Türkisch, Kurmanji, Zazaki, Domari, Lazisch, Lom etc.),
  • das historische Gewalten- und Mächtepotential. Insbesondere folgende politische Kon­stellationen: das Großreich Armenien, die Region Kurdistan, die russische Besatzung sowie die Kolonialbesatzung Italiens, Frankreichs und Großbritan­niens,
  • die Eigenart tribaler kurdischer Völker, die innerhalb ihrer Stämme und Clans als Nomaden und Räuber ihre Umgebung durchstreiften. Sie galten als unerziehbar. Zuletzt
  • das geografisch schwer zugängliche und klimatisch herausfordernde Operationsgebiet: Hohe Bergketten (z. B. Taurus, Nemrut), tiefe Fluss- und Bachläufe (Euphrat, Tigris, Pulumur, Murat) und Hochebenen mit gefährlichen Höhlen, Einschnitten und Muränen (Blincoe 1998:37 er beruft sich auf Waldburger 1983).

Gleichzeitig reisten im Jahre 1830 die christlichen Entwicklungshelfer Eli Smith und Harrison Gray Otis Dwight (ABCFM) von Smyrna (heutiges Izmir) ins Innere Anatoliens und bis nach Ostanatolien (:30). Unmittelbar nach dieser Entdeckung des Orients, kam eine ganze Welle westlicher christlicher Entwicklungs­helfer in dieses Gebiet. Sie verstanden sich selbst als »Botschafter Christi« (ambassadors for Christ) nach 2Kor 5:20 und werden heute in der Geschichts­forschung als »Kulturvermittler« oder »kulturelle Mittler« bezeichnet, da sie kulturelle Informationen von einem Kulturkreis in einen anderen und zurück vermittelten (Zeuge-Buberl 2017:16). Die osmanischen Hoheiten und die Führer der lokalen ethnischen Volksgruppen bezeichneten sie als christliche »Missionare«. Der Begriff fand von da an eine bis heute andauernde negative Konnotation, die mit »Imperialist, Faschist, Eindringling, Staatsfeind, Spion« oder ähnlichem einhergeht.8Interessanterweise findet sich im öffentlichen Raum in der Türkei der englische Begriff »mission« dt. Mission wertneutral im Sinne von Auftrag/ Aufgabe. Website-Auftritte oder Beschreibungen türkischer Institutionen benutzen den Begriff zusammen mit engl. »vision«“ dt. Vision/ Zielsetzung. Im Gegensatz dazu benutzt und definiert die Wahlpropaganda türkischer Politiker den türk. Begriff »missionarlar«, dt. Missionare, auf ihren Werbeplakaten als staatsfeindliche Elemente (eigene Beobachtungen). Dies ist ein wesentlicher Unterschied zum afrikanischen oder fernöstlichen Kontext, wo die Wahrnehmung christlich-kirchlicher Entwicklungshilfedienste und ihrer Akteure eher positiv aufgenommen wurde. Emische (Insider-Perspektive) und etische (Perspektive von außen) postkoloniale Studien setzen an diesem Punkt sehr verschieden an. Der von christlichen Akteuren im Kontext des historischen Entwicklungsdienstes vertretene Kulturimperialismus (cultural imperialism) wird in der Forschung als westlich-christliche Arroganz gewertet, die darauf setzt, dass die westliche ökonomische, militärische und humanistische Überlegenheit auf dem Fundament des Christentums ruhe.

Das anfängliche Interesse am Islam ging zwar nicht verloren, entwich aber mehreren Ventilen. Dies hatte unterschiedliche, mindestens aber zwei Hauptgründe: Zum einen traf die Selbstwahrnehmung der moslemischen Herrscher und Bevölkerung als dem Westen überlegen, die christlichen Arbeiter tief in deren kulturimperialistischen Ansatz. Die eigene Überlegenheit christ­licher Werte wurde in ihrer Grundfeste erschüttert. Zum zweiten war das in aller Härte verfolgte Konvertierungsverbot der islamischen Herrscher eine riesige Hürde. So richtete sich der Fokus auf die jüdische sowie die nicht-islamische Bevölkerung und speziell auf die christlichen Völker (Armenier, Aramäer) und Volksgruppen (Nestorianer, russisch-orthodoxe, Georgier) im Bereich Ostanatolien, des heutigen Libanon, Nordsyrien, des Irak und Persien. Der anfängliche Dialog mit der jüdischen Bevölkerung blieb ebenso fruchtlos wie auch mit den Moslems. Bei den christlichen Völkern und Volksgruppen regte sich Hoffnung auf Befreiung vom Joch des Islam, insbesondere der Steuer- und Abgabe­lasten, die der dhimmi-Status, als geduldete Mitbürger im Raum des dar as Salam »Haus des Islam« mit sich brachte. Sie öffneten sich deshalb zuerst den westlichen Kulturvermittlern. Doch schon früh fürchteten die Kirchen­obersten den Zerfall eigener Strukturen. Als »(Neu-)Nestorianer« bezeichnet, bildeten sich lokale Kirchen nach westlichem Muster. Sie sonderten sich von den angestammten Kirchen ab (Blincoe 1998:33, 35). Insbesondere die armenisch-orthodoxe Kirche, die assyrischen Kirchen und die Nestorianer ergriffen Abwehrmaßnahmen bis hin zur Anrufung der osmanischen Autoritäten. Gleichzeitig ahnten die islamischen Völker (Kurden, Lazen, Zaza) eine Bedrohung durch eine Machtzunahme ihrer christlichen Nachbarn.

Die kurdischen Führer gerieten zudem in politischen Konflikt mit den osmanischen Machthabern in Konstantinopel (erst 1930 offiziell Istanbul). Seit 1840 machte nämlich die Hohe Pforte (Herrscherhaus in Konstantinopel) ihren Einfluss im Osten durch den Telegraphen und strategisch platzierte militärische Stützpunkte unmittelbar geltend. Die Selbstbereicherung kurdischer (»mir«) und armenischer (»raya«) Stammesherrscher wurde beschnitten. Die von Kurden betriebene, oftmals sklavenähnliche Unterdrückung christlicher Minderheiten wurde unterbunden (Kieser 2000:120), da diese in Folge der tanzimat-Reformen des Jahres 1839 als staatlich souveränes millet (dt. »Volk«) unter dem Schutz der Hohen Pforte standen (zum Problemfeld siehe unten). Die so entstandenen »Kontaktzonen« (contact zones) bildeten Reibungsflächen unterschiedlichster Interessen und Machtpotentiale (Pratt 1991:34)9Pratt, Marie Louise 1991. Arts of the Contact Zone. Profession. Modern Language Association of America 19, 33–40. New York: MLA..

2. Zermalmt zwischen politischen Kräften – Politisch-ethnische Diskurse

Erstaunlich ist, dass trotz politischer Instabilität in diesen Regionen sich christliche Kulturvermittler im Rahmen des kirchlichen Entwicklungsdienstes um inklusive pädagogische Ansätze verdingten. Pfarrer Ernst Lohmann (*1860–†1936; Deutscher Hilfsbund gegr. 1896), Dr. Johannes Lepsius (*1858–†1926; Deutsche Orientmission – DOM gegr. 1895 und Lepsius Deutsche Orientmission – LDOM gegr. 1917) sowie der Schweizer Hilfsbund hatten schon Waisenhäuser im Osmanischen Reich unter pädagogischen Gesichtspunkten gegründet. In diese Zeit fällt auch die Arbeit der Geschwister Christoffel. Der politische Diskurs um das Einsatzgebiet der Christlichen Mission im Orient (gegr. 1908), die nach dem Tod Ernst Jakob Christoffels (*1876–†1955) in Christoffel Blindenmission (CBM) umbenannt wurde, kann nicht verstanden werden, ohne die damaligen, und bis heute andauernden Konfliktpotentiale anzureißen. Insbesondere die Entwicklungen um das zerfallende Osmanische Reich ab der Mitte des 19. Jh. sind bedeutsam. Hierzu gehören die sogenannte politische »Kurdenfrage« und das religiöse Problemfeld der »Aleviten«, einer zoroastrisch-gnostischen Glaubensrichtung, die sich aus türkischen, kurdischen und zazaischen Anhängern zusammensetzt. Diese beiden, bis heute ungelösten Herausforderungen aus osmanischen Zeiten, bilden die Ausgangslage für die Begegnung der Machtparteien in Ostanatolien. Beide Fragen werden zu politisch-religiösen, da sie eine ethnische Differenzierung und religiöse Freiheit fordern. Diese Freiheiten zu geben, waren die Autoritäten sowohl im Osmanischen Reich (Konstantinopel), mit der damaligen millet-Lösung (s. tanzimat-Reformen unten), wie auch in der modernen zentralistisch geführten türkischen Republik (Ankara), nur bedingt bereit. Wie es dazu kam und wieso die christliche Entwicklungshilfe dort hinein wirkte soll nun betrachtet werden.

Die zahlreichen »kurdischen« Aufstände machen dies deutlich. Es sind vor allem die christlichen Kulturvermittler, die biographisch als Zeitzeugen von diesen Ereignissen berichteten. Organisatorisch zählen hierzu der ABCFM, der eng mit dem Presbyterian Board of Foreign Mission (siehe oben) kooperierte, die BFBS und später diejenigen deutschen christlichen Werke, die den Orient fokussierten.10Zur positiven Auswirkung christlicher Dienste weltweit und historisch siehe Kieser (2000:24) in 7 Thesen oder auch Zeuge-Buberl (2017:16-17, 26).

Die moderne Periode der Rebellionen beginnt mit Bedr Khan (Bedri Khan/ Bedr Khan/ Bedir Khan; *1803–†1868). Er wurde berühmt für ein von ihm entwickeltes Alphabet der kurdischen Sprachen Kurmanji und Sorani. Seine Bemühungen waren rein politischer Natur, also weniger kurdisch-nationa­l­istisch als vielmehr an tribalistischer Machtzunahme und Einflussnahme orientiert (Heper 2007:44–45). In Absprache mit der osmanischen Führung verantwortet er zusammen mit Nurallah aus Hakkari und Agha Ismael Pasha aus Amadiya zwei Massaker gegen die christlichen Assyrer im Raum Mosul und nördlich davon im heutigen türkischen Mardin. Zuerst im Jahre 1843 und dann im Jahre 1846 werden über 10.000 christliche Assyrer hingerichtet. Aus dieser Zeit berichten die presbyterianischen Entwicklungs­helfer Justin Perkins and Asahel Grant (Blincoe 1998:15).

Im Jahre 1880 rief Scheich Ubeydullah (*1826–†1883) zur Gründung eines islamischen Kaliphates unter kurdischer Führung im Gebiet um Şemdinan, Provinz Hakkari, auf (Kieser 2000:127–132). Sein national-kurdischer Aufstand gründete auf einer religiösen Eschatologie naher Heilserfüllung (Olson 1989:1–2).11Eschatologische Gerichts- und Heilsdeutungen sind Teil abrahamitischer Religionen. Naherwartungen, Heilsversprechen und das Auftreten charismatischer Führer, die als Messias, Mahdi oder Prophet in Erscheinung treten, finden sich sowohl in der jüdischen, der christlichen als auch der islamischen Geschichtsschreibung. Jüngst war es ISIS/ Daesh, die solche religiösen Heilsversprechen politisch zu ihrem Vorteil nutzten. Nicht immer müssen diese Bewegungen blutig oder militärisch ablaufen, sie sind jedoch immer exklusiv in ihrem Auftreten (z. B. Zeugen Jehovah, Jesuiten, Chassiden, Mewlana, Ahle Haqq). Er war eine Reaktion auf politische Machtveränderungen. Sultan Mahmud II. (*1784–†1839) und sein reformbegeisterter Sohn Sultan Abdulmejid I. (*1823–1861) generierten die durch die Aufklärung bewegten tanzimat-Erlasse (türk. „Reorganisation“) im Hinblick auf eine Modernisierung. Sie galten von 1839 bis 1876 und endeten mit der ersten konstitutionellen Epoche. Sultan Abdulhamid II. (Abd ul Hamid II. bei Renz 1985:66) richtet sie an einem islamisch-religiösen Kurs aus (Kieser 2000:120-121; Heper 2007:44). Das Einflussgebiet Ubeydullahs reichte von der heutigen Region Hakkari, Van- und Urmia-See bis in die Nordprovinzen Iraks.12Diese Region wurde im Übergang vom Osmanischen Reich zur türkischen Republik 1919–1920 von dem kurdischen Separatisten Simko Schikak geführt und in den Nachwirkungen des Zweiten Weltkrieges für wenige Monate des Jahres 1946 als kurdische Republik Mahabad ausgerufen. Er war eine Führungspersönlichkeit aus dem bis heute einflussreichen sunnitischen Nakshebendi-Orden. Dieser kann bis ins 15. Jh. zurückgeführt werden, er erreichte aber seine Blüte im 19. Jh. (Bruinessen 1992:273-274; Levtzion 1997:150-151). In 1881 ergab Scheich Ubeydullah sich den Osmanischen Autoritäten und kam ins westliche Exil nach Istanbul und anderswo (Olson 1989). Der christliche medizinische Entwicklungshelfer Dr. Joseph Cochran vom Presbyterian Board of Foreign Mission zeugte von dieser Zeit, da er als dessen Leibarzt, wenn auch nicht mit Scheich Ubeydallahs Politik einig, im engen Austausch stand (Kieser 2000:129). Es war bei den Machthabern Usus und hatte auch einen gewissen Schick sich ausländischer oder nicht-islamischer Fachkräfte zu bedienen. Um das Konfliktpotential zwischen kurdischen und osmanischen Kräften auszugleichen, gründeten die Osmanen unter Kalif Abdulhamid II. (*1842–†1918) ab 1878 die »leichte Kavallerie«. Sie hießen in Anlehnung an den Namen des Kalifen »Hamidiye«–Einheiten. Als Eliteeinheiten konnten sie sich direkt auf ihn berufen. Sie waren organisatorisch größeren osmanischen Einheiten zugeordnet, bestanden aber zum Teil aus relativ autonomen kurdischen Militärs (Olson 1989:7–13, 18–19). Diese Einheiten waren es auch, die wesentlich die Massaker an den Armeniern, den christlichen und nicht-islamischen Volksgruppen (Aramäer, Griechen, Yeziden, Aleviten) austrugen, koordinierten und initiierten.

In 1918–1922 kam es westlich des Urmia-See im Iran zur ersten politisch motivierten »kurdischen« sogenannten Simko Shikak Revolte. Gleichzeitig entbrannte in der noch nicht etablierten Türkischen Republik, in den Provinzen Sivas, Tunceli (früher Dêsim/ Dersim), und Erzincan, dem alevitischen Dreieck, ein Konflikt mit den herrschenden sunnitisch–islamischen Moslems. Als Folge des Vakuums der beendeten kolonialen Besatzung13Festgehalten im Vertrag von Sèvres festgehalten am 10. August 1920. kam es zur politischen Instabilität. Im Jahre 1921 entbrannte dort die religiös motivierte alevitische Kızılbaş Koçgiri Revolte, auch Ümraniye Hadisesi (dt. Vorfall von Ümraniye) genannt (1989:32, 35-38).14Türk. Kızılbaş heißt »Rotkopf« und soll von der roten alevitischen Kopfbedeckung stammen. Sie hatte die politischen Querelen im Übergang zur Türkischen Republik (1923) als Hintergrund. Nuri Dersimi (Dêsimi), war ihr bekanntester Vertreter (Olson 1989:28-29).

Dieser von zazaischen Aleviten initiierte Aufstand wurde blutigst niedergeschlagen und bildete die Grundlage für den sogenannten zaz. tertele (dt. »Aufruhr«), welcher 1938 zur Vernichtung und Verwüstung von zahllosen Dörfern und ganzen Landstrichen um das heutige Tunceli führte. Ihm folgten ab 1938 Massenvertreibungen, die Etablierung von staatlich bezahlten »Dorfwächtern« (Einheimische) und dauerhafte lokale türkische, auch militärische Präsenz. Dieser Aufstand brannte sich in das kollektive Gedächtnis der alevitischen Zaza und wurde unter Pir Reza/ Rıza ausgeführt (Kieser 2000:20; zaz. pir dt. „Ältester“). Politisch endete damals die Ära des Staatsgründers Mustafa Kemal Atatürk (*1881–†1938) und Unsicherheit machte sich breit.

Dazwischen kam es zum sunnitisch geprägten kurdisch-zazaischen Scheich Said Aufstand im Jahre 1925. Dieser religiös initiierte Aufstand muss als Kräftemessen mit der neu etablierten türkischen Republik und dem untergegangen ebenfalls sunnitischen osmanischen Kaliphat verstanden werden. Das Kaliphat sollte unter kurdischer Führung wiedereingeführt werden.15Die neueste Parallele findet sich in der territorialen Gründung des inzwischen besiegten Islamischen Staates Irak und Syrien (ISIS) durch die gleichnamige Organisation, auch als DAESH bekannt. Deren Territorialansprüche im Grenzgebiet des Nordirak zu Ostsyrien umfassen ebenfalls Siedlungsgebiete der Kurmanji und Sorani sprechenden Kurden. Auch hier hatte der Nakshebendi-Orden seinen Einfluss geltend gemacht. Der Aufstand wurde ebenfalls blutigst niedergeschlagen. Er ging wesentlich von Zaza-Kräften aus, die sich mit anderen kurdischen Stämmen verbündeten, welche sich aber gegen Ende der Revolte abwandten (Olson 1989:35). Den sunnitischen Zaza (Hanifi, Shafi) geriet er zum Symbol des Widerstandes und der Niederlage. Ausländische Berichterstatter und christliche Kulturvermittler waren aufgrund der Weltkriegsereignisse nicht vor Ort oder konnten sich nicht öffentlich äußern. Das Reiseverbot in Ostanatolien hatte auch Ernst Jakob Christoffel getroffen, der nach Tabriz und Isfahan auswich. Angefangen hatte er mit seiner jüngeren Schwester Hedwig Christoffel, sie zog mit ihm als Ersatz für eine damals geforderte Ehefrau, mit einem mehr als 2-jährigen Einsatz in einem Waisenhaus in Sivas (1904 – 1907) unter Leitung des Schweizer Hülfsbundes. Ab 1908 richteten beide ihren Fokus auf sehbeeinträchtigte Waisen in Malatya. Alle pädagogischen Hilfsmittel zur Ausbildung dieses Personenkreises, wie ein türkisches oder armenisches Braillealphabet und Lesematerial wurden von ihnen entwickelt.

Die türkischen Militärputsche 1960,16Im Jahre 1961 kam noch die deutsche Anwerbung türkischer »Gast-Arbeiter« aus Ostanatolien hinzu. 1980 und der sogenannte leise Aufstand 1994 wie auch das als Putsch bezeichnete Ereignis 2016 brachten die Konfliktbereiche erneut in den Vordergrund. Die eintretenden Repressionen führten, wie schon früher zu aramäischen, assyrischen, kurdischen und alevitischen Abwanderungswellen nach Deutschland, Schweden, der Schweiz, den USA und Australien. Diese Reihenfolge beschreibt die Beliebtheit der Migrationsziele. Wie sich diese Aufstände auf die christlichen Organisationen und Arbeiter auswirkte, tritt nun ins Blickfeld.

3. Drei Stoßrichtungen christlicher Entwicklungsdienste im Orient

Das Druckwesen (1), die Forschungsanstalten (2) und die Schulen als pädagogische Zentren (3) repräsentieren die Stoßrichtungen christlicher Entwicklungshilfeorganisationen im 19. und 20. Jh. Der ABCFM hatte sich zuerst auf zentral angelegte Stationen konzentriert. Dem Vorbild militärisch-ökonomischer kolonialer Expansion folgend, wurden Vor- und Außenposten eingerichtet. Sie hatten die medizinische Versorgung und die (Aus-)Bildung hilfesuchender Einheimischer zur Aufgabe. Sie waren in ein strategisches Versorgungs-Netzwerk eingebunden. Dem jüdischen Gesetz (Hebräische Bibel) und dem Neuen Testament folgend stand die soziale Gerechtigkeit vor allem für Waisen, Frauen und marginalisierten Gruppen im Vordergrund. Das Netzwerk folgte dem westlichen Gedanken der Ortskirche, welcher wiederum dem mittelalterlichen Mönchs- und Klosterwesen entsprang. In Afrika und Asien etablierte sich dieses koloniale Expansionswesen, fand jedoch im Orient keinen Zuspruch. Betrachtet man den sozialen Diskurs der zentralen Stationen, so zeigt sich, dass im Orient das soziale Netzwerk durch die militärisch und ökonomisch verknüpfte »Karawanserei«, als Mitte des sozialen Lebens erfüllt wurde. Um sie herum entwickelte sich das religiöse (Moschee, cem-evi dt. »Gemeinschaftshaus«) und ökonomische Treiben (Han­dels­zentren). Die christlichen Ansätze blieben Fremdkörper. Im Laufe der Zeit etablierte sich die medizinische und pädagogische Idee, jedoch kam der ge­sell­schaftsdurchdringende ganzheitliche Ansatz nur bedingt zum Tragen. Hier traf das Waisenhaus, die Gründung von Anstalten für Menschen mit körper­lichen oder mentalen Einschränkungen oder der Unterhalt von Schulen den Nerv diakonischer lokaler Bedürfnisse besser. Namentlich der Schweize­ri­sche Hilfsbund, die Deutsche Orientmission (Dr. Lepsius) oder die Heime von Christoffel sind aufgrund ihres Zielgruppen-Ansatzes (Homogenous Unit Principle nach McGavran 199017Das Homogenous Unit Principle (HUP) wurde von McGavran damit begründet, dass homogene Gruppen nach Sprache, Kultur, Traditionen, Brauchtum und Sitte am besten mit einem kontextualisierten Evangelium zu erreichen seien. Vor allem David Bosch witterte hier einen verborgenen Rassismus und lehnte das Prinzip vehement ab (Frost & Hirsch 2004:51-52). Heutzutage zeigt sich aber gerade, dass der Traum heterogener Gesellschafts-durchdringender Gemeinden oder Kirchen ein Wunschtraum ist. Bis auf sogenannte »sozialen Unschärfen«, das sind 2–4% der Gemeindemitglieder, die aus Neugier, enger Personenbindung oder auch Abenteuerlust die eigene soziale Gruppe für bestimmte Anlässe verlassen, spiegeln die jeweiligen Denominationen ihre Peer Group wieder. Sei es die Mittelschicht etablierter Gemeinden (Brüdergemeinden, Mennoniten, Baptisten, Gnadauer Verband etc.) die junge Generation in speziellen Zielgruppen­gemeinden (ICF, Jesus Freaks) oder auch die Landeskirchen nach ihren verschiedenen Organisationen (CVJM, Pfadfinder).) von Bedeutung.

Aufgrund der mangelnden Resonanz der lokalen Bevölkerungen auf die Stationen blieben nur das Druckwesen zur Verbreitung von (religiösen) Druckerzeugnissen, die Schulen und medi­zi­nische Einrichtungen bestehen. Die Schulen waren von nachhaltiger Wirkung und einige wurden im 20. Jh. in das nationale Schulsystem als professionelle Institutionen überführt (siehe unten). Die angeregten sozialen, politischen und religiösen Impulse können nur erahnt werden.

Wenig ist aus dieser Zeit vom sozialen Diskurs der Menschen mit körperlicher oder mentaler Einschränkung bekannt. Weder, wie sie in der gesellschaftlichen Breite wahr­genommen wurden, noch wie die christlichen Einrichtungen und Organisationen ihnen begegneten, noch erfahren wir von behinderten christlichen Arbeitern des ABCFM, BFBS oder anderen Einrichtungen. Rein statistisch18Es ist davon auszugehen, dass im Durchschnitt 5–10% der Bevölkerung mit Behinderungen leben. Hierzu hat die UNESCO über Jahre Statistiken veröffentlicht. und aufgrund der vielen Kriege und der damaligen beschränkten medizi­ni­schen Möglichkeiten, muss es sich um eine vielleicht unbewusste Verdrängung dieser für die Disability Studies interessanten Fragestellung handeln.

Der inkludierende Blick der pädagogisch-diakonischen Entwicklungshilfe auf Menschen mit visuellen, körperlichen und mentalen Einschränkungen hatte gesamtgesellschaftliche Folgen, die sich jedoch aufgrund der politischen Umbrüche als wenig nachhaltig erwiesen. Aus persönlichen Erzählungen der Nachfolgegenerationen wird die hohe Achtung deutlich, die man diesen Einrichtungen auf lange Zeit zollte (s. Schule in Çüngüş ca. 100 km südöstlich von Malatya, persönliches Interview mit Mahmoud H. 2010).

Wir finden in Christoffels Lebenswerk den Fokus auf diese pädagogische Linie christlicher Entwicklungshilfe. Ebenso folgt er dem Prinzip der Internatsschule, das heißt einer ganzheitlichen Einrichtung im Sinne einer Dienstleistungsanstalt. Hier steht Christoffel ganz in der diakonischen Tradition der christlichen Entwicklungshilfe des 19. und 20. Jh. Zwangsläufig orientierte sich die damalige Arbeit, bedingt durch die Gräueltaten der Machthaber, zunehmend auf die nicht-islamischen Volksgruppen im Orient.

Dem von ihm angeprangerten Kulturimperialismus der amerikanischen Einrichtungen hatten diese schon Mitte des 19. Jh. eine antikolonialistische Engführung ihres Ansatzes auf das Predigen entgegen gesetzt (Zeuge-Buberl 2017:16-17). Doch schien dies für deren Kollegen aus anderen Nationen nicht eindeutig erkennbar. An diesem Punkt darf auch nicht verkannt werden, dass die »amerikanische Kultur« aus ihrer Geschichte heraus eine pluralistisch–heterogene ist und es gravierende Unterschiede zu den ebenfalls vielschichtigen »deutschen Lebenswelten« gibt (z. B. interkulturelle Teams bei Roembke 2000:14, 21 u.a.).

Betrachtet man die Anstrengungen des ABCFM (heutiges Syrien), der American Bible Society (ABS), der London Religious Tract Society, der American Tract Society oder der BFBS, dann werden anfangs die Literaturverbreitung über Druckpressen insbesondere im Türkischen und Arabischen bevorzugt (Zeuge-Buberl 2017:42). Langsam gehen diese Druckpressen in heimische Hände über und bilden die Grundlage für lokale Zeitungen und Druckerzeugnisse. Es kann mit Recht summiert werden, dass die Verschriftung und die Verbreitung von Schriftmaterial in den Handelssprachen der herrschenden Völker im Orient durch die Einwirkung christlicher Kulturvermittler im 19. Jh. vorangetrieben wurde.

4. Forschungsgesellschaften – Vorbereitung pädagogischer Einrichtungen

Vor dem digitalen Zeitalter war die Grundlage eines pädagogischen Ansatzes die Möglichkeit der Verschriftung und der Verbreitung von Wissen über Druckerzeugnisse. Eine Voraussetzung die sich anbahnte. Ab 1840 richtet sich der Blick der Entwicklungshilfeorganisationen auf wissen­schaft­liche Forschungsgesellschaften. Hierzu zählen die American Oriental Society (1842; Sitz in Ann Arbour), Syro-Egyptian Society19Gegründet 1844 in London, ab 1872 vereinigt mit der Society of Biblical Archaeology aus dem Jahre 1870, die im Jahr 1919 ihre Arbeit einstellte., Deutsche Morgen­ländische Gesellschaft (1845 in Leipzig, seit 2006 in Halle) und die Syrien Society of Literature and Arts (1847 in Beirut; Zeuge-Buberl 2017:79–81). Später kommt noch die Deutsche Orient-Gesellschaft (1898 in Berlin) hinzu. Die Idee ist es auf lokaler Ebene Bildung, Forschung und Wissenschaft vor allem auf Türkisch und Arabisch anzuregen. Gleichzeitig sollten im Sinne eines anthro­pologisch-linguistischen und ethnologischen Zuganges die Kulturen und Sprachen des Orients dem westlichen Publikum näher gebracht werden. Diese der Orientalistik, Arabistik und Iranistik verpflichteten Forschungsgesell­schaf­ten sind bis zum heutigen Tage aktiv. Auch universitäre Einrichtungen bilden sich in dieser Zeit heraus. So zum Beispiel das im Jahre 1839 gegründete Robert College, welches 1971 in die Boğazıcı University übergeht (Kieser 2000:101). Spätestens mit der staatlichen Übernahme und Leitung durch heimische Kräfte verlieren diese Institutionen ihre diakonisch-christliche Ausrichtung.

5. Fokus Disability Studies – Waisen und Menschen mit Einschränkung

Ab den neunziger Jahren des 19. Jh. nahm der ABCFM durch Waisenhäuser in Verbindung mit Schulen seine Arbeit in Ostanatolien auf. Ab 1896 waren auch deutsche Entwicklungshelfer der Deutschen Orient-Mission (Friesdorf/ Harz) von Dr. Lepsius (Damianov 2003:24) vor Ort tätig.20Dr. Lepsius war an der Gründung des Hilfsbundes und der Deutschen Orient-Mission im Jahre 1896 beteiligt. Im Jahre 1917 stieg Dr. Lepsius aufgrund des Schweigens und der Haltung der DOM zum Armeniergenozid aus und gründete die Dr. Lepsius Deutsche Orientmission (LDOM). Man grenzte sich von evangelistisch ansetzenden Entwicklungshelfern wie Pastor Wilhelm Faber ab. Dessen Arbeitsgebiet war unter der jüdischen und muslimischen Bevölkerung angesiedelt. Vielmehr traten die Diakonie und der Liebesdienst unter den alteingesessenen Kirchen, vor allem den verfolgten Armeniern, in den Vordergrund. Mit Ernst Lohmann und Dr. Lepsius trat 1896 der Deutsche Hülfsbund für christliches Liebeswerk im Orient in die gleichen Fußstapfen. Die hamidischen Massaker an den Armeniern (1894–1896), benannt nach dem Sultan Abd ul Hamid II., hatten den Fokus vieler westlicher Entwicklungshilfe­organi­sationen augenblicklich auf die Bedürfnisse der fliehenden, entwurzelten, dahin­siechenden armenischen Bevölkerung und dort besonders auf die Kinder, Waisen und hilflosen Personen fallen lassen. Tessa Hofmann beschreibt das kollektive armenische Gedächtnis dieser sowie der Vernichtungen der Jahre 1909, 1914-1915:

Den Inhalt unserer Veranstaltungen bilden jene Ereignisse, die im Armenischen als mets jererni – auf Deutsch das „große Verbrechen“ oder der „große Frevel“ – bezeichnet werden, im Griechischen als sphagi und xerisomos und im Aramäischen als sayfo oder gunhe. Sphagi bedeutet Massaker, xerisomos Entwurzelung, sayfo Schwert (der Vernichtung) und das damit gleichbedeutend verwendete gunhe bedeutet Schicksalsschläge. (Hofmann 2007:17).

Die Geschwister Hedwig und Ernst Jakob Christoffel fokussierten sich auf sehbehinderte Menschen. Ihr pädagogischer Zielgruppen-orientierter diakonischer Ansatz brachte sie zuerst nach Malatya, später Ernst Jakob Christoffel nach Tabriz und Isfahan, den jeweiligen politischen Entwicklungen auf regionaler und lokaler Ebene folgend (Thüne 2007; Schmidt-König 1969). Ziel der Anstalten war die ganzheitliche Ausbildung und gesellschaftliche Integration der Waisen vermittels Berufen, welche Selbständigkeit und Fortbildungsmöglichkeiten garantierten. Sowohl als Handwerker (z. B. Holz- und Textilbearbeitung), Lehrer mit besonderem Augenmerk auf Menschen mit körperlichen und mentalen Einschränkungen als auch medizinisch-therapeutische Berufe zählten zum Repertoire der Anstalten. Zwangsläufig stellte die gesellschaftliche Ablehnung bzw. Unfähigkeit sich mit diesem Personenkreis inkludierend zu beschäftigen, die Entwicklungshelfer vor die Aufgabe die gesellschaftliche Relevanz dieser Personen aufzuzeigen. Erst in der tätigen Diakonie wurde die gesamtgesellschaftliche Bedeutung der Inklusion im Hinblick auf die Integration deutlich. Die Diversität der Gesellschaft spiegelt sich erst in ihrer integrierenden Funktion. Christoffel hatte dies im Blick, blieb jedoch Kind seiner Zeit, dass er sich nicht nachhaltig mit den örtlichen Autoritäten kurzschloss, sondern von außen in die lokalen Strukturen eingriff und so seine Werke die politischen Umbildungen nicht überlebten.

6. Fazit – Christliche Diakonie im inter-religiösen Diskurs

Der anfänglich an die islamische Bevölkerung gerichtete Liebesdienst konzentrierte sich im Laufe der Enttäuschungen auf die traditionellen christ­lichen Kirchen im Orient:

Politisch-religiöse Regelungen engten den diakonischen Spielraum ein. Dazu gehörten das Konvertierungsverbot, die strenge Geschlechter- und ethnische Trennung aufgrund der millet-Regelungen. Letztere bot zwar den unterschiedlichen religiösen und ethnischen Gruppen offiziellen Schutz, wurde aber lokal nicht gewährleistet und marginalisierte diese zusätzlich zu ihrem dhimmi-Status (Bürger mit Sonderstatus).
Die ethnisch-religiöse soziale Diversität der Region forderte sprachliche und kulturelle Anpassung. Hierzu zählen Aramäer, Araber, Romanes, Armenier, Lazen, Kurmanji-Kurden, Zaza-stämmige Gruppen, Türken. Nomadentum, Yeziden, Mystiker (Mewlana), Aleviten und die unterschiedlichen islamischen Rechtsschulen und Ausrichtungen (Hanifi, Schafi, Hanbali, Sufi).
Die streng hierarchisch gegliederten Stammesstrukturen. Lokale Feudalherren treten als Agha (politische Kraft), Pir (politisch-religiöse Kraft), Scheich (politisch-religiöse Kraft), Mir (dt. Prinz, politische Kraft) auf. Diese lokalen Gewalten sind höchst sensibel und schnell zu mobilisieren, sodass Gewaltexzesse selten verhindert werden (z. B. Verleumdung, Raub, Entführung). Aktivitäten durch „Fremde“ werden kritisch beäugt. Die heutige Neustrukturierung nach ökonomischen Faktoren bewirkt ein Vakuum an gesamt­gesell­schaft­licher Kohäsion. Das »Wir« weicht einem »Ich«–Gefühl, welches gemeinsame Bestrebungen verhindert. Dies wird besonders am Volk der Zaza deutlich, die bis heute kein einheitliches Schriftsystem für muttersprachliche Publikationen entwickelten.
Die Topographie Ostanatoliens mit hohen Bergketten, tiefen Tälern und breiten Flüssen. Die schlechte Zugänglichkeit fordert enorme Mobilität und logistischen Aufwand. Hilfsmittel, Versorgung und soziale Kontakte sind nur schwer zu (er–)halten.
Bis auf die letzte Beobachtung, die aufgrund moderner Mobilität nur eine untergeordnete Rolle spielt, sind diese Beobachtungen bis heute zutreffend, wenn auch in veränderter Form. Das türkische Rechtswesen, die Auflösung der Stammesstrukturen sowie die zentrale Bildungspolitik leisten ihren Teil bei der Verschiebung der Grenzen der Kontaktzonen.

Die internationalen Regelungen zur Teilhabe, Integration und Inklusion von Menschen mit Behinderung wurden von den USA/ UK/ Deutschland/ Iran/ Türkei und Syrien im Jahre 2009 und vom Irak in 2013 ratifiziert.21https://treaties.un.org/Pages/ViewDetails.aspx?src=TREATY&mtdsg_no=IV-15&­chapter=4&clang=_en (Stand 2018-08-09). Keine der damals gestarteten Initiativen mit behinderten Menschen hat die politischen Umschwünge vor Ort überlebt. Nichtsdestotrotz besteht die Christoffel Blindenmission in den Nachfolgeorganisationen weiter.

Es kann abschließend gesagt werden, dass der erzwungene Fokus auf die Armenier und Waisen zur einseitigen Ausrichtung auf die traditionellen christlichen Kreise in Ostanatolien führte. Darüber hinaus war aber das Schicksal der seh-, körperlich- und mental eingeschränkten Menschen in diesem Kontext eine Vision, die nur die Christoffels teilten. Die anderen christlichen Hilfsorganisationen im Orient teilten diese Perspektive nicht. Hier setzen Disability Studies an, da diese Fokussierung so nicht absehbar war. Wie auch bei der Hildesheimer Blindenmission bleibt es weiteren Forschungen überlassen, welche Einflüsse diesen Fokus begünstigten.

Bibliographie

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Dr. Eberhard Werner, Institut für evangelikale Missiologie (IfeM), Gießen.

Institut für evangelikale Missiologie

Heegstrauchweg 68

35394 Gießen

 

 

[1] Gegründet im Jahre 1810 in Massachusetts als Folge des Second Awakening. Diese Institution ging ab 1957 auf in der United Church of Christ.

[2] Gegründet im Jahre 1804 in London durch William Wilberforce von den Clapham Heiligen oder Clapham Abspaltung (Spottname). Heute ansässig in Swinton/ UK.

[3] Die Hildesheimer Blindenmission hat diesen Fokus und muss im Zusammenhang zu Hudson Taylors (*1832–†1905) China Inland Mission (heute Überseeische Missions­gemein­schaft) gesehen werden. Ausführlich Ortmann, Bernhard 2017. Die Hildesheimer Blindenmission in Hongkong: Blinde und sehbehinderte Kinder in Werk und Wahrnehmung einer Frauenmission, ca. 1890-1997. Stuttgart: Franz Steiner.

[4] Uta Zeuge-Buberl nennt das Jahr 1819 als Beginn der Tätigkeit des ABCFM im östlichen Teil des Osmanischen Reiches. 80 christliche Arbeiter mit ihren Familien ließen sich auf längere Zeit dort nieder (2017:13-14). Damals öffneten sich die Osmanischen Autoritäten den Westmächten, wobei in erster Linie Frankreich unter Napoleon Bonaparte mit den Osmanischen Herrschern kooperierte, Deutschland trat als militärische Schutzmacht und Amerika als neue Nation insbesondere für Erfindungsgeist und Neuentwicklungen in Erscheinung.

[5] Karl Mays erfundene Reiseerzählungen spiegeln diese Zeit wider. Er verherrlicht entsprechend dieser Epoche den Orient im Durchs wilde Kurdistan [1881 endgültig 1892]. Interessanterweise bricht er unter der Last der Realitäten des Orients bei seinen späteren Reisen im Jahre 1899-1902 seelisch zusammen.

[6] Die Begriffe »Kurde«, »Kurdistan« oder »kurdisch« bezeichnen ein politisches, ethnisches und religiöses Konglomerat von Völkern und Sprachgruppen. Sie sammeln sich um das Taurus- und Zagros-Gebirge, den westiranischen Hochebenen, dem nordsyrischen Wüstengebiet und dem Nordirak. Eine Theorie besagt, dass die Bezeichnung vom Knirschgeräusch »kurr, kurr, kurr« beim Durchlaufen des Schnees stamme. Entscheidend ist, dass weder die Völkergemeinschaft noch die »Kurden« selbst bis heute ein Staatsgebilde ihr Eigen nennen oder ihnen, außer im Nordirak (Sorani-Gebiet), autonomes Herrschen möglich wäre.

[7] Die ideologische Rassenlehre hatte im 19. und 20. Jh. ihren Höhepunkt. Aufgrund des Nationalsozialismus und dem damit einhergehenden Missbrauch geriet sie ins wissenschaftliche Aus. Erst aufgrund der wissenschaftlichen Möglichkeiten der 1980er Jahre des letzten Jahrhunderts, insbesondere die DNA und die Gene zu analysieren, findet die genetisch-bedingte Rassen- und Abstammungslehre im wissenschaftlichen Raum, vor allem in der Kulturanthropologie und der Archäologie sowie der Forensik wieder neu Gehör (D’Andrade 1995:1-2 biological anthropology).

[8] Interessanterweise findet sich im öffentlichen Raum in der Türkei der englische Begriff »mission« dt. Mission wertneutral im Sinne von Auftrag/ Aufgabe. Website-Auftritte oder Beschreibungen türkischer Institutionen benutzen den Begriff zusammen mit engl. »vision«“ dt. Vision/ Zielsetzung. Im Gegensatz dazu benutzt und definiert die Wahlpropaganda türkischer Politiker den türk. Begriff »missionarlar«, dt. Missionare, auf ihren Werbeplakaten als staatsfeindliche Elemente (eigene Beobachtungen).

[9] Pratt, Marie Louise 1991. Arts of the Contact Zone. Profession. Modern Language Association of America 19, 33–40. New York: MLA.

[10] Zur positiven Auswirkung christlicher Dienste weltweit und historisch siehe Kieser (2000:24) in 7 Thesen oder auch Zeuge-Buberl (2017:16-17, 26).

[11] Eschatologische Gerichts- und Heilsdeutungen sind Teil abrahamitischer Religionen. Naherwartungen, Heilsversprechen und das Auftreten charismatischer Führer, die als Messias, Mahdi oder Prophet in Erscheinung treten, finden sich sowohl in der jüdischen, der christlichen als auch der islamischen Geschichtsschreibung. Jüngst war es ISIS/ Daesh, die solche religiösen Heilsversprechen politisch zu ihrem Vorteil nutzten. Nicht immer müssen diese Bewegungen blutig oder militärisch ablaufen, sie sind jedoch immer exklusiv in ihrem Auftreten (z. B. Zeugen Jehovah, Jesuiten, Chassiden, Mewlana, Ahle Haqq).

[12] Diese Region wurde im Übergang vom Osmanischen Reich zur türkischen Republik 1919–1920 von dem kurdischen Separatisten Simko Schikak geführt und in den Nachwirkungen des Zweiten Weltkrieges für wenige Monate des Jahres 1946 als kurdische Republik Mahabad ausgerufen.

[13] Festgehalten im Vertrag von Sèvres festgehalten am 10. August 1920.

[14] Türk. Kızılbaş heißt »Rotkopf« und soll von der roten alevitischen Kopfbedeckung stammen.

[15] Die neueste Parallele findet sich in der territorialen Gründung des inzwischen besiegten Islamischen Staates Irak und Syrien (ISIS) durch die gleichnamige Organisation, auch als DAESH bekannt. Deren Territorialansprüche im Grenzgebiet des Nordirak zu Ostsyrien umfassen ebenfalls Siedlungsgebiete der Kurmanji und Sorani sprechenden Kurden.

[16] Im Jahre 1961 kam noch die deutsche Anwerbung türkischer »Gast-Arbeiter« aus Ostanatolien hinzu.

[17] Das Homogenous Unit Principle (HUP) wurde von McGavran damit begründet, dass homogene Gruppen nach Sprache, Kultur, Traditionen, Brauchtum und Sitte am besten mit einem kontextualisierten Evangelium zu erreichen seien. Vor allem David Bosch witterte hier einen verborgenen Rassismus und lehnte das Prinzip vehement ab (Frost & Hirsch 2004:51-52). Heutzutage zeigt sich aber gerade, dass der Traum heterogener Gesellschafts-durchdringender Gemeinden oder Kirchen ein Wunschtraum ist. Bis auf sogenannte »sozialen Unschärfen«, das sind 2–4% der Gemeindemitglieder, die aus Neugier, enger Personenbindung oder auch Abenteuerlust die eigene soziale Gruppe für bestimmte Anlässe verlassen, spiegeln die jeweiligen Denominationen ihre Peer Group wieder. Sei es die Mittelschicht etablierter Gemeinden (Brüdergemeinden, Mennoniten, Baptisten, Gnadauer Verband etc.) die junge Generation in speziellen Zielgruppen­gemeinden (ICF, Jesus Freaks) oder auch die Landeskirchen nach ihren verschiedenen Organisationen (CVJM, Pfadfinder).

[18] Es ist davon auszugehen, dass im Durchschnitt 5–10% der Bevölkerung mit Behinderungen leben. Hierzu hat die UNESCO über Jahre Statistiken veröffentlicht.

[19] Gegründet 1844 in London, ab 1872 vereinigt mit der Society of Biblical Archaeology aus dem Jahre 1870, die im Jahr 1919 ihre Arbeit einstellte.

[20] Dr. Lepsius war an der Gründung des Hilfsbundes und der Deutschen Orient-Mission im Jahre 1896 beteiligt. Im Jahre 1917 stieg Dr. Lepsius aufgrund des Schweigens und der Haltung der DOM zum Armeniergenozid aus und gründete die Dr. Lepsius Deutsche Orientmission (LDOM).

[21] https://treaties.un.org/Pages/ViewDetails.aspx?src=TREATY&mtdsg_no=IV-15&­chapter=4&clang=_en (Stand 2018-08-09).

Disability Studies und Interkulturelle Theologie

Eberhard Werner: werner(at)forschungsinstitut(dot)net

Abstrakt

Bis heute ist in der Interkulturellen Theologie wenig unter dem Aspekt der Disability Studies geforscht worden. Insbesondere gilt dies für die Forschung an Akteuren, die selbst eine körperliche oder mentale Einschränkung hatten, oder Forschungen, die sich auf den Personenkreis mit solchen Herausforderungen konzentrieren. Zu ersterem liegen einige Biographien vor, die aber nicht explizit auf die Behinderungserfahrung eingehen. Zum letzterem können die Gründer der kirchlichen Entwicklungsdienste Luise A. Cooper für die Hildesheimer Blindenmission (HBM) und Ernst Jakob und Hedwig Christoffel für die Blindenmission im Orient, heute Christoffel Blindenmission (CBM), gezählt werden. In diesem Artikel wird auf die Geschichte, die Motivation und die Diskurse rund um Disability Studies eingegangen, die sich aus diesen Handlungsfeldern ergeben. Der interdisziplinäre Ansatz der Interkulturellen Theologie bestimmt dabei die anzulegenden Parameter, um die Grenzen zu den sozialen Wissenschaften abzugrenzen.

Disability Studies – eine Übersicht

Disability Studies setzen sich zusammen aus einer Vielzahl von einzelnen Disziplinen. Disability History, beschäftigen sich mit historischen Zusammenhängen rund um Menschen mit körperlicher oder mentaler Einschränkung (z. B. Nielsen 2013). Disability Worlds beschäftigt sich mit Lebenswelten und sozialen Bezügen und Räumen der Begegnung von Menschen mit und ohne körperlicher oder mentaler Einschränkung (z. B. Whyte & Ingstad 1995). Disability Anthropology stellt ethnographisch-biographische Lebenswelten von physisch und mental herausgeforderten Menschen dar (z. B. Gelya Frank 2000). Disability and Gender beschreibt die Machtbewegungen und die Einflüsse auf Menschen mit körperlicher oder mentaler Einschränkung im Hinblick auf die Geschlechterfrage. Die besondere Benachteiligung von behinderten Frauen ist hierbei im Blick (z. B. Jacob, Köbsell & Wollrad 2010; Boll, Ewinkel & et. al. 1985). Disability Theology beschreibt die exegetischen und hermeneutischen Defizite im Hinblick auf Menschen mit körperlicher oder mentaler Einschränkung in der Theologie (z. B. Young 2011). Disability Missiology ist eine gegenwärtig sich entwickelnde Disziplin. Sie hinterfragt im Rahmen historischer Beschreibungen wie Inklusion, Exklusion oder Diskriminierung von Menschen mit körperlicher oder mentaler Einschränkung verstanden wurde. Im Rahmen der postkolonialen Studies werden diese Zusammenhänge in der Interkulturellen Theologie erfasst. Gleichzeitig wird der Ertrag dieser Forschung der Christlichen Entwicklungshilfe in fremden Kontexten von selbst eingeschränkten Menschen oder im Hinblick auf eine solche Zielgruppe zugänglich gemacht.

Da die Lebenswelten von Menschen mit und ohne körperlicher oder mentaler Einschränkung sich aufgrund sozialer, politischer und ökologischer Veränderungen in ständiger Bewegung befinden kann diese Auflistung nicht abschließend sein.

Normalität und Anderssein – Normalismusforschung

Disability Studies (DS) verhandeln ästhetische und soziale Diskurse, die sich zwischen den Kategorien „Normalität“ und „Anomalität, Abweichung“ bewegen (Schildmann 2009:204-205). Die Festlegung dieser sozialen Parameter ist kultur- und umweltabhängig. Während im europäischen Raum eine Sehbehinderung im sozialen Bereich weniger sanktioniert wird wie z. B. eine ästhetische Abweichung ist im asiatischen Raum die Mobilitätseinschränkung sozial stärker sanktioniert als eine ästhetische Abweichung (zur generellen Einteilung siehe Cloerkes 2007:124-125). Damit werden die Bezugsgrößen „Normalität“ und „Abweichung“ festgelegt und sie werden mittels der soziologischen Kategorien Diskriminierung, Exklusion und Ablehnung eingerahmt. Der Machtfluss im Falle sozialer Reaktionen ist immer gegen den vermeintlich Schwächeren gerichtet, kann jedoch unterschiedlich ausfallen, da sich die Definition von „Normalität“ und „Anomalität“ im Fluss befindet. Inklusion, wie sie gegenwärtig diskutiert wird, will die Begrifflichkeiten insofern erweitern, indem sie die Standardvorstellungen „Norm“ und „Normalität“ zugunsten von Menschen mit körperlichen oder mentalen Einschränkungen ausweitet. Mithilfe von Barrierefreiheit bei Gebäuden und dem Internet wird eine Teilhabe und Präsenz von Menschen erreicht, die bisher exkludiert waren und so nicht die Chance hatten ihren Teil am sozialen Leben einer Gesellschaft beizutragen.

Erweiterte „Normalität“

Im Rahmen der öffentlichen Wahrnehmung und dem aktiven Austausch mit den Lebenswelten von Menschen mit körperlichen oder mentalen Einschränkungen wird die „Normalität“ bzw. „Norm“ der Lebenserfahrung erweitert. Gleichzeitig findet eine Begegnungsfläche der Lebenswelten von Menschen mit und ohne körperlichen oder mentalen Einschränkungen statt, die Berührungsängste abbaut und Vorurteile abbaut. Jedoch darf man nicht vergessen zu sagen, dass ideologische Ängste, wie Rassismus, Nationalismus oder Ableismus (Hass auf behinderte Menschen) auch unbewusst geschürt werden. Auslöser solcher Ängste sind vor allem Migranten, die von staatlicher Hilfe lebenden, arbeitslosen Alleinerziehenden oder auch die sexuell gleichgeschlechtlich ausgerichteten Menschen mit körperlichen oder mentalen Einschränkungen. Diese Personenkreise stellen die gesellschaftliche Diversität dar und rühren diejenigen an, die in ihrer ideologischen Ausrichtung eine Gesellschaft anvisieren, die keinen Pluralismus zulässt.

Transkulturelle-transnationale Aspekte Disability Studies

Ein Blick in die transkulturelle Wahrnehmung von Behinderung und Behinderten lässt die Frage nach Universalien aufkommen. Hierbei muss konstatiert werden, dass Behinderung ein universales Phänomen ist und überall und zu aller Zeit sozial sanktioniert oder stigmatisiert wurde und wird.

Universalien der transkulturellen Begegnung „Disability“

Neben den äußeren physischen Sanktionen, wie sie sich in baulichen Hindernissen oder Mangel an Hilfsmitteln ausdrückt, tritt die innere soziale Sanktion, die von Ignoranz, Ableismus bis hin zur Euthanasie reicht. Geschichtlich werden hier Plato (de polis) und Aristoteles mit ihrem Ansatz der Tötung Neugeborener mit körperlichen oder mentalen Schäden heran gezogen. Diesen wurde eine „Seele“, im Sinne der nicht-sterblichen Wesenhaftigkeit des Menschen abgesprochen, sie galten als leblos oder lebensunwert. Im späteren Sozialdarwinismus wird dies wieder aufgegriffen, jedoch utilitaristisch, dem Gedanken der Nützlichkeit, sowohl für das Individuum selbst wie auch für das Kollektiv – die Gesellschaft – eingebracht. Ein Sozialwesen, so die Schlussfolgerung Platos, das nicht durchgängig funktionsfähig sei muss sich seiner „nutzlosen“ Partizipierten entledigen, oder solche präventiv in der Selektion (Abtreibung, Kindestötung) ausschließen. In Brave New World (1932; Aldous Huxley) wird diese Utopie schriftstellerisch festgehalten. Bioethiker Peter Singer bringt es am Ende des 20 Jh. auf den Punkt, wenn er die Abtreibung, frühgeburtliche Diagnostik und die Vorauswahl menschlicher Eigenschaften als eine notwendige, verantwortliche Gestaltung der Gesellschaftsplanung fordert. Damit werden seiner Meinung nach die zukünftigen Generationen vor unnötigen Kosten geschützt und Gesellschaften gebildet, die sich an ihren Bedarfen ausrichten können. Neben diesem utilitaristischen Ansatz hat sich eine inklusive Bewegung gebildet, die sich für die Eingliederung und Teilhabe von Menschen mit körperlichen oder mentalen Einschränkungen bemüht. Es ist tragischer Weise ersichtlich, dass die körperlichen und mentalen Schäden, die sich aufgrund von Kriegstraumata (1. und 2. Weltkrieg) ergaben, die Notwendigkeit der Rehabilitation und damit die der (Re-) Integration mit sich brachten. Gleichzeitig limitierten diese Vorgaben den Umgang mit Menschen mit körperlichen oder mentalen Einschränkungen auf die Wiederherstellung verloren gegangener Fähigkeiten. Das „Normale“ bildete den Maßstab und ließ den Betroffenen nur den Wieder-Zugang in die Lebenswelt der „Normalen“. Die Stigmatisierung als „Andere“ war Grundlage jedweden Denkens und Handelns über Menschen mit körperlichen oder mentalen Einschränkungen. Die Formation eigener Lebenswelten, Lebensformen und Schnittstellen zu anderen Lebenswelten werden bei diesem Ansatz nicht bedacht, gefördert noch gewünscht. Die treibende Kraft bildet das Gesundheitswesen, welches in unmittelbarer Zusammenarbeit mit der Arbeitswelt die Teilhabe am Gemeinwesen auf die Arbeitsfähigkeit und Rehabilitation, Vorbereitung und Hinführung zurück in die selbige reduziert. Übrigbleibende gesellschaftliche Nischen wie Kunst, Geisteswissenschaften oder kreative Lebensformen sind nur wenigen Menschen mit körperlichen oder mentalen Einschränkungen vorbehalten und selten finanziell attraktiv.

Soziale Aspekte – Berufliche Inklusion

Soziale Sanktionen müssen vom Gemeinwesen bewusst und gezielt überwunden werden. Der politische Kampf gegen Ableismus (Behindertenfeindlichkeit) ist ein aufwändiges und andauerndes Drängen nach Inklusion und Verschiebung der Wahrnehmung von „Normalität“ in Richtung Einbezug von Menschen mit körperlichen und mentalen Herausforderungen. Die Grenzen sind da erreicht, wo das Gemeinwesen öffentliche Sicherheit und Dienstleistung garantieren muss. So blieben und bleiben bestimmte sicherheitsrelevante Berufe (z. B Polizeidienstfähigkeit, Feuerwehreinsatzbereitschaft, Notfalldienste) Menschen mit bestimmten körperlichen und mentalen Einschränkungen verschlossen, solange sie ihre Einschränkung nicht ausgleichen können. Erst eine nachträgliche Behinderung erlaubt die Teilnahme z. B. am Innendienst solcher Einrichtungen. Die körperliche Leistungsfähigkeit spielt hier eine wichtige Rolle. Da diese Berufe jedoch eine außergewöhnliche Leistungsfähigkeit voraussetzen, was schon die Qualifikationen bei der Einstellung belegen (z. B. sportliche und geistige Fähigkeiten), stellen sie nicht die soziale „Norm“ der Berufswelt dar.

Interkulturelle Diakonie – Pädagogik als Inklusion

In der Begegnung mit fremden oder anderen Kulturen, ist die Stellung des Akteurs von nicht geringer Bedeutung. Im kolonialen Zeitalter war der westliche christliche Akteur, der Initiator und finanziell steuernde Anlaufpunkt für die Abläufe in der interkulturellen Begegnung. Aufgrund militärisch gestützter finanzieller Überlegenheit konnten die Einheimischen oder lokalen Akteure gesteuert werden. Am Beispiel von Ernst Jakob und Hedwig Christoffel wird dies deutlich, da sie sich in Ost-Anatolien, zuerst 1904-1907 in Sivas und ab 1908 in Malatya, um Menschen mit visuellen Einschränkungen bemühten (Thüne 2007:31, 66). Obwohl sie im Grunde mittellos waren, begannen sie im Gebet und der öffentlichen Präsentation ihre Idee eines Waisenhauses für sehbehinderte Mädchen in Ostanatolien zu proklamieren. Dabei konnten sie auf ihre dreijährige pädagogische Erfahrung an Waisenhausarbeit in diesem Gebiet bauen. Da sich mehrere christliche Entwicklungshilfeorganisationen auf diese Art der Diakonie fokussiert hatten, war die Kombination von Pädagogik und Pflege dem Grunde nach nichts Neues, jedoch kam der Fokus auf Menschen mit visuellen Einschränkungen bei den Christoffels hinzu.

Geschichtlicher Rückblick – Christliche Entwicklungshilfe im Orient

Es ist an dieser Stelle die Arbeit des ABCFM (American Board of Christian Foreign Mission), der BFBS (British and Foreign Bible Society), der Deutschen Orient Mission (Johannes Lepsius, *1858–†1926; DOM ab 1916 LDOM), und dem Deutschen Hülfsbund für christliches Liebeswerk im Orient (Ernst Lohmann, *1860­–†1936) zu nennen wie sie von Baumann vorgestellt werden (2007). Ihnen geht das Syrische Waisenhaus (Fam. Schneller) in Jerusalem mit seinen Ablegern aus den sechziger Jahren des 19. Jh. voraus. Auffallend ist in all diesen Ansätzen die Ausrichtung auf Kinder, die sich in einer Notsituation (Verlust der Eltern oder der Kernfamilie) befanden. Dies ist ein zutiefst politischer Auftrag des Staates (hier das Osmanische Reich). Von westlicher Seite sah man hier nur den Mangel an staatlichem Eingreifen, jedoch ist anzunehmen, dass die christliche Motivation auf eine Hinwendung zum Glaubensmodell der Entwicklungshelfer zielte. An diesem Punkt treten postkolonialistische Gesichtspunkte in den Vordergrund, da die militärischen Interventionen des Deutschen Reiches geeignet waren neben finanziellen auch Personalkräfte im Osmanischen Reich zu platzieren. Eine ähnliche Erfahrung hatte die anglophone, amerikanische und britische kirchliche Entwicklungshilfe seit Beginn des 19. Jh. mit dem Osmanischen Reich gemacht. Die oben genannten Institutionen und Organisationen hatten sich auf das gesamte Osmanische Reich konzentriert und trafen im Verlauf ihrer Aktivitäten auf die großen Volksgruppen des Balkan und Ostanatoliens. Aus dieser Zeit stammen ethnographische Studien der großen „kurdischen“ Volksgruppen. Heute werden diese in Kurmanji (Nord-Kurdisch), Sorani (Zentral- oder Süd-Kurdisch), Behdeni, und die Kermānshāh-Dialekte eingeteilt. Das Gebiet erstreckt sich von der Ost-Türkei, West-Iran bis zum Nord-Irak. Christoffels haben die Volksgruppen Ostanatoliens wahrgenommen, wie z. B. die Armenier, die Aramäer, die Zaza und die Kurmanji Sprecher, konnten sich aber aufgrund ihrer Spezialisierung auf visuell eingeschränkte Waisen nur auf Türkisch und Armenisch konzentrieren. Die entwickelten Gebärdensprachen haben zum Durchbruch bei der Wahrnehmung und der Inklusion dieser Personengruppe erheblich beigetragen. Trotz vieler Rückschläge durch die beiden Weltkriege hat sich z. B. in Iran eine Fürsorge an diesen Menschen entwickelt, die eine Partizipation auf verschiedensten gesellschaftlichen Ebenen zulässt, wie z. B. der Film Die Farben des Paradieses (1999) von Majiid Majiidi zeigt. Auch in der heutigen Türkei hat sich ein Fürsorge-Apparat entwickelt, wie die Sendung Seeing Isn’t Everything: Living Blind in Turkey bei AlJazeera World  [https://www.aljazeera.com/programmes/aljazeeraworld/2015/10/turkey-blind… von Eylem Kaftan zeigt. Es werden vier Lebenswelten von Menschen mit visuellen Einschränkungen aus Istanbul gezeigt. Doch darf das nicht darüber hinweg täuschen, dass die gesellschaftlichen Möglichkeiten noch lange nicht kreativ ausgenutzt sind, um Menschen mit körperlichen oder mentalen Einschränkungen als vollwertiges Gegenüber wahr zu nehmen oder gar Inklusions-orientiert zu denken.

Inklusion – Diversität und Einheit in Vielfalt

An diesem Punkt ist es hilfreich sich ein paar Gedanken zum Inhalt der Inklusion zu machen. Inklusion, nach der heutigen Wahrnehmung ersetzt oder nimmt die Gedanken der Teilhabe und Integration in sich auf. Der Paradigmenwechsel besteht darin, dass die Gesellschaft Menschen nicht sozusagen „zu sich zieht“ oder „aufnimmt“, sondern darin, dass die Gesellschaft alle räumlichen, sozialen oder ideologischen Barrieren ausräumt um allen Mitgliedern alle Optionen zu ermöglichen. Es ist also kein exklusiv-zentralistischer Ansatz sondern ein inklusiv-petaler der sich für die sowieso bestehende Gesellschaftsstruktur öffnet. In missiologischer Hinsicht ist hier ein theologisch-petaler Ansatz zu wählen, der die Diversität und Vielfalt der Kirchenmitglieder als Basis nimmt, um die kreativen physikalischen und ideologischen Möglichkeiten des Reiches Gottes auf dieser Erde umzusetzen. Das Motto dieser Inklusions-Vision ist „Einheit in Vielfalt“. Dabei ist auf globaler Ebene die kreative Seite Gottes hervor zu heben, der Menschen mit körperlichen und mentalen Herausforderungen aller Art ebenso schuf wie Fotomodels oder Sportler. Die sexuelle Ausrichtung, das Geschlecht oder auch die Rasse, die geographische Heimat und die physische Erscheinungsform sind der Vielfalt der Schöpfung geschuldet. In diesem Hinblick sind auch Selbst- oder Fremdverstümmelung, Veränderungen durch äußere Faktoren wie Umweltgifte, Geburtseinschränkungen oder Gen-Defekte zu werten. Insbesondere, da ein direktes Eingreifen durch die Transzendenz in die Schöpfungsabläufe die absolute Ausnahme darstellt. Aber auch da eine Neuausrichtung der Schöpfung in Richtung Aufhebung der thermodynamischen Grundsätze auf biblischer Grundlage nicht vorgesehen ist, sondern hier auf eine neue Schöpfungsordnung verwiesen wird (Mt 24-25 und Offb 21-22). Inklusion in diesem Sinne bringt die Vielfalt – die Diversität – der Schöpfung und damit der potentiellen Kirchenmitglieder zum Tragen. Newbigin brachte das für Menschen mit körperlichen und mentalen Herausforderungen im Hinblick auf die Kirche auf den Punkt in dem er schloss: Ohne die Behinderten ist die Kirche nicht vollständig (1979).

Inklusive Hermeneutik – Schwachheit, Einheit, Stärke

Eine inklusive Hermeneutik der Disability Missiologie sollte nicht dem paternalistischen Denken verfallen. Die bis jetzt gelieferten hermeneutischen Ansätze der Disability Theologie von

  • Newbigin (1979), Kirche lebt mit behinderten Menschen (Partizipationsansatz),
  • Eiesland (1994), die Inkarnation des Jesus von Nazareth beschreibt die Kondeszenz der Schwachheit im Bild des Menschen mit körperlichen oder mentalen Herausforderungen, Gott behindert sich in der Inkarnation und wird dadurch zum behinderten Gott (Partizipationsansatz).
  • Bach (2006), betont die Verantwortung der Kirche sich aller Gesellschaftsschichten anzunehmen und sich nicht paternalistisch auf Menschen mit körperlichen und mentalen Herausforderungen zu stürzen sondern offen für Lebensbegegnungen zu sein, die auch Abweichungen von physischen oder ästhetischen Vorstellungen beinhalten (Solidaransatz).
  • Reynolds (2008), eine Hermeneutik der Schöpfung, die die Ebenbildlichkeit aller Menschen spiegelt und die Diversität sozialer Lebensformen hervorhebt (Solidar- und Partizipationsansatz),
  • Creamer (2009), eine Theologie der Liminalität im Schulterschluss der Solidarität, unter Beibehaltung der Eigenarten von Behinderungen und Menschen mit körperlichen und mentalen Herausforderungen (Solidar- und Partizipationsansatz),
  • Yong (2011), eine Hermeneutik der Geistleitung, welche die Vielfalt und die kreativen Möglichkeiten der Kirche anzeigt,
    mangeln einer transkulturellen Perspektive.
  • In Disability Missiologie hat Conner (2018) zuletzt einen Entwurf vorgelegt, der diese Lücke schließt. Nichtsdestotrotz bleibt in allen Ansätzen der Versuch, die göttliche Omnipotenz auf die Schwachheit am Kreuz oder in der Inkarnation des Messias Jesus von Nazareth zu reduzieren. Schwachheit versteht sich dabei als Stärke und Umkehrung säkularer Werte und Vorstellungen. Der Verdacht bleibt aber, dass „Behinderung“ und Menschen mit körperlichen oder mentalen Einschränkungen auf ihre „Schwäche“ reduziert werden. Es bleibt auch der Verdacht, dass hier vorgefertigte soziale Schablonen im Rahmen der oben erwähnten medizinischen, sozialen und kulturellen Modellvorstellungen, auch von Forschern, die selbst eine Einschränkung haben oder Eltern von Kindern mit einer Einschränkung sind, übernommen werden. Das Dilemma dabei ist, dass diese Ansätze am Nicht-Behinderten ansetzen und ein anthropozentrisches Gottesbild entwerfen.

Inklusive Hermeneutik – Lebensform Gottesbeziehung

Ein Vorschlag zur Überbrückung der Kluft zwischen den Lebenswelten von Menschen mit und ohne körperlichen und mentalen Herausforderungen, bei gleichzeitiger Einbehaltung der spezifischen Eigenarten und den Bedürfnissen in diesen Lebenswelten bedarf der Intervention derjenigen, die den Boden dafür schaffen können, dass eine gegenseitige Begegnung stattfindet. Da sind zum einen die baulichen Fragen und die Gestaltung des Gemeindelebens, so dass daran möglichst viele unterschiedliche Lebensformen teilnehmen können. Hierzu gehören auch sexuelle oder geschlechterspezifische Diversität, da dies ja auch Teil der Lebensformen von Menschen mit körperlichen und mentalen Herausforderungen ist. Im Mittelpunkt einer inklusiven Hermeneutik stehen

  • die kritische Auseinandersetzung mit den biblisch-inhärenten diskriminierenden Vorstellungen über Menschen mit körperlichen und mentalen Herausforderungen,
  • den ästhetischen Idealvorstellungen körperlicher Perfektion (z. B. Glück, Schönheit, Lebenserfüllung) und
    die Heils- und Heilungserwartungen aufgrund messianischer Erwartungen.
  • Die kreatürliche Vorstellung über „Behinderung“ als schöpfungsbedingter und vom Schöpfer gewollter Raum der Beziehung ist grundlegend für solche Betrachtungen. Hierbei sind exegetische und hermeneutische Aspekte gegeneinander abzuwägen und im Hinblick auf eine ganzheitliche Perspektive über „Behinderung“ auszuarbeiten.

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